Profilbild von Variemaa

Variemaa

Lesejury Profi
offline

Variemaa ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Variemaa über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 20.10.2017

Fast durchweg stark

Infiziert
0

Charlie schließt sich in einer postapokalyptischen Welt einer Gruppe von Überlebenden an. Hauptsächlich, um ihnen zu helfen, nicht von Zombies gefressen zu werden. Am liebsten ist sie nämlich allein. Das ...

Charlie schließt sich in einer postapokalyptischen Welt einer Gruppe von Überlebenden an. Hauptsächlich, um ihnen zu helfen, nicht von Zombies gefressen zu werden. Am liebsten ist sie nämlich allein. Das Gefühl, nicht dazu zu gehören, begleitet sie. Kein Wunder, denn scheinbar ist sie die Einzige, die sich nicht infizieren kann. Und dann ist da noch der Fremde, der sie von der Ferne wie ein Schatten beobachtet, die seltsamen Menschen, die sich nicht anstecken können, aber Plastikkarten bei sich tragen und ein Gebäude, dass Charlie immer mehr fasziniert.
Infiziert bietet vom ersten Moment an Spannung. Eine lebhafte Sprache, die den Leser schnell abholt, gekonnt einführt und am Ball bleiben lässt. Auch Charlie wirkt sofort. Die personale Erzählinstanz schafft die Mischung aus Distanz und Faszination, die Charlie als Einzelgängerin braucht. Außerdem ist die Identifizierung eine andere, als bei Ich-Erzählern. Der Leser kann auch Charlie blicken und beobachten, wie sie reagiert, ohne ihre Beweggrüne vollends verstehen zu müssen. Das ist Teil des Mysteriums und der Spannung. Die immerwährende Gefahr, von Zombies angegriffen zu werden trägt auch einen großen Anteil, natürlich.
Das Rätsel um Charlie wird unterstützt durch die Frage, wohin das Buch führt. Es gibt kein Elysium, das Anfangs aufgezeigt wird, keine Rettung, die so offensichtlich ist, dass es weh tut. Einen Großteil des Buches begleitet Charlie dabei, wie sie sich ungewollt in Beziehungen begibt und erfahren muss, was Verlust ist, warum Distanz so kompliziert ist. Sehr sympathisch war mir dabei, dass die Protagonistin weiß, dass sie nicht ganz alleine bleiben kann. Sie braucht Nähe und schreckt doch vor Bindungen und emotionaler Befangenheit zurück.
Das Buch lässt sich Zeit, diese postapokalyptische Welt aufzubauen. Ich mag es allerdings nicht wirklich Dystopie nennen, weil mir die politische Missherrschaft, die Dystopie immer begleitet, fehlt. Es ist eine Geschichte der Postapokalypse, wo keine Auflehnung gegen ein „falsches“ Regime, sondern das nackte Überleben im Fokus steht. Auch fehlt mir persönlich ein bisschen die Richtung. Die Handlung pendelt sich ein und hat immer wieder ihre kleinen Höhepunkte, die Spannung bleibt durchweg mitreißend. Wohin der Plot will wird allerdings relativ spät erst klar. Hin zu jenem Gebäude – und natürlich wird der mysteriöse Unbekannte noch wichtig.
So klug dieser Aufbau vom kitschigen Standard abweicht und eine vielschichte Entwicklung zeigt, so krass habe ich den Umschwung empfunden, als Charlie endlich in dieses Gebäude geht. Das Tempo legt zu, die Schnüre laufen endlich zueinander, die Entwicklungen zeigen auf einen Fixpunkt. Da mochte ich das Buch nicht mehr aus der Hand legen. Und gleichzeitig an die Wand schmeißen, weil Charlie für mich einen Charakterbruch erleidet, als sie auf ihren „Schatten“ trifft. Sie bleibt die Heldin des Romans, die ihre Stellung als Unikum behält – keine Angst, aber (und hier nicht zu spoilern ist wirklich schwer) sie zeigt stereotypische Elemente, die mich zeitweise die Augen haben verdrehen lassen. Der Roman zieht danach wieder an und so bleibt dieser Moment für mich der Tiefpunkt.
Mir haben die Wendungen des Romans große Freude gemacht und die Tatsache, dass ich nicht sofort wusste, wo alles endet, sondern wirklich immer wieder gespannt auf die nächste Seite war, spricht für sich. Wer Postapokalypsen und (fast durchweg) starke Figuren mag, dem sei das Buch ans Herz gelegt.

