Weder die seit einigen Jahrzehnten in Berlin lebende chinesische Schriftstellerin Luo Lingyuan noch die Frau, die im Mittelpunkt des hier zu besprechenden Romans „Sehnsucht nach Shanghai“ steht, waren mir zu Beginn der Lektüre ein Begriff. Je mehr ich las, umso beklagenswerter erschien mir mein Nicht-Wissen, umso erstaunter bin ich, tatsächlich noch nie etwas gehört oder gelesen zu haben über die amerikanische Journalistin und Autorin, die während ihres langen Lebens ungemein produktiv war, die außer zahlreichen Artikeln für „The New Yorker“ auch rund 50 Bücher, fast alle biographisch geprägt, wie ich inzwischen weiß, veröffentlicht hat, von denen einige nach wie vor oder, zum Glück, wieder, wie ich nach weiterführendem Lesen sagen darf, im Druck sind.
Eine unglaublich spannende Frau habe ich dank Luo Lingyuans Roman, in dem sie sich, wie sie in ihrem Nachwort betont, an das reichlich vorhandene Material – Sekundärliteratur wie auch Originalquellen – hält, kennengelernt, jemanden, bei dem man gerne verweilen, über den man immer noch mehr erfahren möchte, denn in der Tat gibt es unendlich viel zu entdecken an der schillernden, oft genug nicht greifbaren Emily Hahn, als die wir sie in vorliegender Geschichte kennenlernen, genauer gesagt während der acht Jahre, die sie von 1935 bis 1943 größtenteils in Shanghai und danach, bis zur japanischen Invasion, auch in der britischen Kronkolonie Hongkong verbracht hatte.
Zunächst allerdings erscheint die leidenschaftliche Weltenbummlerin und Weltbürgerin, von der Roger Angell vom „The New Yorker“ einmal sagte, sie sei „zu Hause in der Welt“, als oberfächliche, irgendwie – aber in Wirklichkeit doch nicht – der vergnügungssüchtigen High Society angehörende Müßiggängerin, die sich mit Leidenschaft von einer Affäre in die nächste stürzte, deren hochgepriesene, allseits bekannte (umso unverständlicher, dass sie so gänzlich an mir vorübergegangen sein sollte!) Liebesgeschichte mit dem hübschen, aber leider verheirateten chinesischen Dichter Zau Sinmay sich über viele Seiten hinweg auf eine rein sexuelle, besessen sexuelle möchte ich präzisieren, beschränkte, mit immer wieder aufs Neue gefasstem Entschluss von Seiten der schönen Emily, genannt Mickey, die Beziehung zu beenden und es sich, genauso regelmäßig, wieder anders zu überlegen. Auch verblüffte mich die Unbefangenheit, ja Unverfrorenheit, mit der die freizügige Amerikanerin, die von Konventionen rein gar nichts hielt, in die Familie des wohlhabenden, attraktiven, bedauerlicherweise aber entscheidungsschwachen und seinerseits sehr wohl Konventionen verpflichteten und den Traditionen seines Volkes anhängenden Geliebten eindrang, dort ganz selbstverständlich einen Platz einnahm, der ihr nicht zustand und sich gar noch mit der charakterstarken Ehefrau des Poeten, die sich in einem dauerschwangeren Zustand befand, so lange wir mit Emily in Shanghai verweilen, anfreundete.
Kurz und gut, nach etwa 100 Seiten war mir die Protagonistin herzlich unsympathisch. Fast war ich geneigt, die Romanbiographie entnervt und gelangweilt beiseite zu legen, als sich das Blatt wendete! Zwar dauerte die schwierige sexuelle Beziehung der beiden, sich, nebenbei gesagt, immer mehr dem Opium ergebenden Egomanen, als die ich sie bis dahin sah, an, aber eine Realität nahm Einzug, die der Reihe nach die anderen, viel ansprechenderen, viel gewinnenderen Facetten der Hauptfigur freilegte, die sie als die mutige, zupackende, loyale und tatkräftige Frau zeigte, die sie eben auch und vielleicht sogar vor allem war!
