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Veröffentlicht am 02.12.2021

Mehr Lust als Liebe, mehr Klatsch als Tiefe

Liebe in Zeiten des Hasses
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Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ...

Florian Illies zeichnet das Leben unzähliger Menschen zwischen den Jahren 1929-39 unter dem Leitmotiv „Liebe“ nach. Sie ist sehr weit gefasst, quer durch alle Geschlechter und Konstellationen, körperlich ebenso wie philosophisch, umfasst aber auch die Liebe zu Eltern/Kindern, zur Kunst, zu sich selbst. An sich ein schöner Gedanke, die Liebe in all ihren Facetten zu demonstrieren. Allerdings fand ich die Gewichtung nicht sonderlich gelungen. Nachdem Titelbild und der Untertitel „Chronik eines Gefühls“ mir den Eindruck vermittelten, hier würde ich tiefgründige Einblicke zu Menschen bekommen, die ihre Liebe in der dunkelsten Zeit des letzten Jahrhunderts leben mussten, hatte ich bei dem Buch leider zu oft das Gefühl, die Klatschspalten zu lesen. Der Fokus liegt hier sehr stark auf körperlicher Liebe. Die „wer mit wem“-Informationen und ständiges „Verlieben“ auf ersten Blick nahmen den Großteil des Buches ein und gingen über „X schlief mit Y, welche die Verlobte von Z war, woraufhin Z eine Beziehung mit Xs Ehefrau begann“ inhaltlich oft nicht hinaus.
Die meisten der im Buch erwähnten Personen sind Künstler, die 1920er Jahre waren zudem eine ungewöhnlich freigeistige Zeit, da ist es nur natürlich, wenn selten traditionelle Ehen gelebt werden. Allerdings stellte sich mir die Frage, warum der Autor nicht eine repräsentative Auswahl getroffen hat, denn diese Geschichten ähneln sich alle sehr. Das ging so weit, dass ich manchmal am Anfang eines Absatzes schon wusste, was in den nächsten Sätzen stehen wird. Illies arbeitet mit Vignetten, wir reisen schnell von einem Schicksal zum anderen und wenn man sehr häufig Dinge liest, die wie eine Endloswiederholung wirken, dann verschwimmt alles und ist auch nicht mehr sonderlich interessant, gerade weil kaum in die Tiefe gegangen wird. Im Vergleich zu den vielen Kreuz-und-Quer-Affairen gehen dann interessante, tiefgründige Schicksale wie z.B. das von Victor Klemperer und seiner Frau völlig unter. Hier und da werden ein paar Sätze aus seinem Tagebuch eingeworfen, kaum Hintergrundinformationen, dabei hätte die Geschichte von ihm und seiner Frau eine wesentlich ausführlichere Behandlung verdient und wäre auch um einiges interessanter als der 27. herumschlafende Künstler.

Die Vignettenform ist an sich originell und abwechslungsreich. Allerdings waren es mir einfach zu viele Personen. Als ich auf Seite 100 war und immer noch mit jeder Vignette jemand Neues auftauchte, war es mir zu viel. Ich hätte mich gerne weniger Schicksalen gewidmet, diesen dafür eingehender. Das Personenverzeichnis hat neun Seiten, pro Seite etwas 60 Namen, also kann man sich vorstellen, wie voll es auf den Seiten des Buches wird. Manche werden leider nur einmal kurz erwähnt, in einer Vignette eingeworfen und gehen ebenso unter wie der o.e. Klemperer. Es ist ein wenig wie auf einer Party, bei der die lauteste Gruppe die meiste Aufmerksamkeit bekommt, obwohl die ruhig in einer Ecke Stehenden viel Aufschlussreicheres zu erzählen hätten, wenn man ihnen nur zuhören würde. Ich fühlte mich mit Namen und Schicksalen überschüttet und konnte immer nur zehn bis zwanzig Seiten am Stück lesen. Einerseits ist bewundernswert, welche Recherche und Hingabe in ein solches Werk gesteckt wurde, und man bekommt wohl selten einen so kondensierten Blick auf derart viele Schicksale. Wer nichts gegen schnelle Wechsel hat, mit kurzen Einblicken zufrieden ist und sich nicht daran stört, sehr häufig sehr Ähnliches zu lesen, wird hier eine Vielzahl interessanter Personen finden und manche von ganz neuen Seiten kennenlernen. Deshalb möchte ich gar nicht sagen, mir hätte das Buch nicht gefallen. Es war unterhaltsam, es hat mir viele neue Informationen geliefert und - gerade in den letzten Abschnitten - einige Beispiele dessen, was ich von dem Buch erwartet hatte: Liebe, die sich in dunkelsten Zeiten beweist.

