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Veröffentlicht am 19.02.2019

Keine Satire, kein Thriller, nur Oberflächlichkeit

Luckiest Girl Alive
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Was bin ich froh, daß ich dieses Buch nun durch habe. Ich habe zwischendurch schon geschaut, wie viele Seiten noch zu bewältigen sind, und wurde nur durch meine Hoffnung auf ein halbwegs sinnvolles Ende ...

Was bin ich froh, daß ich dieses Buch nun durch habe. Ich habe zwischendurch schon geschaut, wie viele Seiten noch zu bewältigen sind, und wurde nur durch meine Hoffnung auf ein halbwegs sinnvolles Ende bei der Stange gehalten.

Angesichts des Covers und des Klappentextes hatte ich mir eine dunkle ausgefeilte Geschichte erwartet, das allmähliche Ans-Licht-Treten der dunklen Geheimnisse hinter der Fassade. Solche Geschichten mag ich ausgesprochen gerne. Bekommen habe ich eine unausgegorene Mischung. Für eine Satire war es nicht bissig genug, für eine Entwicklungsgeschichte fehlte die Entwicklung, die tumbe Oberflächlichkeit einer SATC-Episode wurde abrupt abgelöst von einem platten Schocker.

Hauptperson ist TifAni FaNelli, deren Geschichte wir auf zwei Zeitebenen verfolgen, immer mit abwechselnden Kapiteln, was eine gute Idee ist. In der Gegenwart ist sie achtundzwanzig und so substanzlos, daß sie schnell langweilig wird. Im ersten Kapitel erfahren wir bereits deutlich ihre Maxime: dazugehören um jeden Preis. So hat sich TifAni alles zugelegt, was in Manhattan zum „Dazugehören“ erforderlich ist: einen hippen Job bei einer hippen Frauenzeitschrift, einen Verlobten aus alter vermögender Familie und eine gut gepflegte Eßstörung, denn nur mit Größe 32 und drunter ist man wer. Den Verlobten - der entgegen des Klappentextes nicht adelig ist, schon weil es in den USA keinen Adel gibt - schätzt sie wegen seines Nachnamens und seines Vermögens, den Job wegen seines Prestiges. Sie hat eine ganze Liste an zu beachtenden Verhaltensweisen und während sie einerseits ständig Angst hat, daß man ihr die bescheidenere Herkunft anmerkt, be- und verurteilt sie mit Hingabe alle um sie herum.
Die Autorin hat früher für Cosmopolitan geschrieben und das merkt man eben auch - der Stil ist leicht verdaulich, ohne besondere Tiefe, mit vielen Wiederholungen. Für eine Frauenzeitschrift ganz angenehm, für ein Buch nicht ausreichend. Die Hingabe, mit der immer wieder aufs Neue beschrieben wird, wie TifAni die Aufnahme von Nahrung vermeidet oder innerlich jubelt, wenn sie ihre Kleidung ohne Aufknöpfen ausziehen kann, wirkt schon fast wie eine Anleitung zur Eßstörung, und natürlich pflegen auch in TifAnis Umfeld alle Frauen ähnliche Verhaltensweisen. Es wird keine Gelegenheit ausgelassen, Markennamen zu erwähnen, denn auch in tiefen Beziehungskrisen ist es wichtig, daß der Leser weiß, daß der Verlobte Pradaschuhe trug. Das alles ist weder humorvoll noch satirisch beschrieben und wiederholt sich in allen weiteren Gegenwartskapiteln. Obwohl wir TifAni bereits nach drei Seiten voll begriffen haben (schon alleine weil es nicht viel zu begreifen gibt), geht es 250 Seiten ausführlich so weiter. Ab und an wird auf düstere Geschehnisse in ihrer Jugend hingewiesen, auch das nutzt sich schnell ab, weil sich ansonsten nichts tut.

Die Kapitel, die die vierzehnjährige TifAni durch ihre Zeit in einer prestigereichen Privatschule begleiten, sind zumindest etwas abwechslungsreicher. TifAni ist die Gleiche wie in der Gegenwart - es zählt nur die Akzeptanz durch die „popular kids“, die „richtige“ Kleidung, jedes verlorene Pfund. Jeder, der schon einmal einen amerikanischen Teeniefilm gesehen hat, weiß, wie es weitergeht: die popular kids, deren reiche Eltern ihnen jeden Weg ebnen, sind gewissenlos und nutzen die sich andienende TifAni aus, denken ausschließlich an sich und ihre Bedürfnisbefriedigungen. Das ist alles nicht neu, wenn es auch hier etwas drastischere Formen annimmt. Hier blitzt ab und an eine potentiell interessante Geschichte durch, aber letztlich ist TifAnis Verhalten so wenig nachvollziehbar, daß ich beim Lesen häufig mit den Augen rollte, der Reichtum der popular kids wird, passend zum restlichen Stil des Buches, beständig erwähnt und das Nicht-Essen findet selbstverständlich reichlich Raum. Subtilität gehört nicht zum Repertoire der Autorin.

