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Veröffentlicht am 25.06.2020

Bildhafter Blick auf's eigene Gepäck

Der Gepäckträger
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„Der Gepäckträger“ ist ein ungewöhnliches Buch, das eine interessante Thematik originell verpackt. Der Untertitel sagt es schon: „Eine Erzählung über die Kunst, unbeschwert zu leben“. Das Gepäck, um das ...

„Der Gepäckträger“ ist ein ungewöhnliches Buch, das eine interessante Thematik originell verpackt. Der Untertitel sagt es schon: „Eine Erzählung über die Kunst, unbeschwert zu leben“. Das Gepäck, um das es hier geht, ist nur zu Beginn das tatsächliche Reisegepäck der Protagonisten, aber letztlich das Gepäck, das man im Inneren mit sich herumträgt. Die Gestaltung des Buches ist gelungen – das erfreulich reduzierte Titelbild zeigt uns das Wesentliche schon, originell ist der von außen blaue Buchblock. Hier wurde liebevoll gestaltet und so etwas ist immer schön, paßt auch zum Liebevollen der Geschichte.

Der Leser ist gleich mitten in der Geschichte drin, lernt die drei Reisenden Gillian, David und Michael kennen, die mit dem gleichen Flugzeug ankommen und aus Versehen am Gepäckband den falschen Koffer erwischen. Mir haben die Schilderungen dieser drei unterschiedlichen Leute ausgezeichnet gefallen. Ihre Gedanken, ihre Erlebnisse sind ebenso bildhaft wie die geschilderte Umgebung. Man sieht den Flughafen vor sich, das schicke Haus von Gillians Schwester, die kühle Büroumgebung Davids und die Trainingsbahn, von der Michael aus auf seinen eigentlichen Traum blickt. Denn alle drei kommen mit gemischten Gefühlen und Sorgen an ihrem jeweiligen Ziel an, alle haben eben ihr Gepäck dabei. Der Autor hat hier drei Lebenssituationen ausgewählt, die so gängig sind, dass die meisten Leser sich mit einer oder mehreren davon identifizieren oder sie zumindest gut nachempfinden können. Das ist gelungen, erfreulich ist auch, wie gut die unterschiedlichen Welten der drei geschildert werden. Jeder kommt glaubhaft rüber, hat eine eigene Stimme, man kann sich beim Lesen darin versinken lassen. Dieser bildhafte angenehme Schreibstil zieht sich durch das ganze Buch.

Während das erste Drittel des Buches uns diese lebensnahen Situationen ausgezeichnet nahebringt, geht die Geschichte ab dann ziemlich vom Realen weg. Der titelgebende Gepäckträger macht unseren Protagonisten klar, welches Gepäck sie eigentlich mit sich herumschleppen. In diesem Teil muß man sich darauf einlassen, daß nicht alles logisch und real ist. Das ist nicht unbedingt mein Fall, aber es ist gut gemacht, wenn auch manchmal die Botschaft ein wenig flach rüberkommt. Auch hier gelingt es dem Autor, die drei verschiedenen Perspektiven und Reaktionen der Protagonisten anschaulich zu schildern. Sie scheinen ihm alle auf ihre Art wirklich am Herzen zu liegen. Es gibt keine großen Überraschungen, was wohl auch nicht beabsichtigt ist. Die Entwicklung der drei Stränge in sich ist absolut stimmig und nachvollziehbar. Der Weg zur Erkenntnis war mir manchmal ein wenig zu flach, in einem Fall fehlte auch etwas Würze, es ging doch alles sehr glatt, die Botschaft war ziemlich einfach. Im zweiten Fall verpaßt das Ende m.E. eine gute Möglichkeit, ist zu zuckerwattig, zu märchenhaft. Mit diesem letzten Drittel des Buches war ich also nicht uneingeschränkt glücklich.

Insgesamt aber hat David Rawlings eine charmante Methode gewählt, seine Botschaft zu vermitteln. Leicht, locker und bildhaft, vielleicht an manchen Stellen ein wenig oberflächlich, aber doch insgesamt mit Substanz und einigen Anregungen, über das innere Gepäck nachzudenken. Das Ganze in einem absolut angenehmen Schreibstil, der das Lesen zur Freude macht.