Als nämlich der 2. Chinesisch-Japanische Krieg im Juli 1937 mit der Invasion der Japaner begann und binnen kurzem auch der Großteil der zu jener Zeit sehr westlich geprägten Stadt Shanghai besetzt und erbarmungslos von den Japanern, die zuvor in der Hauptstadt Nanking ein an Grausamkeit nicht zu überbietendes Massaker unter der Zivilbevölkerung angerichtet hatten, bombardiert wurde, rettete die unerschrockene Amerikanerin die gesamte Familie ihres Geliebten, verschaffte ihr ein Obdach und sorgte persönlich dafür, ihre Besitztümer unter Lebensgefahr aus dem japanisch besetzten Teil des ehemaligen „Paris des Ostens“ herauszuholen. Das leichtlebige Partygirl aus dem ersten, ziemlich dahinplätschernden, Drittel, das zugegebenermaßen gleichzeitig auch einen interessanten Einblick in die bunt gemischte, im wahrsten Sinne internationale Gesellschaft der chinesischen Großstadt in den Dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts zeigte, was wirklich in ihm steckte – und das faszinierte mich immer stärker! Von da an verfolgte ich gebannt ihren weiteren Lebensweg in einem Land, für das die Journalistin eine große Zuneigung hegte, das für sie aber, wie ihr immer bewusster wurde während ihre Leidenschaft für Zau Sinmay verblasste und schließlich ganz verschwand, keine Zukunft bot.
Noch aber war die Rückkehr in die Vereinigten Staaten, auf die vor allem ihre Mutter Hannah drängte, keine Option für sie – zumal sie zunehmend darunter litt, anscheinend nicht schwanger werden zu können. Trotz aller Unangepasstheit, trotz allem Ignorieren der gesellschaftlichen Regeln konnte auch sie das Gefühl, nicht vollständig zu sein ohne Kinder, weil sie die uralte Rolle der Frau, die der Mutter, nicht erfüllen konnte, nicht abschütteln! Dass dieser Wunsch dann doch noch in Erfüllung gehen sollte, gänzlich unerwartet und zu einem gar nicht günstigen Zeitpunkt, wird der Leser in Luo Lingyuans Romanbiographie ebenso erfahren.
Zunächst aber galt es, ihr Versprechen ihrem Verlag gegenüber einzulösen und endlich das Buch über die berühmten „Soong-Sisters“ zu schreiben, drei außergewöhnliche Chinesinnen, von denen die älteste mit einem finanzkräftigen Bankier verheiratet war und die beiden jüngeren mit dem ersten Präsidenten der Republik, Sun Yat-sen, respektive dem nationalistischen Politiker, Revolutionär und Militärführer Chiang Kai-shek. Den guten Beziehungen, die sich die fleißige und nimmermüde Emily Hahn in ihren Shanghai Jahren aufgebaut hatte und nicht zuletzt den Verbindungen, die ihr, inzwischen schon ehemaliger, Liebhaber Zau Sinmay besaß, hatte sie es zu verdanken, dass sie schließlich doch noch an die so hochkarätigen wie unnahbaren Schwestern herankam – und ein hervorragendes Buch zustande brachte, das einen tiefen Einblick nicht nur in das Leben der einflussreichen Schwestern gewährt, sondern darüberhinaus ein Zeitzeugnis höchsten Ranges ist.
„Sehnsucht nach Shanghai“ endet mit Emilys Abreise aus China – doch in der alten Heimat geht, wie die Autorin uns in Epilog und Nachwort wissen lässt, das Abenteuer, das die Amerikanerin zu ihrem Lebensentwurf gemacht hat, unvermindert spannend und ganz Emily Hahns unabhängigem Charakter entsprechend, folgerichtig weiter. „....sie nachzuahmen ist schwierig“, äußert sich Luo Lingyuan in ihren Schlussbetrachtungen, denn „wer vermag schon einer Hochseilakrobatin zwischen zwei Wolkenkratzern zu folgen?“ Aber es lohnt sich allemal, auf Emily Hahns Spuren zu wandeln, mit ihr auf Entdeckungsreise zu gehen, mitten hinein in die Welt, die ihr eigentliches Zuhause war! Das hier besprochene Buch ist ein wunderbarer Anfang!