Veröffentlicht am 20.10.2017

Begeistert mich restlos

Abschlussball
0

Marten ist Friedhofsmusikant. Er trompetet bei Beerdigungen und kann sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen. Um die zwanzig hat er bereits eine Ausbildung als Bibliothekar und ein „Standardleben“ hinter ...

Marten ist Friedhofsmusikant. Er trompetet bei Beerdigungen und kann sich im Grunde nichts Schöneres vorstellen. Um die zwanzig hat er bereits eine Ausbildung als Bibliothekar und ein „Standardleben“ hinter sich, dem er entflohen ist. Eigentlich könnte alles immer so weiter gehen, wäre da nicht die Beerdigung eines ehemaligen Mitschülers, ein Haufen Geld und eine Unruhe, die ihn nicht so schnell loslässt.
Abschlussball ist ein moderner Entwicklungsroman par excellence. Nach einem Einstieg rekapituliert Marten seine Kindheit und Jugend. Gleichzeitig ist es genau der Gegenentwurf zu einem Entwicklungsroman, denn damals schon fühlte er sich schrecklich alt. Schwermut, Nachdenklichkeit, der Wunsch, Nichts zu tun, wirklich nichts. Er hat Gelenkschmerzen, graue Haare, die Physiologie gleicht sich seiner „alten“ Seele an. Und ja, natürlich steckt da viel dahinter. Schnell wird klar, dass Marten depressiv ist. Er hat Zusammenbrüche, bräuchte Hilfe, alles drum und dran.
Der Leser muss aufmerksam sein, um das zu entschlüsseln. Marten ist sehr introvertiert, er erzählt die Geschichte und blickt ganz anders auf sich, als sein Umfeld das zwischen den Zeilen tut. Während er die Musik als Mittel des Ausdrucks und Verbundenheit zu seiner Mutter nutzt, sich seine Welt in Improvisationen versucht zu erspielen, gibt es nur wenige echte Verbindungen in seinem Leben. Seine Schwester, die eben da ist, sein Vater, der langsam verschwindet.
Jess Jochimsen zeigt einen ungewöhnlichen Helden, der dadurch besticht, dass er gar kein Held sein will. Als Marten Bücher „entdeckt“ verliert er sich in den Geschichten, weil er gar keine eigenen Abenteuer erleben will. Keinen Wundert es mehr, als ihn, dass er durch den Tod des ehemaligen Mitschülers so durchgerüttelt wird. Vielleicht auch, weil Marten zuletzt ihre Verbindung sieht. Wilhelm, in der Schule das Gegenteil von Marten, beliebt, gute Noten, überall dabei – und plötzlich verschwunden. Dass es eine andere Art, eine andre Ausprägung des gleichen Übels ist, wird nie benannt, es ist eine der Feinheiten des Romans.
Eine winzige Handlung ist es dann, die Marten mitreißt. Weil er hofft, dass Wilhelms Geschichte anders verlaufen ist, aber auch, weil er insgeheim immer wieder auf seine eigene schielt. Dass der Leser auch das nicht vor den Latz geknallt bekommt, sondern selbst erlesen muss, ist für mich ein weiterer Pluspunkt. Es steht alles da, wir müssen es nur erkennen. Die vielen Anspielungen, von Romanen über Figuren, von Metaphern über Strukturen, haben mich ehrlich restlos begeistert.
Und natürlich der Inhalt selbst. Marten, der sich plötzlich in einem geheimen Keller wiederfindet, der sich verliebt zum ersten Mal jung fühlt, der das erste Mal die Grenzen von München übertritt. Und alles zirkelt immer wieder um seine Erkenntnis, die ihm bevorsteht. Der Leser ahnt es, sieht es kommen, rätselt dennoch. Dass der Roman selbst zyklisch verläuft, ist ein besonderes Schmankerl.
Es gibt Bücher, die mich begeistern, weil sie mich abholen. Solche, die mich faszinieren, weil sie so dicht sind. Bücher, die mich unterhalten, zum Lachen bringen, zum Nachdenken, zum Nicken. Sehr wenige schaffen das alles auf einmal. Jess Jochimsens Abschlussball gehört definitiv dazu!