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Veröffentlicht am 16.06.2020

Viele Details, wenig Handlung, kein überzeugendes Konstrukt

City of Girls
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Es gab wenige Bücher, bei denen mich die Leseprobe so begeistert hat. Die 19jährige Vivian berichtet, warum sie 1940 von ihren Eltern nach New York geschickt wird und dieser Überblick ist so spritzig, ...

Es gab wenige Bücher, bei denen mich die Leseprobe so begeistert hat. Die 19jährige Vivian berichtet, warum sie 1940 von ihren Eltern nach New York geschickt wird und dieser Überblick ist so spritzig, mit so viel Wortwitz geschildert, daß das Lesen richtig Spaß macht. Mit scharfem Blick beobachtet Vivian ihre Mitmenschen, skizziert treffend Vassar-Mitstudentinnen mit "wichtigtuerischem Haar" (ein herrlicher Ausdruck!), entwirft das Bild ihrer Oberschichteltern, des perfekten Bruders und der exzentrischen Großmutter. Es gibt hier so viel Originelles, daß ich es kaum erwarten konnte, mit Vivian die ersten Schritte in New York zu erleben und auch ihr Umfeld besser kennenzulernen. Vivian versprach, eine unterhaltsame und scharfsinnige Protagonistin zu werden. Ich beschreibe das so genau, weil dieser Anfang so hohe Erwartungen weckte, die leider dann sehr enttäuscht wurden. Der spritzige Schreibstil blitzt nach diesem Anfang nur noch vereinzelt durch und Vivian erweist sich als blasse Protagonistin. Irgendwann sagt ihr jemand, daß sie nicht interessant ist und es nie werden wird, und das stimmt leider.

Nach dem flotten, vielversprechenden Anfang sinkt das Erzähltempo stark. Vivian zieht in das heruntergekommene Theater ihrer Tante Peg und zunächst lesen wir noch recht unterhaltsame Beschreibungen der dort lebenden und arbeitenden skurrilen Leute - talentierte Musiker, aufregende Revuegirls, ein verzweifelnder Stückeschreiber. Es ist eine recht gute Spiegelung der Kunst- und Theaterwelt New Yorks in jenen Jahren, auch einige von Vivians Erlebnissen zeigen dieses New York unterhaltsam. Leider verliert die Autorin sich dann aber sehr in diesen Beschreibungen. Wir erfahren en detail, welche Shows das Theater zeigt - inklusive genauer Informationen über Musik, Geschichten, Kulissen, Kostüme. Das ist anfangs noch interessant, hört aber gar nicht mehr auf, wiederholt sich und wird langweilig. Seitenlange Beschreibungen der einzelnen Kleidungsstücke einer Schauspielerin und langatmige Unterhaltungen über die Kleider tragen nichts zur Geschichte bei und sind regelrecht zäh.
Auch Vivans eigenes Leben befindet sich bald in einem recht einseitigen Kreislauf. Vivian verbringt ihre Zeit hauptsächlich damit, auszugehen und mit Männern ins Bett zu gehen. Viele gleichlautende Passagen des immergleichen Geschehens. Das machte leider wenig Lesespaß. Es wird generell gerne wiederholt - Dinge werden nicht einmal erklärt, sondern gleich mehrfach hintereinander. Wo ein Satz alle notwendigen Informationen vermittelt, folgen noch vier weitere. Manche Fakten erfahren wir alle paar Seiten erneut. Ich mußte mich hier oft zwingen, weiterzulesen.

Als das Theater die Show "City of Girls" vorbereitet und aufführt, geht es um die 80 Seiten fast nur um diese Show - Handlung bis hin zur detaillierten Beschreibung einzelner Szenen, Charaktere, Liedtexte, unzählige ähnlich lautende Zeitungskritiken. Auch hier sind die Details für den Fortgang der Geschichte nicht relevant und lesen sich zäh. Das war der schwächste Teil des ganzen Buches. Der im Klappentext erwähnte Skandal bringt dann kurzfristig ein wenig Tempo in die Geschichte und es folgt ein Teil, den ich hervorragend fand: die direkten Auswirkungen des Krieges auf die Familie. Das ist mit so wenigen Worten so eindrücklich beschrieben, daß ich manche Sätze mehrfach las und tief berührt war. Leider verliert sich dieser prägnante Stil schnell wieder in der detailverliebten Geschwätzigkeit ohne wirkliche Handlung.