Die Sprache ist eine wahre Freude. Illies geht mit ihr so gekonnt um, daß ich viele Formulierungen mehrfach las und gerne darin eintauchte. Ich war immer wieder beeindruckt. Ich habe aber auch immer wieder gedacht, wie herrlich es wäre, wenn diese Sprachvirtuosität mit der Einsicht „weniger ist mehr“ hinsichtlich der Vielzahl an Schicksalen und einem somit ermöglichen tieferen Einblick verbunden worden wäre. So blitzt die Tiefe nur ab und zu durch und geht inmitten von zu viel „Wer mit wem“ unter.

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Veröffentlicht am 25.11.2021

Spannendes Thema, stilistisch zu distanziert umgesetzt

Sehnsucht nach Shanghai
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Ich habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über ...

Ich habe vor diesem Buch noch nie von Emily Hahn, der amerikanischen Journalistin, welche 1935 acht Jahre in China lebte, gehört, war vom Klappentext gleich fasziniert und freute mich darauf, mehr über diese aufwühlende Zeit von Chinas Geschichte zu erfahren. Es ist ein ausgezeichnetes Thema für eine Romanbiographie und ich bin froh, einen Einblick in Emily Hahns Leben bekommen zu haben, und finde es ausgezeichnet, daß ihre Geschichte einem hoffentlich breiteren Publikum bekanntgemacht wird.

Vom Informationsgehalt her sind die weniger als 300 Seiten beachtlich, ich habe hier viel gelernt und interessante Einblicke bekommen. Auch die ab und an eingeflossenen Erklärungen zur chinesischen Denkweise, den Kulturunterschieden fand ich interessant - davon hätten es gerne mehr sein können. Dies führt zu einem Punkt, den ich etwas bedauerlich fand: entgegen meiner Erwartungen tauchen wir nicht wirklich tief in Kultur und Geschehnisse ein. Das liegt weniger an einem Mangel an Informationen als an der knappen, ausgesprochen distanzierten Erzählweise. Für eine Romanbiographie werden weder Charaktere noch Atmosphäre lebendig genug. Auch Motivationen, Gedanken werden nur angerissen und fast kühl berichtet. Konflikte werden rasch abgehandelt, Gefühle tauchen aus dem Nichts auf und verschwinden ohne Erklärung. Gerade bei den Dialogen war ich oft irritiert, es werden einige Sätze hineingeworfen, dann bricht der Dialog ab oder wird rasch aufgelöst, bei gegensätzlichen Meinungen reichen zwei Sätze, um den Gesprächspartner umgehend zu überzeugen. Hier fehlt die Tiefe. Symptomatisch fand ich eine Episode, in der Emily aus dem umkämpften Chongqing nach Hongkong kommt. In einer Bar kommt die Barbesitzerin zu Emilys Gruppe, fragt nach der Erwähnung Chongqings: „Wird dort nicht viel bombardiert?“ - Emily antwortet emotionslos: „Es gab jeden Tag einen Luftangriff. Manchmal sah ich Leichen auf der Straße (…). Manche hatten keinen Kopf mehr, manchen quollen die Gedärme aus dem Bauch.“ Es wirkt wie das Vorlesen eines Einkaufszettels, man liest es, aber es kann nicht berühren, wie überhaupt die an sich furchtbaren Kriegserfahrungen so geschildert sind, daß sie den Leser emotional nicht erreichen. Nach Emilys Antwort legt ihr Begleiter den Arm um sie und sie wird umgehend von erotischem Verlangen (!) übermannt, während die Barbesitzerin reaktionslos wieder verschwindet und die ganze Szene unbeholfen, abrupt und etwas unangemessen wirkt.

