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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.11.2016

Einfach gestrickt

Seelenlos
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Lucy ist auf einem Friedhof aufgewachsen. Als wäre das nicht schon Grund genug, etwas seltsam zu sein, sieht Lucy die Verstorbenen Seelen. Eine sitzt jede Nacht an ihrem Bett. Lucy ist sich sicher, dass ...

Lucy ist auf einem Friedhof aufgewachsen. Als wäre das nicht schon Grund genug, etwas seltsam zu sein, sieht Lucy die Verstorbenen Seelen. Eine sitzt jede Nacht an ihrem Bett. Lucy ist sich sicher, dass ihre Mutter diesen Geist darum gebeten hat, auf sie Acht zu geben, denn Lucys Mutter ist eines Tages spurlos verschwunden. Als merkwürdige Vorfälle die Aufmerksamkeit auf den Friedhof ziehen und ein böser Geist hinter Lucy her ist, muss sie sich ihrer Gabe stellen. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin gilt es, die Welt zu retten.
Das Umfeld ist mit Friedhof und allerlei gruseligen Begebenheiten auf jeden Fall gut gewählt. Dass der Roman ausgerechnet damit beginnt, das Lucy statt Touristen zu erschrecken, eine gespielte Geistertour humoristisch ausklingen lässt, verrät dann schon viel über ihren Charakter. Das ganze Gruselzeug nervt sie ziemlich. Trotzdem steht sie felsenfest zu ihrem Vater, dem Friedhofswärter und ihrer besten Freundin, die vom Übernatürlichen nicht genug bekommt. Sie ist treu und einfach gestrickt. Leider fehlt ihr dadurch – wie dem ganzen Buch – der hauch Tiefe, den ich gerne gehabt hätte. Und wo die Protagonistin schon flach gehalten wird, können auch die Nebenfiguren nicht glänzen.
Seelenlos ist anders als andere fantastische Geschichten keine Adoleszenzgeschichte. Lucy wird nicht etwa erwachsen, vielmehr geht es um das Akzeptieren ihrer Gabe. Lucy hat bisher immer nur weggeschaut, die Geister zwar gesehen, aber keine Interaktion versucht. Nun aber wird sie zum Bindeglied, was auf mehreren Ebenen gut funktioniert. Dabei handelt sie intuitiv, aber stet richtig. Die Handlung gewinnt dadurch eine gewisse Geradlinigkeit, die gerade jüngere Leser erfreuen dürfte. Mir ging es etwas zu „einfach“.
Gestolpert bin ich dagegen über kleinere Ungereimtheiten. An einer Stelle meint Luc als Erzählerin beispielsweise, ihre Mutter hätte ihr von ihrer Gabe erzählt, an anderer aber steht, dass dafür nie Zeit war. Ein leicht paradoxes Gefüge, das die Ablehnung Lucys gegenüber ihrer Gabe verstärkt, mich aber gestört hat. Die Geschichte wird als eine Art Aufzeichnung von Lucy dargestellt, was eine einseitige Sicht ermöglicht, die von Zwischenkommentaren der besten Freundin durchbrochen wird. Eine interessante Art, verschiedene Erzähler einzuführen (Lucy bleibt aber Haupterzählerin und Protagonistin).
Die Handlung selbst entwickelt sich geradezu klassisch in Richtung Jugend-Horror. Spannung bringt vor allem ein Anfangskommentar Lucys und die Frage, wer dem bösen Geist tatsächlich hilft. Der Zielgruppe mag geschuldet sein, dass das Ende überzeichnet ist und überraschende Hilfe hereilt, die eine Illusion von Ankommen ermöglichen. Etwas viel Eierkuchenfreude aus meiner Perspektive.
Für junge Leser, ab 12, kann Seelenlos ein wunder geeignetes Buch sein, um sich mit Spaß zu gruseln, ohne dass es zu viel Horror gibt. Ich hätte mir tiefer Charaktere und eine weniger geradlinige Handlung gewünscht, um länger bei Laune gehalten zu werden.

Veröffentlicht am 21.11.2016

vielschichtig, durchdacht, klug

Emilienne oder die Suche nach der perfekten Frau
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Emilienne ist Fotografin und wäre gerne Künstlerin. Die geschiedene Mutter ist Künstlertochter und bewundert ihre Nachbarin Julie dafür, die perfekte Frau zu sein. Bis Julie einen Nervenzusammenbruch nach ...