Im letzten Teil tauchen plötzlich lauter neue Charaktere auf, die teilweise ausführlich beschrieben werden, um dann nie wieder vorzukommen. Mehrere neue Entwicklungen werden halbherzig und rasch in die Geschichte geworfen, während die eigentliche Handlung behäbig voranschreitet. Auch hier habe ich mich leider sehr gelangweilt.

Die Prämisse des Buches ist, daß Vivian als 90jährige Frau einer uns unbekannten Angela erklärt, was Angelas Vater ihr bedeutet hat. Das Buch richtet sich wie ein Brief an diese Angela, was sich eigentlich nur dadurch bemerkbar macht, daß Angela manchmal direkt angesprochen wird. Wer sie ist, wer ihr Vater ist - das erfahren wir erst am Ende des Buches und deshalb funktioniert das Konstrukt für mich nicht. Vivian behauptet, Angela von ihrem Vater erzählen zu wollen. Zu 90 % erzählt sie ihr aber Dinge, die in dieser Hinsicht völlig irrelevant sind. Was sollte Angela mit den Details über Schauspielerkleidungsstücke, einem 1940 aufgeführten Stück und insbesondere mit den vielen, vielen (völlig unnötigen) Details über Vivians Liebesleben anfangen können? Warum sollte Vivian das alles einer ihr fast Unbekannten erzählen? Die Geschichte von Angelas Vater wirkt dann am Ende wie draufgepfropft. Dafür, das sie das Thema des Buches sein sollte, erhält sie zu wenig Beachtung und spielt zu spät eine Rolle.

Äußerlich ist das Buch sehr ansprechend gestaltet. Das Titelbild fängt die Stimmung gut ein, fällt auf angenehme Weise auf. Die Schrift findet sich in den Kapitelüberschriften wieder - ebenfalls sehr gelungen. Weniger erfreut war ich über einige verunglückte Übersetzungsformulierungen. So wurde sich oft zu sehr an den englischen Originaltext angelehnt, was bei einer guten Übersetzung nicht passieren sollte. Zum Beispiel findet sich der Satz "Peg war entsetzt von den Kosten" - da blitzt das "shocked by the costs" durch, im Deutschen würde man das aber nie sagen, da wäre man "entsetzt über die Kosten". Dann wechseln zwei Leute mitten in einer Unterhaltung vom "Sie" zum "Du", ohne daß es nachvollziehbar ist, warum plötzlich von einem Satz zum anderen die Form der Anrede gewechselt wird. Solche Fehler haben mich bei einem Verlag vom Format des Fischer Verlags doch überrascht. Es sind nur einzelne Punkte in einer Übersetzung, die sich sonst gut lesen läßt, aber es kam doch öfter vor, als es wünschenswert gewesen wäre.

So haben wir hier eine sehr handlungsarme detailverliebte Schilderung, deren Prämisse nicht zum Inhalt paßt. Es gibt witzige und auch berührende Passagen. Es gibt auch originelle, gut getroffene Charaktere und interessante Informationen über New York im zweiten Weltkrieg. Leider ersticken die guten Aspekte in unnötigen Details und Wiederholungen, kranken außerdem an einer wenig mitreißenden Protagonistin.

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Veröffentlicht am 30.05.2020

Ceecees Rettung

Die Frauen von Savannah
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"Die Frauen von Savannah" ist im Original mit "Saving Ceecee Honeycutt" betitelt, was besser zum Inhalt paßt. CeeCee, die als Ich-Erzählerin fungiert, ist zwölf Jahre alt und zu Beginn des Buches erfahren ...