Der Fokus liegt leider ohnehin sehr auf Emilys erotischen Eskapaden. Ihre Arbeit wird nur am Rande dargestellt, das Buch über die Soong-Schwestern, welches sie berühmt macht, wird kaum beschrieben. Wir erfahren ein wenig über die Vorarbeit, aber dann ist es plötzlich geschrieben und ein Bestseller und ich saß ein wenig verwirrt da und fragte mich, warum dieses Buch so nebenbei abgehandelt wird, während Emilys Bettgeschichten so viel Raum einnehmen. Trotz dieser ausführlichen Behandlung fehlen hier, wie erwähnt, leider oft die tieferen Einsichten. Emilys große Liebe in Shanghai endet irgendwie sang- und klanglos, plötzlich ist sie rasend verliebt in einen andren Mann, ohne daß wir nachvollziehen können, woher diese Liebe - zuerst ging es nur um eine von sehr vielen Bettgeschichten - kam, worauf sie beruht.

Der Stil war allgemein nicht unbedingt mein Fall. Es gibt sehr schöne, poetische und treffende Formulierungen, die ich mehrmals gelesen habe, aber überwiegend fand ich ihn zu schlicht, manche Formulierungen sogar etwas unbeholfen. Positiv ist, daß sich das Buch sehr leicht und locker lesen läßt und die Autorin es geschafft hat, viele komplexe Informationen und Sachverhalte verständlich zu vermitteln. Es wurde auch nie langweilig und ich konnte aus der Lektüre viel mitnehmen. Ein Nachwort blickt gelungen auf das weitere Leben der Hauptcharaktere und gibt ein wenig Einblick in den Schreib- und Rechercheprozeß. Das Sujet ist ausgezeichnet gewählt; wäre die stilistische Umsetzung weniger distanziert und knapp gewesen und hätte die berufliche Seite und Fähigkeiten Emilys mehr berücksichtigt, wäre es für mich ein 5-Sterne-Buch geworden. So hat es mich leider nur teilweise überzeugt.

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Veröffentlicht am 28.09.2021

Eher eine TCM-Einführung

Frei von Angst durch die Heilung der Mitte
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Das Buch ist hochwertig gestaltet, sowohl vom Papier wie auch optisch - einige Bereiche haben farbig unterlegte Seiten, so daß man diese auch beim Durchblättern schnell finden und gleich erkennen kann, ...

Das Buch ist hochwertig gestaltet, sowohl vom Papier wie auch optisch - einige Bereiche haben farbig unterlegte Seiten, so daß man diese auch beim Durchblättern schnell finden und gleich erkennen kann, welchem Thema sie sich widmen, auch an Illustrationen gibt es keinen Mangel. Allerdings waren Letztere für mich teilweise ein Schwachpunkt, dazu später mehr. Vom Buchsatz her ist alles übersichtlich und klar. Wichtige Tips sind auf der Einklappung des hinteren Einbands zusammengefaßt - eine sinnvolle Idee. Der Gesamteindruck ist also ansprechend und gelungen.

Auch vom Schreibstil her ist das Buch prinzipiell erfreulich. Georg Weidinger schreibt eingängig und verständlich - manchmal für meinen Geschmack zu simplifiziert und teilweise wiederholend. Es liest sich angenehm und es gibt gute Formulierungen, die teilweise mir Bekanntes treffend ausdrücken und mir Neues gelungen vermitteln. Im Vorwort wird der Aufbau des Buches und die ihm zugrunde liegenden Prinzipien gelungen vermittelt. Hier erwähnt der Autor auch, daß seine Zeichnungen "künstlerisch von fraglichem Wert" sind, zur Visualisierung dienen und auch ein Lächeln ins Gesicht zaubern sollen. Das ist charmant formuliert und ein wenig visuelle Auflockerung kann einem Sachbuch - besonders, wenn es ein so ernstes Thema behandelt - guttun. Meinem persönlichen Geschmack entsprachen die Bilder nicht, was aber letztlich nicht so wichtig ist. Allerdings waren es viel zu viele dieser Zeichnungen, oft völlig unnötig und in ihrer Häufigkeit und Gestaltung eher ablenkend und irritierend. Mir kam es häufig wie Seitenzahl-Aufpolsterung vor. Gerade die Zeichnung, welche die Prinzipien der TCM illustriert, wird ständig ziemlich groß wiederholt. Bei den Zeichnungen wäre weniger mehr gewesen.