Nach den oben erwähnten 250 Seiten mit den ewig gleichen Themen, ohne Charakterentwicklung, fast ohne Handlung, kommt dann das dunkle Ereignis recht plötzlich und ziemlich platt erzählt. Zu dem Zeitpunkt war ich von dem dahinplätschernden Buch ohnehin schon so genervt, daß es mir ziemlich egal war, was nun geschah. Die Autorin schaffte es, meine ohnehin schon kaum noch vorhandenen Erwartungen noch zu unterbieten. Nach also wirklich schockierenden Ereignissen mit zahlreichen Todesfällen zeigt sich, daß TifAni keinerlei Entwicklung durchgemacht hat. Egal, wer alles grausam gestorben ist, für TifAni geht es weiterhin nur um ihre gesellschaftliche Weiterentwicklung, ihre Anerkennung. Dies wird noch plakativ und albern untermalt durch die Erleuchtung, die sie beim Anblick einer Frau mit Pradahandtasche ereilt. (Wer es noch nicht wußte: Prada macht unverwundbar und erfolgreich. Ist mir bei meiner Handtasche zwar noch nicht aufgefallen, aber vielleicht geht es nur in Kombination mit den anderen unverzichtbaren Faktoren.) Nicht nur TifAnis Verhalten ist so unglaublich, daß das Weiterlesen keinen Spaß macht, auch das ihrer Eltern ist schlichtweg absurd. Das Oberflächliche gleitet ab ins Lächerliche. Das Ende reißt es dann tatsächlich noch ein klein wenig raus und man bekommt das Gefühl, daß es eine gute Geschichte hätte sein können, wenn sie gut erzählt worden wäre. So aber erstickt Potential unter Schichten platter Oberflächlichkeit.

Veröffentlicht am 15.02.2019

Interessante Geschichte, unangenehmer Stil

Gretchen
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In Gretchen erzählt Ruth Berger die Geschichte der Susanna Margaretha Brand (1746 - 1772), indirekt berühmt geworden als Inspiration für Gretchen in Goethes Faust. Durch die Gretchentragödie ist es Goethe ...

In Gretchen erzählt Ruth Berger die Geschichte der Susanna Margaretha Brand (1746 - 1772), indirekt berühmt geworden als Inspiration für Gretchen in Goethes Faust. Durch die Gretchentragödie ist es Goethe gelungen, die jahrhundertealte Sage um Faust um eine wesentliche Komponente zu bereichern und Gretchens letzte Szene im Kerker gehört zu den eindringlichsten des ganzen Stückes. Susanna Margaretha Brand hätte auf diesen Ruhm sicher gerne verzichtet, begründet er sich doch darin, daß sie als Kindsmörderin verurteilt und hingerichtet wurde.

In Ruth Bergers Buch erwacht Susanna zum Leben, wird dem Leser gelungen nahegebracht. Wir lernen eine junge Frau kennen, die sich nicht so leicht etwas sagen läßt, die auch mal Widerworte gibt, einen starken Willen hat. Das ist im späten 18. Jahrhundert schon ausreichend für einen schlechten Ruf und so ist sie auch ständig im kritischen Blickfeld ihrer zwei älteren Schwestern und gleich mehrerer Frankfurter. Susanna arbeitet in einer Herberge und ihr Umfeld, ihr Leben werden detailreich und gut beschrieben. Man bemerkt das fundierte historische Wissen der Autorin und ihre sogfältige Recherche zu Susanna. Zahlreiche Informationen über Arbeit, Lebensumstände und überhaupt das alte Frankfurt werden meist gut in die Geschichte eingeflochten. Manchmal wirken die Informationen leider auch etwas hineingezwungen, als ob nun dieses Detail unbedingt erwähnt werden mußte, auch wenn es mit der Geschichte überhaupt nichts zu tun hat. Im Ganzen aber hat es mir gefallen, wie viel ich hier auch über Frankfurt lernen konnte. Susanna ist ein interessanter Charakter; diese junge Frau, die sich ständig gegen ihren schlechten Ruf beweisen muß, die einerseits hofft, endlich ein wenig zur Ruhe zu kommen, andererseits aber auch von einem aufregenderen Leben träumt. Ruth Berger bringt sie uns gut nahe, und auch wenn man weiß, welch schreckliches Ende Susanna nehmen wird, drückt man ihr gegen besseres Wissen ständig die Daumen, weil sie den Leser anrührt.