"Die Frauen von Savannah" ist im Original mit "Saving Ceecee Honeycutt" betitelt, was besser zum Inhalt paßt. CeeCee, die als Ich-Erzählerin fungiert, ist zwölf Jahre alt und zu Beginn des Buches erfahren wir einiges über ihre Kindheit mit einer Mutter, die psychisch krank ist. Schon der erste Satz des Buches: "Momma ließ ihre roten Satinschuhe mitten auf der Straße stehen" deutet die Thematik an und macht zudem neugierig. Diese traurige Kindheit, die CeeCee verlebt, mit einer selbst leidenden Mutter und einem stets abwesenden Vater, unter gehässigen Schulkameraden und in ständiger Angst, was die Mutter als nächstes "anstellen" wird, geht beim Lesen zu Herzen. Da wir alles durch Ceecee erfahren, können wir uns nur zusammenreimen, was genau mit ihrer Mutter ist und wie der Vater einzuschätzen ist. Das ist ein gutes Vorgehen, weil man gerade über den Vater beim Lesen immer wieder die Meinung ändert und sich viele Schlußfolgerungen selbst überlegen muß. Über die Mutter hätte ich gerne mehr erfahren. Ceecees tiefe Traurigkeit kommt durch die Erzählweise auch sehr gut heraus. So hat dieser Anfang überraschende Tiefe und Vielseitigkeit und ist auf gelungene Weise düster (was ich angesichts des angekitschten Titelbilds (auch da hat die Originalausgabe es besser getroffen) nicht erwartet hatte.

Als Ceecee nach dem Tod ihrer Mutter von ihrer Großtante in Savannah aufgenommen wird, wandelt sich die Atmosphäre sehr. Savannah - die verträumte Stadt im tiefen Süden, deren teils exzentrische Bewohner auch schon beliebtes Thema anderer Romane waren. Beth Hoffman liefert hier vertraute Motive des Südens in den 60ern: wohlhabende Damen in prachtvollen Häusern, die sich der Erhaltung alter Gebäude widmen, Parties geben und elegante Kleider und Hüte ausführen. Die treue Köchin, ein wenig ruppig, aber mit einem Herzen aus Gold. Ein paar Eifersüchteleien unter den Damen mit zu viel Zeit, ein paar belanglose Gespräche, der Rassismus von Ort und Zeit blitzt gelegentlich durch. Dieses etwas geschönte Südstaatenbild wird liebevoll geschildert und man blüht mit CeeCee auf, die plötzlich in die kuschlige Umarmung dieser für sie neuen Welt genommen wird und sich im Laufe ihres ersten Sommers dort wie eine Blume immer mehr entfaltet.

Dieser Sommer wird gemächlich, atmosphärisch und episodisch erzählt. Ceecee hat ihre kleinen Erlebnisse - Ausflüge, neue Bücher und Kleider, heimliches Schwimmen im Pool der Nachbarin, Treffen mit Bekannten ihrer Großtante und deren Köchin Oletta. Das glitt mir teilweise zu sehr ins Belanglose ab und irgendwann sind die diversen liebevoll-exzentrischen Damen ein wenig überbenutzt. Alle, denen Ceecee begegnet, haben irgendeine Eigenheit, die uns detailliert geschildert wird. Manche dieser Leute werden ausführlich beschrieben, um nach einigen Seiten wieder völig aus der Geschichte zu verschwinden, andere tauchen hin und wieder auf, manche spielen eine ständige Rolle. Ein paar weniger dieser Leute und Erlebnisse hätten es auch getan, denn irgendwann wurde ich all dieser originellen kleinen Eigenheiten etwas müde.

Die Tiefe, die das Buch am Anfang hat, findet es ab und an wieder zurück und das sind die besten Szenen. Immer, wenn Ceecee mit ihrer Vergangenheit konfrontiert wird, bekommt das Buch Substanz. Auch die ab und an eingestreute sich verändernde Haltung zu ihrem Vater ist interessant, dazu glaubhaft und gut geschildert. Ein wenig mehr davon und etwas weniger belanglose Episoden hätten dem Buch meines Erachtens sehr gut getan. Während diese Stellen sehr berühren, waren einige der anderen Episoden wirklich albern. Zwei Nachbarinnen führen eine Art Kleinkrieg, der uns die schlechtesten Szenen des Buches bringt - überdreht und platt.

Ein weiterer Punkt, der mir nicht zugesagt hat, war die Tendenz zur Zuckerwattigkeit. An einer Stelle erwähnt Ceecee, dass die Welt um sie herum ganz rosa wirkte und den Eindruck hatte ich auch. Ceecees innere Reise, ihre "Rettung" (wenn man nach dem englischen Titel geht) hätte man auch sehr schön mit weniger ezählerischem Sirup schildern können. Die meisten Probleme lösen sich hier von selbst, oder werden nach einem mit vielen Lebensweisheiten garnierten Gespräch gelöst. Lebensweisheiten werden mit Begeisterung verteilt, keine Gelegenheit für einen Kalenderspruch wird ausgelassen. Auch einige Wendungen waren gar zu zuckrig - der "alles wird innerhalb weniger Wochen gut"-Kurs wird unerbittlich verfolgt.