Der Autor erklärt sein Prinzip, sowohl auf westliche wie auf östliche Medizin zu bauen, die einzelnen Komponenten komplementär zu benutzen. Das gefällt mir sehr gut und war auch der Aspekt, der mein Interesse für das Buch geweckt hat. Er weist auch deutlich darauf hin, wann man drastischere Maßnahmen ergreifen muß.

Der erste Abschnitt des Buches erklärt, wie Angst entsteht, wie sie zur Angststörung werden kann und was in Gehirn und Körper vorgeht. Das ist gut erklärt, auch wenn es jenen, die sich mit dem Thema schon ein wenig beschäftigt haben, nichts Neues offenbaren wird und ein wenig an der Oberfläche bleibt. Die Möglichkeiten der Schulmedizin werden ebenfalls recht knapp und oberflächlich dargelegt. Gut fand ich die Vorstellung verschiedener Heilpflanzen - auch wenn die Information zur Zulässigkeit von Kava-Kava in Deutschland falsch ist, weil sie den 2019 erfolgten Widerruf der Zulassungen nicht erwähnt. Bei einem 2021 erschienenen Buch, daß diesem Thema explizit Raum widmet, fand ich das seltsam.

Danach widmet sich der Autor sehr ausführlich der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) - dies nimmt die Hälfte des Buches ein. Das Prinzip wird zunächst detailreich dargelegt - wesentlich ausführlicher als die Erklärungen zur Angst. Diese Gewichtung finde ich nicht gelungen. Um die relevanten Grundprinzipien zu erklären, hätte es wesentlich weniger Raum (und weniger Wiederholungen) gebraucht. Dies ist einer meiner Hauptkritikpunkte am Buch. Ich habe recht wenig Neues über Angst und ihre Behandlung erfahren, dafür viel zu viel über TCM. Hinzu kam, daß mir die Erklärungen der TCM etwas abstrus vorkamen und leider nicht erwähnt wurde, worauf diese Meinungen beruhen. (Eine genauere Internetrecherche zeigte dann, daß es keinerlei wissenschaftliche Basis für TCM gibt). Erklärungen wie "In jedem Organ lebt ein Geist. Das Organ ist sein Zuhause. Dabei ist das Organ aus der Substanz Yin aufgebaut. Am liebsten liegen die Geister in der Badewanne. Ist diese mit Blut vollgefüllt, fühlen sich die Geister am allerwohlsten" und die Behauptung, die Niere würde sich unwohl fühlen, wenn man nicht warm frühstücke, wodurch Ängste entstehen, sind mir persönlich zu wenig nachvollziehbar, auch wenn die TCM durchaus ihre Vorteile haben mag (meine Erfahrungen mit Akupunktur sind ausgezeichnet). Letztlich entsprechend die Ratschläge, die der Autor aus der TCM zieht, bis auf einige für mich nicht nachvollziehbare Punkte, denen eines allgemein gesunden, achtsamen Lebensstils. Das wäre auch mit einer erheblich knapperen TCM-Einführung und weniger wiederholenden Abschnitten über in Blutwannen sitzende Geister vermittelbar gewesen.

Letztlich muß ich sagen, daß ich für mich aus dem Buch nur wenige Erkenntnisse ziehen konnte. Gerade die Empfehlungen für die "Heilung der Mitte" entsprechen überwiegend ohnehin meinem Lebensstil und hatten für mich zu viel von Allgemeinplätzen. Allerdings ist das meine rein persönliche Erfahrung; es sind für viele Angstpatienten sicher hilfreiche Einsichten - hier hängt es sehr von der persönlichen Situation und bisherigen "Angstkarriere" ab. Ich hatte mir eine tiefgehendere Betrachtung erwartet, einige für mich neue und relevante Informationen, einige Alltagstips, vielleicht auch eine etwas psychologischere Betrachtung. Hinzu kommt, daß mir die Allgemeininformationen über TCM zu ausführlich und die über Angst und ihre Behandlung zu knapp waren. Wer mehr an TCM interessiert ist und zum Thema Angst noch nicht so viel gelesen und ausprobiert hat, wird hier aber sicher viele eingängig erklärte Informationen und Tips finden. Sinnvoll ist auch die vom Autor entwickelte Pyramide der Behandlungsformen, in der die einzelnen Komponenten aufeinander aufbauen und so eine Gesamtheit bilden, die durch einen achtsameren Lebensstil dazu führt, leichtere Angststörungen gut in den Griff zu bekommen.

