Informativ, hält aber nicht ganz, was es verspricht
Liebe Mama, ich lebe noch!Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich dieses Buch lesen sollte, denn ich habe schon viele Soldatenbriefe gelesen und oft haben sie mich emotional sehr beschäftigt. Bei diesem Buch kommt noch dazu, daß ...
Ich war mir zuerst nicht sicher, ob ich dieses Buch lesen sollte, denn ich habe schon viele Soldatenbriefe gelesen und oft haben sie mich emotional sehr beschäftigt. Bei diesem Buch kommt noch dazu, daß einige der Briefe von der Ostfront sind, an der die Soldaten Entsetzliches durchgemacht haben. Dann siegte aber die Neugier auf den direkten Blick auf das Kriegsgeschehen und Einbettung der Briefe in die Familiengeschichte des Briefeschreibers Leonhard Wohlschläger. Die Furcht wegen der zu starken emotionalen Berührung hätte ich nicht haben müssen. Es haben mich tatsächlich bisher kaum Soldatenbriefe so ungerührt gelassen wie diese hier. Höchstens Ärger über Leonhard mußte ich manchmal unterdrücken. Dazu später mehr.
Das Buch ist, wie stets bei diesem Verlag, ausgesprochen hochwertig und liebevoll ausgestattet. Es ist eine Freude, es in der Hand zu halten. Die Briefe sind in Schreibmaschinenschrift abgedruckt und setzen sich so sehr angenehm vom restlichen Text ab, es sind auch einige Abbildungen enthalten.
Zu Anfang des Buches erhalten wir Informationen über die Auffindung der Briefe durch den Autor und einige Informationen zur Familie Leonhards. Diese Informationen sind unterhaltsam, denn Leonhards Vater war ein in Wien zu Beginn des letzten Jahrhunderts bekannter Architekt, der später harte Zeiten erlebte. Dies ist lebhaft erzählt und mit einigen geschichtlichen und lokalen Informationen angereichert. Leider ist der Text immer wieder sehr subjektiv gefärbt. So wird die erste Ehefrau des Architekten, die er mit vier Kindern für eine andere Frau verließ und irgendwann finanziell nicht mehr unterstützte, mehrfach als „hasserfüllte Anna“ bezeichnet, was unangemessen und in einem Sachbuch unprofessionell ist. Auch des Autors Abneigung für Leonhard - durchaus nachvollziehbar - kommt immer wieder durch und liest sich in einem Sachbuch unangenehm, abgesehen davon, daß der Autor so dem Leser die Möglichkeit nimmt, sich aufgrund neutraler Fakten selbst ein Bild zu machen. Dieser Mangel an Objektivität scheint auch später immer wieder durch.
Leonhards Briefe waren für mich weniger interessant als der Begleittext. Das liegt daran, daß sie sich im Laufe der Jahre kaum ändern. Leonhard hat sich recht gemütlich hinter der Front eingerichtet, führt den ganzen Krieg über mehr oder weniger die gleichen Aufgaben aus und schreibt deshalb auch immer mehr oder weniger das Gleiche. Im Vergleich zu anderen Briefen von der Ostfront sind Leonhards Briefe ziemlich inhaltsarm und berichten kaum Wissenswertes vom Kriegsgeschehen. Während in Stalingrad unzählige Männer leiden, hungern, die Hölle durchleben und ihre mir aus anderen Büchern/Webseiten bekannten Briefe von unglaublicher Intensität sind, erlebt Leonhard eine Art „Ostfront light“. - An einer Stelle des Begleittextes wird Leonhards Reaktion auf die SS-Verbrechen im Osten erwähnt, aber dieser Brief ist seltsamerweise nicht abgedruckt, dabei wäre das eine interessante Abwechslung zu seinen anderen Briefen und zudem eine wichtige Information gewesen, da es kaum diesbezügliche briefliche Äußerungen von Soldaten zu diesem Thema gibt. Daß er diese Äußerungen in einem Brief gemacht hat, kann der Leser leider ohnehin nicht sicher wissen, ich habe es mir aus den Umständen zusammengereimt. Der Autor verzichtet nämlich durchweg auf Quellenangaben, was ich in einem Sachbuch noch nie erlebt habe und sehr störend fand. Lediglich am Ende des Buches findet sich eine Quellenliste mit mageren sieben Quellen, die einzelnen Aussagen im Buch sind aber nie belegt.
Dieses Ärgernis ist insbesondere deshalb so schade, weil der Begleittext fast durchweg gut geschrieben und informativ ist. Ich habe hier einige neue Fakten erfahren und mir gefiel es, wie diese berichtet, wie Zusammenhänge erklärt wurden. Das liest sich leicht und angenehm. Die Begleitinformationen passen hervorragend zu den Briefen, liefern manchmal wichtige Hintergründe zu den Briefen, stellen manchmal die Gegensätze zu anderen Schicksalen dar. Insgesamt erhalten Leser hier eine facettenreiche kondensierte Darstellung des Krieges an der Front und in der Heimat. Nun sind natürlich auch die Briefe selbst nicht durchweg uninteressant. Zum Organisatorischen, zum Leben direkt hinter der Front, zur Ausbildung und anderen Punkten erfährt man durchaus einige lesenswerte Dinge. Auch Leonhards Gedanken, so unerfreulich sie sind, bieten einen aussagekräftigen Eindruck. So liefert das Buch im Gesamten durchaus gute Lektüre, die nur leider durch die o.g. Mängel häufiger beeinträchtigt wird. Insofern sind die hier vergebenen vier Sterne auch eher knapp erreicht.