Emilienne ist Fotografin und wäre gerne Künstlerin. Die geschiedene Mutter ist Künstlertochter und bewundert ihre Nachbarin Julie dafür, die perfekte Frau zu sein. Bis Julie einen Nervenzusammenbruch nach der Geburt ihres Sohnes erleidet. Um sich keifend, dass die Welt an Frauen nur unerfüllbare Anforderungen stellt, bringt sie Julie auf die Idee, eine Fotoserie zu der perfekten Frau zu machen und verschiedene Frauen dazu zu fotografieren und zu interviewen. Leichter gesagt als getan, stellt sich bereits Emiliennes erste Station als pädophile Pastorenwitwe heraus. Doch dann trifft Emilienne eine Frau, in die sie sich Hals über Kopf verliebt. Die perfekte Frau, die am nächsten Tag aus ihrem Leben verschwindet. Und Emilienne beginnt zu suchen.
Ich gestehe, ich hätte Fassaden erwartet, hinter denen es kriselt und knarzt. Doch hier tun sich Abgründe auf. Prostitution, Verführung Minderjähriger, Abhängigkeiten und immer wieder die absolute Aufopferung der Frau, bis sie sich selbst keinen anderen Lebensinhalt mehr zugesteht. Es geht um den Verfall von äußerer Schönheit und das Wachsen von Begierde. Neben kulturellen und gesellschaftlichen Ressentiments werden so alltägliche Frauenbilder wie beispielsweise in der Werbung angesprochen. Das passiert so nebenbei, dass es zum Geschehen passt und die Handlung vorantreibt, aber auch zum Nachdenken anregt.
Die eigentliche Handlung ist dann eher die Suche nach Georgia als die Suche nach dem Bild der perfekten Frau. Auch das ist gut gemacht, zeigt es doch, dass Perfektion im Auge des Betrachters entsteht. Für mich waren nämlich auch die Zuschreibungen, die Emilienne als Erzählerin an Georgia vergibt, keineswegs so perfekt, dennoch wird es für Emilienne geradezu zur Obsession, „ihre“ perfekte Frau noch einmal wieder zu sehen. Der auf der einen Seite durch Emotionen verklärte Blick auf die Frau wird also auf anderer Seite wieder dekonstruiert und das finde ich sehr gut. Wie tief das reicht und dass es nicht etwa „von selbst“ passiert zeigt eine Stelle gut. Emilienne hat mit einer ehemaligen Prostituierten, die nun erfolgreich Luxusdessous kreiert, ein Interview für einen Fernsehsender geführt und dabei über ihre kulturelle Prägung (sie ist Muslima) und ihre Sicht auf die Weiblichkeit gesprochen. Der Sender protestiert. Das könne nicht verwendet werden. Mit neuen, geschönten Fragen wird das Interview wiederholt und nun dreht sich alles um die Dessous an sich.
Emiliennes Zusammentreffen mit den unterschiedlichen Frauen sorgt auch für einen generationsübergreifenden Blick. Der ist geschickt und vielfältig gemacht. Der jugendlichen Anhalterin wird beispielsweise die erste Freundin des Sohnes gegenüber gestellt. Der Pastorenwitwe die Angestellte des Exmannes, Emilienne selbst steht gegenüber ihrer erfolgsbesessenen Nachbarin. Natürlich spielt der Roman dabei mit Extremen, aber immer mit solchen, die durch und durch vielschichtig und glaubwürdig bleiben. Gerade Emiliennes Selbsteinschätzung ist bezeichnend für den Roman. Sie „ist“ einfach, behauptet sie und achtet doch genau darauf, wie sie sich verhält. Ihrem Sohn gegenüber versuchst sie beispielsweise Distanz zu wahren, damit er nicht mehr, wie sehr sie ihn braucht. Es misslingt. Auf einem gemeinsamen Foto, umarmt er sie, zeigt offen die Verbindung, die Emilienne so fürchtet.
Der Roman mag auf den ersten Blick leicht und federnd sein, die Geschichte einer Frau nach der Frau, in die sie sich verliebt hat. Tatsächlich ist er aber durchdacht und tief, voller Momente, die nachwirken und erst am Schluss ihr Potential offenbaren. Der perfekten Frau per se wird schlicht kein Bild gegeben, sie wird heruntergebrochen auf Möglichkeiten, die sich stets als Sackgasse entpuppen. Und als wandelnder Imperfekt quasi macht sich ausgerechnet Emilienne auf diese Suche. Wunderbar. Ich wage fast zu sagen: perfekt.

Veröffentlicht am 17.11.2016

Genial

Omni
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Aurelius hat als Mensch das stolze Alter von 10 000 Jahren erreicht. Grund dafür ist, dass er von den Omni, einer ominösen Macht im Universum, ausgewählt wurde, ein Gesandter zu sein. Nun begibt er sich ...

