So schön und traurig zugleich
Bevor ich falleBekannt wurde die deutsche Autorin Lilly Lindner durch “Splitterfasternackt”, einem autobiographischen Roman. Nun hat sie ein neues, diesmal fiktives Buch geschrieben: “Bevor ich falle” über Suizid, das ...
Bekannt wurde die deutsche Autorin Lilly Lindner durch “Splitterfasternackt”, einem autobiographischen Roman. Nun hat sie ein neues, diesmal fiktives Buch geschrieben: “Bevor ich falle” über Suizid, das Erwachsenwerden, Schuld und Selbstverletzung. Ein heftiger, aber sprachlich herausragender Titel. Für Erwachsene und Jugendliche ab 16.
Cherry war neun Jahre alt, als ihre Mutter sich das Leben nahm. Sie sagte ihr “Gute Nacht”, mehrmals sogar (doch Cherry tat so, als höre sie nicht) und verließ dann das Zimmer und sprang direkt aus dem Fenster. Im elften Stock. Ein Verlust, der unersetzbar ist. Niemand mehr, der sie liebte, der nette Worte zu ihr sagte, der überhaupt viel mit ihr redete. Der Vater schien Cherry zu hassen, er brüllte sie immerzu nur an und überließ sie meist sich selbst. Doch wie sollte sie mit den großen Schuldgefühlen umgehen? Hätte sie den schrecklichen Tod ihrer Mutter verhindern können? Irgendwann beginnt Cherry sich selbst zu verletzen und endet in einem Teufelskreis, aus dem sie sich selbst kaum mehr befreien kann…
Lilly Lindner Bevor ich falleDie Autorin spielt auf brillante Weise mit den Worten, stellt Inhalte und Wahrheiten auf klare Weise zur Schau, sie verschönert nicht, sie lässt nichts aus. Sie lässt die Hauptfigur leiden und kaum mehr Freude am Leben empfinden: Cherry hungert, ritzt sich und wendet sich von den Menschen ab, die ihr helfen möchten, allen voran von ihrem Schwimmlehrer, der sie bei sich aufnimmt, als sie von zu Hause rausgeschmissen wird beziehungsweise abhaut. Teilweise gibt es Rückblenden in Cherrys Kindheit. Als die Mutter noch da war. Als Cherry bereits begann sich in einen lebensverachtenden Menschen zu verwandeln. Als ihr Kreativität und Wörter hassender Vater all ihre Buntstifte entfernte und ihr das Lesen verbot (er selbst arbeitete in einem Verlag und konnte alle Schriftsteller, Agenten und sonstige Mitarbeiter nicht ausstehen!). Themen werden in dem Buch eine Menge verarbeitet (sicherlich auch durch eigene Erfahrungen der Autorin, siehe “Splitterfasernackt”): Todessehnsucht, Suizid, Magersucht, Selbstverletzung, Beziehungsunfähigkeit, Suche nach Geborgenheit, Zerstörungswut. Aber auch die Themen Literatur, Sprache und die herausragende Wortgewandtheit der Hauptfigur (und die der Autorin) spielen eine große Rolle. Der Roman ist ein sprachliches Kunstwerk, das verstört, zum Nachdenken anregt und die Gefühlswelt der Protagonistin perfekt widergibt. Das Cover ist exzellent gewählt und bezieht sich treffsicher auf den Inhalt. Das Ende des Romans versöhnt, macht Hoffnung und lässt die Hauptfigur mit geradezu philosophischen Einsichten begreifen, dass das Leben trotz allem doch lebenswert ist und man die Verantwortung für sein Denken und Handeln immer selbst trägt.