Veröffentlicht am 26.09.2017

Gehört in jede Handtasche, Rucksack, Jutebeutel

Das Kommunikationsbuch
0

Was ist Kommunikation? Das einfachste Prinzip besagt dabei, dass es einen Sender gibt, eine Botschaft und einen Empfänger. Wir codieren und decodieren automatisch und nicht immer ohne Bedeutungsverlust. ...

Was ist Kommunikation? Das einfachste Prinzip besagt dabei, dass es einen Sender gibt, eine Botschaft und einen Empfänger. Wir codieren und decodieren automatisch und nicht immer ohne Bedeutungsverlust. Stille Post geht auch sehr laut. Die Willkürlichkeit von Sprache und dem Verstehen von Sprache lässt uns oft unsicher werden. Was hat der andere gesagt? Was hat er wirklich gemeint? Ist meine Botschaft angekommen? Das Kommunikationsbuch beschäftigt sich genau damit. Kommunikationswissenschaft für jeden, anschaulich und verständlich, im kompakten Format.
Ich nickte und staunte, überlegte und las die Seiten nochmal, denn dieses Buch bietet Vieles, was mir persönlich aus dem Studium, aber auch aus dem Leben bekannt ist. Dabei wertet es nicht. Wie ein „großes“ Fachbuch zeigt es Thesen, Theorien und Überlegungen, ohne sie zu kommentieren. Am Ende jedes Kapitels steht ein Merksatz. Im Grunde lassen sich die einzelnen Theorien auch mit diesen Merksätzen schon erklären, die oft humorvoll gehalten sind. Überhaupt zeigt dieses Buch: nehmt auch die Kommunikationswissenschaft nicht so ernst. Kommunikation passiert täglich. Wir wissen, dass auch Schweigen eine Aussage hat und dass wir oft mehr sagen, als wir müssten.
Es war für mich schön, bekannte Namen und Regeln wieder zu lesen. Und ehrlich: hätte ich dieses Buch im ersten Semester Germanistik oder gar in der Oberstufe bereits gehabt, wäre mir das Lernen und Verstehen vieler Fachbegriffe wesentlich leichter gefallen. Das Kommunikationsbuch bricht sie mit einfachen Mitteln herunter, macht sie greifbar und leicht verständlich. Natürlich entstehen dabei kleine Lücken, die aber erst dann wichtig werden, wenn jemand wirklich Kommunikationswissenschaft studiert.
Mit einer wunderbaren Leichtigkeit bringt dieses Buch näher, was uns alltäglich ist und doch so komplex, dass wir immer wieder darüber stolpern. Kommunikation. Was ist das überhaupt und welche Spezialfälle gibt es? Was ist eigentlich feministische Linguistik und warum ist sie wichtig? Was ist die Arschloch-Methode oder das Harvard-Konzept? Mit kleinen Anekdoten und vor allem einen faszinierenden Wissensschatz beeindruckte mich das Buch immer wieder. Prousts Fragebogen, die Sorry-Matrix, die Salamitaktik oder das Eisbergmodell zeigen allein schon in den Begriffen, dass es hier nicht verkopft zugeht, sondern menschlich und mit Begeisterung.

Veröffentlicht am 15.09.2017

Ehrlich, fanszinierend, süchtig machend. Bitte mehr, viel mehr davon!

Schneepoet
0

Lukas zieht nach Frankreich und trennt sich von Inga, seiner großen Liebe. Nicht, weil er nicht mehr bei ihr sein möchte, sondern weil er das Ungesagte nicht mehr aushält. Er leidet und Depressionen und ...