So war es einerseits sehr interessant, CeeCee - die eine sympathische Ich-Erzählerin ist - zu begleiten, mit ihr zu fühlen und sich zu freuen, wie ihre Seele heilt. Andererseits wäre dies auch mit weniger putzig-originellen Banalitäten und weniger Rosatönung möglich gewesen und hätte mir persönlich dann wesentlich besser gefallen.

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Veröffentlicht am 29.05.2020

Agatha Christie geht neue Wege - teilweise sehr gelungen

Das Eulenhaus
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"Das Eulenhaus" ist ein für Agatha Christie eher untypischer Krimi und das ist zunächst seine Stärke. Wir haben hier schon fast eher ein Psychogramm als einen Krimi. Das bringt erfreulich frischen Wind ...

"Das Eulenhaus" ist ein für Agatha Christie eher untypischer Krimi und das ist zunächst seine Stärke. Wir haben hier schon fast eher ein Psychogramm als einen Krimi. Das bringt erfreulich frischen Wind hinein, aber leider gab es auch mehrere Schwächen.

Es beginnt noch recht typisch Christie. Diverse Menschen kommen für ein Wochenende in einem Landhaus zusammen, als Gäste von Henry und Lucy Angkatell. Lucy ist die Erste, der wir begegnen und wir merken auch gleich, sie ist ungewöhnlich. Die ältere Dame neigt zu gedanklichen Abschweifungen und exzentrischen Gedankengängen. Was zu Beginn noch etwas Amüsantes hat, wird im Verlauf des Buches zunehmend ermüdend. Viel Platz wird darauf verwandt, Lucys Monolog widerzugeben und die Charaktere versichern und unablässig, wie herrlich charmant und exzentrisch sie ist. Herrlich fand ich es allerdings immer weniger, abgesehen davon, daß es viel zu viel Raum einnahm. Irgendwann weiß man auch schon, in welche Richtung es gehen wird, da diese ganze "charmante" Exzentrik absolut überbenutzt wird.

Die anderen Charaktere sind teilweise sehr interessant und gut gezeichnet, teilweise bleiben sie blass und sind für die Geschichte überflüssig. Interessant war es, einen Einblick in die Gedanken vieler der Charaktere zu bekommen. Wir erleben das Geschehen ausnahmsweise nicht durch die Augen von Hastings, Poirots normalerweise treuem Begleiter, und erfahren so mehrere Perspektiven, lernen die Personen deshalb auch viel besser kennen. Das war erfreulich und oft interessant. Einige Handlungsstränge zogen sich leider ziemlich und hatten keine Relevanz für die Geschichte. So hatte ich am Ende das Gefühl, ziemlich in der Luft hängengelassen zu werden. Zum Ende aber später mehr.

Poirot kommt im Buch vor, aber er spielt keine wirklich Rolle. Ursprünglich war nicht geplant, ihn mitspielen zu lassen und das merkt man. Er ist hier halbherzig eingebunden, ermittelt eigentlich nicht, taucht nur ab und an auf. Überhaupt spielen die Ermittlungen nur eine geringe Rolle. Nachdem der Mord geschieht und viele interessante Fragen aufwirft, widmet sich Christie ihren diversen Charakteren und berichtet uns viel Unnötiges. Allerdings geschieht dies überwiegend durchaus kurzweilig. Während ich in vielen Christie-Büchern die ständigen Verhöre, in den die ewiggleichen Fragen wiederholt werden, oft langweilig fand, gibt es so etwas hier gar nicht. Die Perspektiven wechseln, das Geschehen wechselt, wir gehen von einem zum anderen und das in einem meistens guten Erzähltempo.

Das Ende kommt dann recht unerwartet und natürlich gelingt es Christie wieder, mich damit zu überraschend. Ich hatte bis zum Ende keine Ahnung, wer der Täter ist. Allerdings ist der Weg zur Lösung plötzlich und nicht wirklich nachvollziehbar. Auch eine Entscheidung, die Poirot am Ende trifft, finde ich nicht passend. Während sie interessante Fragen rund um Schuld und Sühne berührt, läßt sie andere wichtige Aspekte außer Acht und wirkt deshalb nicht stimmig für mich. Auch blieben einige Fragen unbeantwortet, bzw. erwiesen sich als irrelevant. Insgesamt hatte mir die Handlung des Buches zu wenig mit dem Ende und der Auflösung des Falles zu tun.