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Aufschlussreich und lebhaft, aber mit zu vielen Wiederholungen

Introvertiert - Die leise Revolution
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Linus Jonkmann widmet sich einem interessanten Thema, das allmählich ein wenig mehr Beachtung findet: Introvertierte in einer extrovertierten Welt, und er tut dies auf lebhafte, anekdotenreiche Weise. ...

Linus Jonkmann widmet sich einem interessanten Thema, das allmählich ein wenig mehr Beachtung findet: Introvertierte in einer extrovertierten Welt, und er tut dies auf lebhafte, anekdotenreiche Weise.

Beim ersten Blick auf das ziemlich kleinformatige Buch war ich von der Gestaltung eher enttäuscht, auch wenn der Einband angenehm reduziert ist und ein sehr passendes Motiv hat. Titelbild und Klappentext sind viel zu nah am Buchrücken, was wenig professionell wirkt. Innen ist es übersichtlich, aber nicht unbedingt ansprechend gestaltet – im Gesamten erwarte ich von einem guten Sachbuch neben einem relevanten Inhalt auch eine professionelle Gestaltung.

Der Autor beginnt direkt mit einer Anekdote und setzte damit den Ton für das Buch - fast jeder neue Abschnitt wird mit einer Anekdote eingeleitet. Dies ist eine gute Methode, eine persönliche Note in das Thema zu bringen und es aufzulockern. Bemerkenswert ist, wie offen der Autor über sich selbst, seine Erfahrungen und auch Rückschläge berichtet. Das macht sympathisch und schafft auch eine Verbindung, sicher jeder Introvertierte wird beim Lesen viele „Ja, das kenne ich!“-Momente erleben. Der Schreibstil ist betont locker, mit zahlreichen Verweisen auf Populärkultur. Letzteres war mir manchmal zu viel, ich hätte zudem mehr Beispiele aus dem Geschäftsleben vorgezogen, das ist aber reine Geschmackssache.

Die Übersetzung liest sich größtenteils ebenfalls flüssig, aber ziemlich häufig wurden Ausdrücke verwendet, die es im Deutschen so nicht gibt und die mir oft dem Englischen entnommen zu sein scheinen. Es holperte doch an mehreren Stellen bei der Übersetzung, so war ich etwas verwundert, daß Johnkman seinen Großvater als „handlich“ bezeichnet, bis der Zusammenhang darauf hinwies, daß es eventuell „handwerklich begabt“ sein könnte. Mehr Sorgfalt beim Übersetzen und Korrekturlesen wäre wünschenswert gewesen. Lobenswert sind dafür manche Fußnoten, die Verweise und Bedeutungen erklären, die dem deutschen Leser vielleicht nicht so bekannt sind wie dem schwedischen Leser. Auch was Marken- und Ortsnamen, sowie Verweise auf Personen angeht, scheint die Übersetzung sich zu bemühen, den Bezug zu Deutschland zu schaffen. Das ist manchmal gelungen, manchmal wirkt es übertrieben. Wenn der Schwede Jonkman sich laut Text als Eisbrecher in Berlin „für meinen Sprachfehler, den schwäbischen Dialekt“ entschuldigt, dann wirkt das irritierend. Hier sollte man dem Leser doch mehr zutrauen und den entsprechenden schwedischen Akzent hinschreiben anstatt derart verkrampft und unstimmig zu lokalisieren. Auch grammatikalische Fehler stören den Lesefluß an mehreren Stellen.

Erfreulich sind die vielen Beispiele, wie sich Introversion äußert, welche Auswirkungen sie haben kann, welche Unterschiede zur Extroversion bestehen und zu welchen Missverständnissen es beim Zusammentreffen von Introvertierten und Extrovertierten kommen kann. Hier gab es vieles, das ich wiedererkannte, zahlreiche erhellende Momente. Linus Jonkman gelingt es hervorragend, ein facettenreiches, lebhaftes Bild der Introversion zu malen und dem Leser zu ermöglichen, sich selbst besser zu verstehen und auch erleichtert zu erkennen: „Das ist also gar nicht so unüblich.“ Gerade hier helfen die bereits erwähnten persönlichen Bezüge. Untermalt wird dies mit Studien und Hintergrundinformationen. Diese kamen mir ein wenig zu kurz, waren aber interessant und gut verständlich geschildert. Trocken wird das Buch nie. Ein ausführlicher Quellenabschnitt listet unter prägnanten Stichworten zahlreiche Studien und ihre Fundstellen auf. Das hat mir ausgezeichnet gefallen - es war übersichtlich und gab die Möglichkeit, nach weiteren Informationen zu suchen, wenn man zu einem Thema mehr wissen möchte.