Aurelius hat als Mensch das stolze Alter von 10 000 Jahren erreicht. Grund dafür ist, dass er von den Omni, einer ominösen Macht im Universum, ausgewählt wurde, ein Gesandter zu sein. Nun begibt er sich auf einen gefährlichen Weg. Dabei trifft er auf Forrester, Ehemaliger Mitarbeiter der Agentur, und dessen Tochter Zinnober, die von einem Kopfgeldjäger verfolgt wird. Um Zinnober zu retten, soll Forrester Aurelius entführen, denn eine Waffe ist aufgetaucht. Eine Waffe der Omni. Und bald muss Forrester sich zwischen seiner Tochter und dem Überleben des Universums entscheiden.
Ich war von Omni absolut hingerissen. Eine wunderbare Sprache und ein mitreißender Stil fesseln an die Geschichte, in dessen Mittelpunkt vor allem Forrester steht. Mit einem tiefgehenden Psychogramm und allerlei Schuld wird der tragische Held zum Antiheld und wandelt sich immer weiter. Doch auch Zinnober, Aurelius und schlichte Nebenfiguren erfahren hier Tiefe. Jeder handelt aus seiner persönlichen Entwicklung heraus. Das erzeugt nicht nur wahnsinnig viel Atmosphäre, sondern macht die Charaktere auch plastisch und glaubwürdig.
Auch die Wendungen der Handlung sorgen für Spannung und erzeugen Authentizität. Immer wieder gibt es Hindernisse und die Frage, was denn nun das Ziel ist, muss immer wieder neu beantwortet werden. Scheitern gehört genauso zu dieser Geschichte, wie Siegen. Ein wunderbares Konstrukt, in dass der Leser wirklich eintauchen kann und mitgerissen wird. Eigene Gesetzmäßigkeiten und Begriffe runden die futuristische Welt ab. Mit langwierigen Erklärungen hält sich der Autor aber nicht auf.
Die Erde wird hier als verlorenes Paradies – auf mehreren Ebenen – dargestellt. Obwohl die Menschen schon lange ihren Heimatplaneten verlassen haben symbolisiert sie noch genau das. Heimat. Eine ungeahnte Verbundenheit mit den Wurzeln, die gar nicht mehr existieren. Bezeichnend dafür ist vielleicht die Entwicklung des Raumschiffintellekts zu Cassandra, die Gefühle und Todesängste zeigt. Gleichzeitig bedrohen weltliche und persönliche Apokalypsen Figuren und Handlung. Fein und detailliert sind diese Gefüge ausgearbeitet und kommen zu einer eindrucksvollen, spannenden Geschichte zusammen.
Andreas Brandhorsts Omni ist eine in sich geschlossene Geschichte. Dass es ein Reihenauftakt sein soll, zeigt sich beim Lesen nicht. Die Figuren entwickeln sich und beenden ihr Abenteuer auf unterschiedliche Weisen. Dabei treten durchaus auch philosophische Fragen auf, wie die, wann eine Macht eingesetzt werden darf, wenn sie sich dadurch einmischt, aber Leben rettet. Das ist eine geradezu theologische Überlegung, die hier aufgegriffen wird. Und auch Schuld wird auf unterschiedliche Weise verhandelt, nicht zuletzt vor einem Gericht.

Veröffentlicht am 16.11.2016

witzige Liebesgeschichte für zwischendurch

Fangirl auf Umwegen
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Die 18-jährige Luna hat gerade Abitur gemacht und hofft, bald studieren zu können. Da hört sich von einer Verlosung, bei der ein Besuch der Harry Potter Welt in den Universal Studios und als Hauptpreis ...