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Veröffentlicht am 12.04.2020

Düstere, eindrückliche Geschichte

Tess
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Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt ...

Mit Tess führt Thomas Hardy uns ganz tief in die Düsternis. Wir begleiten Tess, ein hübsches, zu Beginn argloses Mädchen, das im England des ausgehenden Jahrhunderts durch die Eitelkeiten ihrer Umwelt und rigiden Regeln ihrer Zeit ins tiefste Unglück gestürzt wird.

Das beginnt noch recht harmlos, wir bekommen von Hardy das Landleben liebevoll und detailreich beschrieben. Im Laufe des Buches finden sich viele solche Beschreibungen, die das Alltagsleben informativ schildern - teils ist das herrlich malerisch, oft merkt man aber, welche Härten die einfache Landbevölkerung erfahren mußte. Die landwirtschaftlichen Tätigkeiten und Kreisläufe sind sehr interessant, geben dem Leser vielerlei Einblicke. Auch die landschaftlichen Beschreibungen und die sich ändernden Jahreszeiten erstehen von den Seiten farbig auf. Manchmal verlieren sich diese Beschreibungen ein wenig zu sehr im Detail und gerade in der Mitte des Buches schleicht sich stellenweile eine gewisse Langatmigkeit ein, dies aber nur vorübergehend. Im Gesamten ist der Schreibstil sehr erfreulich und fast durchweg ist man gespannt, was als nächstes geschehen wird. Hardy versteht sich darauf, den Spannungsbogen aufrechtzuhalten und neue Wendungen einzubauen.

Der Stil ist zudem erfreulich zugänglich, wesentlich eingängiger als bei so manchem anderen Klassiker. Oft fließt auch in Nebensätzen und Beobachtungen herrlicher Humor ein. Man merkt überhaupt - Hardy kannte die Menschen, sah kenntnisreich und kritisch hinter die Fassaden. Seine Charaktere sind sorgfältig gezeichnet, facettenreich. Gerade bei den beiden Männern in Tess' Leben war ich beim Lesen immer wieder hin- und hergerissen, und auch sonst ist kein Charakter schablonenhaft, keiner leicht einzusortieren. Die Charakterzeichnung ist eine absolute Stärke des Buches.

Tess selbst wird im Laufe des Buches ab und an ein wenig anstrengend. Sie erlebt von Anfang an Unrecht durch andere, wird immer wieder enttäuscht, verraten, ausgenutzt. Während sie einerseits viel Würde und Stolz zeigt, nie den leichten Ausweg sucht, hat sie auch die Tendenz, sich selbst tief in den Staub zu treten und negativ zu sehen. Das nahm manchmal doch übertriebene Ausmaße an. Andererseits beschreibt Hardy ihre innere Entwicklung durchaus meistens glaubhaft und wir merken aus, wie sie durch all das, was ihr widerfährt, geformt wird. Sie läßt den Leser nicht kalt, man fühlt mit ihr, nimmt Anteil.

Das auf sie hereinprasselnde Unheil nimmt ebenfalls ab und an etwas zu starke Ausmaße an, meistens aber ist es nachvollziehbar, erklärt sich aus der Zeit und dem Umfeld, in dem sie lebt. Eine große Schwäche war für mich aber, daß Hardy die bei den viktorianischen Schriftstellern so beliebten unglaublichen Zufälle sehr überbenutzt. Das war an manchen Stellen so unwahrscheinlich, daß es unglaubwürdig wurde und ich es nicht ganz ernst nehmen konnte. Diese gelegentlichen Schwächen werden dann aber durch einen mitreißenden atmosphärischen letzten Teil wieder wettgemacht, der uns in intensiven Bildern dem dramatischen Ende entgegenführt, welches dann mit eindrücklicher Symbolik erzählt wird.

So bietet Hardy uns eine tragische Geschichte, die zwar ein paar Schwächen hat, aber gerade durch ihre psychologisch ausgefeilte Betrachtung der Menschen und die gekonnten Beschreibungen einen tiefen Eindruck hinterläßt.

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