Ein Punkt, der mich aber leider sehr gestört und mir das Lesevergnügen zunehmend geschwächt hat, waren die zahlreichen Wiederholungen. Manche Fakten erfahren wir vier oder fünf Mal und es gab Abschnitte, bei denen ich schon genau wußte, wie die nächsten Sätze lauten würde. Diese ständigen Wiederholungen waren störend und machten die Lektüre auch zunehmend langweilig, weil man bereits Gelesenes immer wieder präsentiert bekam. Eines von vielen Beispielen: Auf Seite 42: „Eine schwarze Frau weigerte sich, ihren Sitzplatz an einen Weißen abzugeben, wie es das Gesetz vorschrieb. Rosa Parks, wie die Frau genannt wurde, wurde zu einem Symbol der Veränderung, das das nächste Jahrzehnt durchdrang.“ Auf Seite 176: „Eine kleine, unscheinbare Dame namens Rosa Park entschied sich, der Norm zu trotzen. Sie weigerte sich, ihren Platz an einen Weißen abzugeben, obwohl das Gesetz sie dazu verpflichtete.“ Solche Wiederholungen kamen zu häufig vor, auch hat Jonkman die Angewohnheit, sieben Sätze zu schreiben, wo einer reichen würde (was interessant ist, da er immer wieder sehr hervorstellt, daß Introvertierte sich fundiert auf das Wesentliche beschränken, während Extrovertierte dazu neigen, viele Worte um wenig Inhalt zu machen). Das machte das Lesen für mich ziemlich anstrengend, das Buch machte auf mich oft den Eindruck eines überschwänglichen Redeschwalls.

Bedauerlich fand ich auch, daß Jonkman am Ende zwar empfiehlt, als Introvertierter über den eigenen Schatten zu springen und für gute Leistungen/Projekte auch die entsprechende Öffentlichkeit zu suchen, allerdings nicht erwähnt, wie man dies als Introvertierter gut machen kann. Nachdem er sehr ausführlich – und zutreffend – darüber berichtet, wie schädlich es sein kann, gegen die eigene Natur zu leben/arbeiten, wären einige Informationen dazu, wie er selbst diese Gratwanderung erfolgreich schaffte, erfreulich gewesen, es finden sich hier nur gelegentliche Nebenbemerkungen. Nun verspricht das Buch solche Hilfestellungen allerdings auch nicht, es geht darum, zu beschreiben, wie Introvertierte „ticken“, aber wer sein Buch mit einer solchen Aufforderung beendet, sollte diese dann nicht einfach in der Luft hängen lassen.

So muß ich leider sagen, daß mich das Buch nicht durchweg überzeugte. Wer eine lebhafte Beschreibung des introvertierten Wesens möchte und sich nicht an zahlreichen Wiederholungen stört, wird hier sehr viel Interessantes finden. Ich fand die erwähnten Mängelpunkte sehr störend, auch wenn ich immerhin viele aufschlußreiche Informationen aus dem Buch mitnehmen kann.

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Veröffentlicht am 27.07.2021

Einfallsreich, aber mir zu konstruiert

Das letzte Bild
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Anja Jonuleit legt ihrem Buch den bis heute ungeklärten Fall der sog. Isdal-Frau zugrunde, einer 1970 gefundenen Frauenleiche, deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte. Das ist als Idee gelungen ...

Anja Jonuleit legt ihrem Buch den bis heute ungeklärten Fall der sog. Isdal-Frau zugrunde, einer 1970 gefundenen Frauenleiche, deren Identität bis heute nicht geklärt werden konnte. Das ist als Idee gelungen und die Autorin strickt um diesen Fall eine einfallsreiche Geschichte, bindet die tatsächlichen Ermittlungsergebnisse in eine fiktive Handlung ein. Vor den Kapiteln finden sich Zitate aus tatsächlichen Zeitungsartikeln über die Isdal-Frau, was den Einbezug realer Fakten noch verstärkt und Hintergrundinformationen liefert. Auch dies hat mir gefallen.