Die 18-jährige Luna hat gerade Abitur gemacht und hofft, bald studieren zu können. Da hört sich von einer Verlosung, bei der ein Besuch der Harry Potter Welt in den Universal Studios und als Hauptpreis sogar jede Menge Geld zu gewinnen ist. Luna, das größte „Harry Potter Fangirl“ aller Zeiten und an die knappe Kasse eines Alleinerziehendenhaushaltes gewohnt, erwischt tatsächlich ein Ticket. Nur blöd, dass auch Leopold eines hat, selbst Sohn einer reichen Filmemacherfamilie. Um am Ende zu gewinnen, beschließt Luna, erst mal gemeinsame Sache mit Leo zu machen, doch der will offensichtlich gar nicht ihr Gegner sein.
Fangirl auf Umwegen ist eine wirklich schöne Geschichte für zwischendurch. Angenehm ist, dass es Luna ist, die am Anfang die Zicke raushängen lässt und Leo immer wieder auf Abstand hält. Er dagegen bleibt freundlich und versucht es immer wieder aufs Neue. Doch auch Leo trägt sein Päckchen mit sich herum, eine schöne, einfache, aber durchaus glaubhafte Psychologisierung der Figuren. Zumindest der Protagonisten, denn die Nebenfiguren bleiben ziemlich eindimensional.
Auch der Plot ist einfach gestrickt. Es wundert vielleicht etwas, wie schnell die anfangs so geldgeile Luna ganz andere Dinge interessieren, doch wichtige Elemente halten sich den Plot über und machen Figuren und Handlung authentisch. Lunas Stolz beispielsweise. Der Schauplatz schafft es dabei eine fantastische Umgebung zu simulieren, ohne darin einzutauchen. Luna muss mit Zauberstäben wedeln und Sprüche entschlüsseln, echte Magie aber tritt nicht auf. Dieser gut gemachte Blick auf „Magie“ als technisches Spiel und den Umgang unserer Gesellschaft mit solche „Hypes“ hat mir sehr gefallen.
Ansonsten ist das Buch unterhaltsam, nett und lustig. Die Bremse ist aber irgendwie eingebaut. Immer, wenn es richtig ernst werden könnte und die großen Konflikte anstehen, rudert die Geschichte zurück und alle Figuren sind plötzlich wieder lieb. Der ganze Eierkuchen-Sonnenschein färbt Fangirl auf Umwegen für mich etwas zu rosa. Dabei hätte der Roman durchaus Möglichkeiten, tiefer zu gehen und die Konflikte auszutragen.
Ihr seht, so ganz zufrieden bin ich mit dem Buch nicht, obwohl der Grundstock mir wirklich gut gefallen hat. Harry Potter – Liebhaber*innen werden ihre Freude dabei haben, mit Luna in die Welt von Hogwarts einzutauchen. Und die romantische Geschichte bietet einen ganz guten Rahmen dafür.

Veröffentlicht am 11.11.2016

Macht jedem Spaß

Armstrong
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Eine junge Maus ist überzeugt, dass der Mond aus Gestein besteht und um die Erde kreist. Die anderen Mäuse denken aber, das ist Unsinn. Der Mond, glauben sie, muss aus Käse sein. Sie beten ihn geradezu ...

Eine junge Maus ist überzeugt, dass der Mond aus Gestein besteht und um die Erde kreist. Die anderen Mäuse denken aber, das ist Unsinn. Der Mond, glauben sie, muss aus Käse sein. Sie beten ihn geradezu an. Nur eine alte Maus, die in einem Museum wohnt, glaubt an die junge und macht ihr Mut. Mit allerlei Ideen, Nachforschen und Getüftel fängt die Maus an, eine Rakete zu bauen. Doch jemand ist ihr dicht auf den Fersen.
Die reine Natürlichkeit der Maus, die noch bei Lindbergh dominiert hat, bricht hier etwas auf. Die Mäuse zumindest kommunizieren untereinander. So kommt auch die vermeintliche Lindbergh-Maus der jungen zu Hilfe und wird ihr Mentor. Eine tolle Verbindung zwischen den Geschichten, die auch zeigt, wie die Entwicklung vom Flugzeug die der Raumfahrt mitbegründet hat. Solche Hinweise sind immer wieder liebevoll eingebunden, ohne zu stark zu werden. So wird der Bogen zwischen den Büchern und den technischen Fortschritt per se gespannt und toll ausgearbeitet.
Auch auf das Wettrüsten wird klug Bezug genommen. Denn die Maus wird diesmal nicht von Katzen oder Eulen bedrängt, sondern vom Menschen selbst. Diese unberechenbare Gefahr ist vielleicht weniger unmittelbar, als die Fressfeinde in Lindbergh, aber dafür sind die Auswirkungen bei Armstrong deutlicher. Vor allem aber spielt der Mensch an sich eine gefährlichere, aktivere Rolle. So wird nicht nur die Jagd nach dem Fortschritt der Anderen einbezogen, sondern auch die durchaus gefährliche Übermacht des Menschen.
Detailgetreu sind auch wieder die Zeichnungen. So liebevoll ausgearbeitet und natürlich, dass ich sie mir stundenlang anschauen könnte, und immer wieder kleine Besonderheiten entdecke. Wie schon bei Lindbergh sind auch bei Armstrong manche Doppelseiten ohne Text, die Bilder sprechen hier und halten gleichzeitig die Spannung durch neue Einzelheiten. Ein Buch, das sich einen festen Platz in Bücherregal und Leserherzen verdient hat. Sogar mein eher lesefaule Gatte ist hin und weg.