Lukas zieht nach Frankreich und trennt sich von Inga, seiner großen Liebe. Nicht, weil er nicht mehr bei ihr sein möchte, sondern weil er das Ungesagte nicht mehr aushält. Er leidet und Depressionen und dem Gefühl unvollständig zu sein. Denn Inga kennt sein Geheimnis nicht. Er hat einen Zwillingsbruder, der einst von der Familie zurückgelassen wurde. Schuld und Scham verfolgen Lukas, der in Frankreich Luc genannt wird. Sie treiben ihn in Exzesse, Selbstzerstörung und zu einer Menge Frauen. Dabei ist es nur eine, die er nicht loswird. Inga.
Das Buch startet mit Lukas Trennung von Inga. Bereits in Frankreich suhlt er sich zwischen Selbstmitleid und Selbsthass. Allein der Glaube, sie damit zu retten, hält ihn davon ab, sofort zurück zu fahren. Und natürlich Silas, der Zwillingsbruder, den er noch immer verschweigt, die Hälfte seines Lebens, an der Inga nie teilhaben konnte. Der inneren Zerrissenheit des Protagonisten wird eine physische nebenangestellt. Silas, die Spiegelung von Lukas. Zwei Menschen, die sich erschreckend ähnlich und gleichzeitig so different sind in jedem Bereich, angefangen beim Aussehen.
Gleichzeitig pendelt Lukas Identität zwischen Deutschland und Frankreich, den beiden Sprachen und dem, was er in keiner der beiden Sprachen ausdrücken kann. Lukas schreibt auf Deutsch, weil ihm das französische Vokabular der Umgangssprache teilweise fehlt und kann gleichzeitig seine Identität in seiner „Vaterssprache“ Deutsch nicht klar ausdrücken. Die Banalität dieser Tatsache ist tiefgreifend. Eine psychische Blockade, die sich durchsetzt. So wie Lukas Inga versucht aus allem herauszuhalten, was in Frankreich passiert, ist sie doch der gedankliche Fixpunkt und die Obsession lässt den Leser auch ohne direkte Beschreibung gut verstehen, wie es vorher mit Silas gewesen sein muss.
Lukas ist von seinem Schamkomplex derart gefangen genommen, dass er selbstzerstörerisch wird. Zwischen Manie und Depression sucht er die Kicks nach oben und findet sie bei emotionslosem Sex und Drogeneskapaden. Die Art und Weise wie diese Zustände und Entscheidungen angegangen werden finde ich absolut faszinierend. Denn das Tagebuchformat des Romans erlaubt es, Lukas‘ Selbstreflexion wahrzunehmen und seinen Gedankengängen zu folgen. So werden seine Schritte erschreckend plausibel. Immer wenn ich Angst hatte, die Figur würde oberflächlich werden, haut er eine Selbstbetrachtung raus, die genau das zunichtemacht. Denn Lukas ist genau das nicht und zeigt eine Tiefe, die beeindruckt und für mich doch nachvollziehbar bleibt.
Gleichzeitig sind auch die anderen Figuren des Romans greifbar. Nur wenige bleiben in der Peripherie oder haben regelrechte Gastauftritte. So wie Lukas‘ eigene Geschichte voller psychologischer Feinheiten und Wendungen ist, ist es auch die seines Bruder Silas. Auch er hat ein Geheimnis, das ihn mehr und mehr belastet. Die unterschiedlichen Herangehensweisen und Folgen für Silas, Lukas und ihre Mitmenschen sind nicht nur faszinierend, sondern tatsächlich ungewöhnlich in der deutschen Literatur.
In Schneepoet und dem folgenden zweiten Band wird Depression als das dargestellt, was sie ist. Eine Krankheit, die nicht durch Liebe magisch heilbar ist. Die Ehrlichkeit des Romans ist regelrecht umwerfend. Für jeden, der je eine depressive Phase hatte (oder mehr) sei hiermit eine Trigger-Warnung ausgesprochen. Ich hatte relativ kurz vor dem Lesen ein Dreitagestief und war zwischenzeitlich sofort wieder dort. Lukas Selbstreflexion darauf war meinen Gedankengängen – auch zu früheren Episoden – in den Grundzügen sehr ähnlich. Das hat mir unwahrscheinlich geholfen. Diese Figur, die so ungemein anders handelt als ich und doch das gleiche Gefühl beschreibt. Die Warnung bleibt aber bestehen! (Gilt übrigens auch für sexuelle Gewalt)
Das ist für mich aber auch die Stärke des Romans. Er zeigt eine Authentizität, die ich vermisse. Nicht nur was die fatale Romantisierung von Depression angeht, sondern auch in der ganzen Auffassung der Welt. Es gab Stellen, die im ersten Moment banal wirkten, weil sie Lukas‘ Alltag zeigten. In seiner Gänze aber beschreibt auch das nur das Auf und Ab der Depression, die Last des Alltags und seinen Reiz. Das Buch schließt mit einem Crescendo und wer keine offenen Enden mag, sollte sich beide Bücher gleich im Doppelpack besorgen.