Leider aber hatte das Buch einige - jedenfalls für mich so empfundene - Schwächen. Eines ist die Einbindung für die Geschichte nicht relevanter Charaktere, die das eigentliche Geschehen unterbrechen und nichts zum Buch beitragen. Dies sind zum einen die Gebrüder Senckenberg, denen hier viel Raum gewidmet wird, obwohl sie allerhöchstens marginal mit dem Fall zu tun. Lesern, denen die Senckenbergs nicht bekannt sind, werden zudem wesentliche Hintergrundinformationen fehlen, um überhaupt zu verstehen, worum es hier geht. Die Abschnitte gehörten zu den uninteressantesten Passagen des Buches und wie bei manchen historischen Details hatte ich auch hier das Gefühl, als ob die Senckenbergs eben unbedingt erwähnt werden sollten, obwohl sie eigentlich keine Rolle in der Geschichte spielen.
Ähnlich empfand ich ausgerechnet bei den Szenen um die Familie Goethe. Nun lese ich als Goethefan eigentlich immer mit Vergnügen über ihn, und hatte mich auch gefreut, ihm hier als Romanfigur zu begegnen. Leider war dies enttäuschend. Goethe selbst taucht erst zum Ende des Buchs auf, weil er erst in Frankfurt eintraf, als die Ermittlungen gegen Susanna Brand begannen, der Roman aber auch ihre Vorgeschichte behandelt. Um aber die Familie Goethe schon vorher einzubinden, greift Ruth Berger auf nichtssagende Szenen rund um Goethes Schwester Cornelia zurück, die wenig mehr tut, als zu überlegen, welcher der Männer in ihrem Umfeld noch zu haben ist, und auf Spaziergängen nichtssagend mit Freundinnen zu plaudern. Hier erfolgt dann eine konstruierte Szene, in der Susanna Brand an ihr vorbeigeht. Die Szene hat keinen Sinn, außer wohl die Goethes hier schon krampfhaft in die Geschichte einzubinden. Auch nach Erscheinen des künftigen Dichterfürsten bleiben die Goetheszenen eine Schwäche des Buches. Goethes Situation zu dieser Zeit wird in lieblosen Passagen geschildert, seine Erleuchtung, daß Susannas Geschichte sich gut im Faust machen würde, kommt uninspiriert und plötzlich. Weitaus mehr Raum wird Cornelias beginnender Romanze mit ihrem späteren Ehemann gewidmet. Das lenkt von der Geschichte der Susanna Brand ab (sogar in der Hinrichtungsszene geht es immer wieder um Cornelia Goethe).
Es hätte dem Roman wesentlich besser zu Gesicht gestanden, wenn er sich auf die eigentliche Geschichte konzentriert hätte, ohne dauernd auf diese Seitenschauplätze abzuschweifen. Die Inspiration für Goethe hätte man dann auch kurz in einem Nachwort erwähnen können.

Mein anderes Problem mit diesem Buch liegt im Schreibstil. Fast durchweg ist dieser ausgesprochen betulich. Es sollte wohl der volkstümliche Charakter Susannas und ihrer Umwelt widergespiegelt werden. Anstatt dies auf die wörtliche Rede zu beschränken, was ein gelungenes Mittel gewesen wäre, lesen sich die meisten Passagen nun wie von einem Menschen ohne literarisches Können geschrieben. Susanna ist durchweg „die Susann“, sowie ihre Schwester „die Dorette“ ist, der Hausdiener „der Bonum“, und da haben wir dann Sätze wie „Die Dorette redet immer noch auf die Susann ein“. Da geht „das Ännchen“ mit „der Ursel“ und hat Sorge, daß „der Niklaus“ schimpfen wird mit ihr (auch solche etwas seltsame Satzstellungen sind im Text üblich). Ein „sie“ oder „er“ wird häufig unnötig erklärt, so daß man sehr viel „sie, die Susann,“, „sie, die Dorette,“ und ähnliche Einschübe liest, auch wenn aus dem Text ohnehin hervorgeht, wer mit „sie“ gemeint ist. Das ist richtig schlechter Stil. All dies hat mir zumindest das Lesevergnügen ziemlich verdorben. Die Autorin kann es durchaus anders, das klingt immer wieder mal durch. Es gibt sehr schön und eindringlich formulierte Sätze, die mich erahnen ließen, wie gut dieses Buch hätte sein können.

