Hier wurde zu viel gewollt und dadurch zu wenig erreicht
Die vier GezeitenDas Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher ...
Das Buch hat mich durch das hinreißende Titelbild und einen originellen Anfang sofort angezogen. Es beginnt mit einem Tagebucheintrag, in der eine geplante Selbsttötung durch Ertrinken mit fast wissenschaftlicher Distanz betrachtet wird. Im nächsten Kapitel finden wir uns mitten in einer offensichtlich nicht harmonischen Familie, in die eine junge Frau namens Helen platzt, die offensichtlich mit ihnen verwandt ist – nur wie? Dies ist der Auslöser für die Geschichte der Juister Familie Kießling, die bis ins Jahr 1934 zurückgeht. Diese Geschichte wird, wie in momentan fast jedem Roman dieser Art, durch zahlreiche Rückblenden erzählt. Ich fand das erste Drittel des Buches teilweise etwas verwirrend, denn es taucht eine Vielzahl an Charakteren auf, die oft nicht wirklich vorgestellt werden. Die Rückblenden werden aus der Sicht Johannes und ihrer Tochter Adda erzählt, so dass es teilweise mit Epochen, Perspektiven und Charakteren etwas zu viel wurde. Nach und nach wurde ich aber mit den Charakteren vertraut – allerdings sind es einfach zu viele von ihnen und manche kommen so am Rande vor, dass ich auch am Ende des Buches bei manchen Namen erst mal überlegen mußte, wer denn das nun wieder ist.
Die Geschichte weiß, Spannung zu erzeugen. Aufhänger ist die Frage, wie Helen mit der Familie verwandt ist. Allerdings tritt dies ziemlich in den Hintergrund, Helen kommt über weite Strecken des Buches kaum vor, führt dann ähnliche Unterhaltungen mit diversen Familienmitgliedern. Am Ende wird das Geheimnis um ihre Herkunft ziemlich abrupt und unbefriedigend aufgelöst. Die Umstände ihres Erscheinens und ihrer Suche sind leider sehr konstruiert. Dies ist auch bei anderen Handlungssträngen öfter der Fall, Logik und Plausibilität mußten zu oft in den Hintergrund treten. Viele Entscheidungen und Entwicklungen der Charaktere sind ebenfalls nicht nachvollziehbar – gerade bei Johanne wurde der Zeitabschnitt, in dem sich wohl wichtige charakterliche Entwicklungen abspielten, gar nicht behandelt. Auch fand ich nicht plausibel, dass Helens Erscheinen plötzlich das jahrzehntelange Schweigen in der Familie beendet. Ein Großteil des Buches hat mit Helens Herkunft letztlich auch gar nichts zu tun, wir gehen hier zurück in Johannes Jugend in den 1930ern, später Addas Jugend in den 1950ern. Dieser Teil hat mir am besten gefallen. Zwar sind die Geschehnisse ziemlich konventionell – dies alles hat man schon in zahlreichen Büchern über diese Epochen so gelesen – und dadurch vorhersehbar, aber sie sind gut erzählt und dazu noch wundervoll in die Juister Atmosphäre eingebettet. Dieser Juister Hintergrund war für mich der stärkste Teil des Buches. Die Autorin schafft es, die Insel vor meinen Augen erscheinen zu lassen. Hier wird mit soviel Liebe, Können und Wissen geschildert, dass das Lesen ein Genuß ist. Auf gelungene Weise wird die Geschichte Juists in die Geschichte verwebt, ich habe viel gelernt, auch finden sich hier Charaktere, die liebevoll und sorgfältig konzipiert wurden (anders als z.B. die Töchter Addas, die größtenteils völlig blass bleiben). Auch die Atmosphäre der 1930er und 1950er ist ausgezeichnet geschildert und eingefangen. Wenn sich das Buch auf diese Dinge konzentriert hätte, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden.
Leider aber will die Autorin für meinen Geschmack zu viel. Neben der Vielzahl an Charakteren kommen dann auch zahlreiche Familiengeheimnisse ans Licht. Gerade im letzten Drittel folgt ein neues Thema dem anderen und es wurde zunehmend unglaubwürdig, was alles vorgefallen und verschwiegen wurde und nun auf einmal aufgedeckt wird. Dann werden auch manche Klischees überbenutzt, gerade beim Thema unerwünschter Schwangerschaften kam ich mir als Leser am Ende geradezu verulkt vor. Auch die Zeitgeschichte bis in die 1980er findet Eingang in die Geschichte, dies aber im Schnelldurchlauf, ohne die erzählerische Dichte der vorherigen im Buch behandelten Epochen. Weniger ist mehr, das habe ich beim Lesen oft gedacht.
So war „Die vier Gezeiten“ für mich ein Buch, das einerseits durch wundervolle Atmosphäre, eine gelungene Verwebung von Zeit- und Familiengeschichte und herrlich erzählte Szenen eine wahre Freude war, aber durch zu viele Charaktere, zu viele Handlungsstränge, zu viele Klischees und zu viele dadurch rasch abgehandelte Aspekte enttäuschte.