Veröffentlicht am 06.09.2017

Wo fängt das Ich an

Kleine Schwester
0

Rose führt das Kino ihres verstorbenen Vaters zusammen mit ihrer an Demenz leidenden Mutter. Da beginnt sie in den Sommergewittern das Bewusstsein zu verlieren und sich im Körper einer anderen Frau wiederzufinden. ...

Rose führt das Kino ihres verstorbenen Vaters zusammen mit ihrer an Demenz leidenden Mutter. Da beginnt sie in den Sommergewittern das Bewusstsein zu verlieren und sich im Körper einer anderen Frau wiederzufinden. Fasziniert von diesem so anderen, aufwühlenden Lebe sucht Rose ihre eigenen Aussetzer. Das fremde Drama, das sie so gerne steuern möchte. Gleichzeitig taucht in ihr selbst die Erinnerung an ein ganz anderes Drama auf, den Tod ihrer jüngeren Schwester Ava, an die die Fremde sie so sehr erinnert.

Kleine Schwester ist ein Buch über Fluchten. Anders kann ich es gar nicht ausdrücken. Rose flüchtet vor ihrem eigenen Leben, ihren Erinnerungen und Entscheidungen in das Leben der Fremde. Die Obsession, dieses Leben zu retten, in dem sie doch nur Zuschauerin ist. Hier wirkt das Motiv des Kinos umso mehr. Das Mitfiebern, der Wunsch nach Erlösung und die eigene Befriedigung, wenn sie auf der Leinwand eintritt. Die Metapher für die Flucht aus dem Alltag, aber auch die Flucht vor den eigenen Problemen.
Und Probleme hat Rose genug. Nicht nur die Mutter, deren Aussetzer nur eine andere Art von Parallelismus zu Roses eigener Situation beschreiben, sondern auch die Vorurteile ihres Lebens, die Beziehung zu einem Mann, der nur oberflächlich zu ihr passt. Viele Feinheiten und tief dahinter das Trauma um ihre Schwester Ava. Verdrängung, jede Menge, aber auch die Suche nach dem, was das Leben noch zu bieten hat.

Elementar dahinter ist die Frage, wie Rose sich selbst sieht. Durch ihr Eintauchen in das fremde Leben kann sie etwas erfahren, was ihr selbst immer fremd sein wird. Dass diese Selbstfindung so nah an Tochter, Schwester aber auch Mutterschaft ausgemacht wird, hat mich leicht irritiert. Rose definiert sich nicht über sich selbst, sondern über das Fremdbild ihrer Mitmenschen. Das ist ihr Problem und löst sich auch eher durch die Notwendigkeit. Sie beginnt erst aktiv zu werden, als sie glaubt, ihre Passivität wieder gut machen zu können.
Dabei spielt der Roman mit den Erwartungen des Lesers immer wieder auf alles Zeitebenen. Ein großer Vorteil in diesem Buch voller Innensichten, dass der Leser sich verbunden fühlt und dennoch außen vor bleibt. Rose sieht die Welt durch die Augen einer anderen, das Fremdbild wird geradezu perfektioniert, während der Leser nie richtig eintauchen kann. Ein sonderbares Spiel um die Perspektiven, das seinen Reiz hat.

Vielleicht ist es darum auch weniger die Handlung an und für sich, die fesselt, als die Blickwinkel und Reflektionen dahinter. Nicht zuletzt, die Reflektion auf sich selbst und das eigene Leben. Aber auch auf die Spiegelung der anderen, die wir absichtlich oder unabsichtlich durchleben. Wo fängt da eigentlich das wirkliche ICH an. Eine spannende Frage, die Kleine Schwester behandelt, aber nicht beantwortet. Muss es auch nicht. So wie sich die Gewitter bricht auch Rose aus und wird zur Akteurin. Die Entwicklung dahin ist spannend zu betrachtet.