Wir begleiten Eva, die ein Foto der Isdal-Frau in der Zeitung sieht und eine fast unheimliche Familienähnlichkeit entdeckt, woraufhin sie sich aufmacht, das Rätsel zu lösen. Ihre 2019 stattfindenden Ermittlungen wechseln sich mit Abschnitten aus dem Leben Marguerites ab, die zwischen 1954 und 1970 spielen. Diese Erzählweise auf zwei Zeitebenen ist Standard in Geschichten, in denen Familiengeheimnisse erforscht werden und somit nicht unbedingt originell, erfüllt aber ihren Zweck.

Der Schreibstil ist erfreulich und liest sich angenehm. Ich habe zu Beginn gleich nach weiteren Büchern der Autorin gesucht, weil er mir so gut gefiel. Der Spannungsbogen ist zu Beginn gelungen, ich habe gebannt gelesen, um zu erfahren, wie alles zusammenhängt, welche Spuren weiterführen und was sich hinter dem Fall verbarg. Auch die historische Komponente, die durch Einbindung des Lebensborns und Norwegen während des zweiten Weltkriegs erfolgt, gefiel mir gut. Marguerites Abschnitte waren allerdings von Anfang an für mich ein Schwachpunkt. Dies beginnt schon damit, daß Marguerite bei Nachforschungen zu ihrer Familiengeschichte ständig unerwartete Hilfe bekommt - alle Männer, denen sie zufällig begegnet, scheinen umgehend nur ein Ziel zu haben: ihr bei ihren Nachforschungen zu helfen und sie legen sich allesamt mächtig ins Zeug. Die Beweggründe diese Männer sind nicht nachvollziehbar - Marguerite ist schön und freizügig, gut, aber das reicht als Erklärung für das erhebliche Engagement all dieser Männer nicht aus. Auch sonst muß sie nur irgendwo stehen und schon eilt ihr stets ein Mann zur Hilfe. Das wurde zunehmend unglaubwürdiger und auch abgenutzter. Dann kommen ihr zudem zahlreiche Zufälle zur Hilfe, die teilweise schon sehr weit hergeholt sind. So lernt sie - auf recht konstruierte Weise - zufällig genau den einen Mann in Europa kennen, der ihr dann eine Postkarte von einer kleinen, unbekannten Kirche schickt, die genau einem jener wenigen Familienbilder entspricht, die sie hat, und ihr damit unbeabsichtigt einen wichtigen Hinweis gibt. Auch Eva kommt bei ihren Nachforschungen ständig der Zufall zur Hilfe, so telefoniert sie zufällig genau im richtigen Moment mit jemandem, der zufällig erst kurz zuvor genau das benötigte Nischenwissen erlangt hat. Ich fühlte mich beim Lesen häufig etwas auf den Arm genommen und das hat mir das Lesevergnügen zunehmend verdorben.

Auch der Spannungsbogen ließ nach. Die Autorin verliert sich häufig in irrelevanten Details, gerade Marguerites Leben ist zu Beginn nicht nur konstruiert, sondern auch eher langweilig zu lesen. Die jeweiligen Nachforschungen der beiden Frauen werden ausgesprochen detailreich und mit mehreren Wiederholungen beschrieben und es gab letztlich für meinen Geschmack auch zu viele Ansätze, die das Buch überfrachteten. Das mag realistisch sein, liest sich aber etwas zäh. Unglaubwürdig fand ich zudem, daß so gut wie alle aufgesuchten Personen umgehend bereitwillig alles Relevante erzählen und, egal wie alt sie sind, alle ein bemerkenswertes Gedächtnis haben. Wie Marguerite trifft auch Eva auf mehrere Leute, die keine Zeit und Mühen scheuen, für sie zu ermitteln. Ich fand die Vorgänge zunehmend weniger nachvollziehbar und habe in immer kürzeren Abschnitten gelesen.

Die Geschichte, die sich letztlich offenbart, ist ausgefeilt, gut ausgedacht und berücksichtigt die tatsächlichen Ermittlungsergebnisse auf bemerkenswerte Weise. Die Reise dorthin liest sich häufig spannend und gut, die erwähnten Schwachpunkte waren aber zumindest für mich doch störend.

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