Der Stil und überhaupt die Erzählweise sorgen dann auch an manchen Stellen dafür, daß es sich albern liest. Wenn die Angewohnheit mancher Charakter, Sätze mit „gelle“ zu beenden, dann auch in den Erzähltext einfließt, zieht es den Text ins Alberne. In der doch eigentlich traurigen Szene, kurz bevor Susanna gefaßt wird und ihr Leben verwirkt, wird beschrieben, wie der Wachsoldat Susanna erblickt „…ei, da passt ja glatt die Beschreibung von der gesuchten Mörderin drauf auf das Mädel hier! Eigentlich müsst er die jetzt anhalten, gell. Andererseits, lächerlich will er sich auch nicht machen.“ Und so geht es dann weiter und nimmt der Szene, dem Schicksal Susannas den Ernst. Dies kommt immer wieder vor. Nachdem Susanna ihr Baby bekommen hat, beginnt eine langwierige alberne Szene, in der ihre beiden Schwestern (die ohnehin etwas lächerlich dargestellt werden) wie in einer 70er Jahre Komödie hysterisch immer wieder zwischen drei Schauplätzen hin und her rennen, um herauszufinden, was eigentlich genau passiert ist. Ich hätte von einem guten Buch erwartet, mir nahezubringen, wie Susanna gerade körperlich und seelisch leidet, welche Angst sie hat, welche Sorgen die Schwestern sich um die Implikationen machen. Es sind traurige Geschehnisse um den Tod eines Neugeborenen und einer jungen Frau, die völlig ohne Unterstützung einer bigotten Gesellschaft ausgeliefert ist, aber ihnen wird durch den Stil der Ernst genommen. Später im Buch steht „So mancher allerdings fand die frivole Formulierung dem Anlass nicht angemessen,“ und ich fragte mich, ob die Autorin die Ironie dieser Bemerkung eigentlich erkannt hat. Denn auch hier sehen wir, daß sie es durchaus besser kann - in späteren Szenen wird Susannas Angst, Verzweiflung, Ausweglosigkeit ausgezeichnet geschildert. Die Hinrichtungsszene ist eindringlich und sehr gut. Diese Würde hätte man der Geschichte Susannas das ganze Buch über zugestehen sollen.

So bleibt ein Buch, das uns Susanna als Mensch und in ihrer ausweglosen Situation, die damalige Gesellschaft und Lebensumstände gut nahebringt, dies aber leider an vielen Stellen durch den Stil und Unnötiges wieder verdirbt.

Veröffentlicht am 13.02.2019

Ein historischer Anfang

Willy Brandt in Erfurt
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Es gibt Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die sofort Emotionen hervorrufen, bei denen ein Bild reicht, um sie zu vermitteln. So Brandts Kniefall in Warschau oder Genscher in der Prager Botschaft. ...

Es gibt Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die sofort Emotionen hervorrufen, bei denen ein Bild reicht, um sie zu vermitteln. So Brandts Kniefall in Warschau oder Genscher in der Prager Botschaft. Oder eben Willy Brandts Besuch in Erfurt, die jubelnden Menschen, sein Erscheinen am Fenster. Ich war zu der Zeit noch nicht einmal geboren, denke daran aber mit der gleichen Bewegung wie bei Genschers Rede in der Prager Botschaft. Immer, wenn ich in einem Zug sitze, der in Erfurt hält, betrachte ich den „Erfurter Hof“ direkt gegenüber vom Bahnhof, mit dem legendären Fenster. Über Jahre verfolgte ich traurig, wie das Gebäude vor sich hin verfiel. Nun ist es wieder schön hergerichtet und eine große Schrift „Willy Brandt ans Fenster“ erinnert an jenen denkwürdigen 19. März 1970.

Dieses Buch berichtet die Vorgeschichte, den Verlauf und die Nachwirkung des Treffens zwischen Willy Brandt und Willi Stoph, welches selbst keine konkreten Ergebnisse erbrachte, aber den Beginn der deutsch-deutschen Gespräche markiert. Die Vorgeschichte, erste Kontaktaufnahmen und Verhandlungen, nimmt hier mit 180 Seiten einen wesentlich größeren Raum ein als das eigentliche Treffen. Minutiös wird hier berichtet, wer wann mit wem sprach und welche Punkte diskutiert und verhandelt wurden. Dies ist mir manchmal etwas zu ausführlich, mit genauen Zeitangaben, Fahrtrouten, Mittagsmenüs, Arten der Begrüßung und anderem. Dadurch wird einerseits gut aufgezeigt, in welch vorsichtig-angespannter Art diese Vorbereitungen verliefen, welch große Folgen eine kleine Nebenbemerkung haben konnte, manchmal wird es aber inmitten der ganzen Detailverliebtheit ein wenig zäh zu lesen. Dies ist allerdings der einzige kleine Kritikpunkt, den ich an diesem Buch habe. Die gegensätzlichen Erwartungen und Vorgehensweisen der Bundesrepublik und der DDR werden hier hervorragend aufgezeigt (und es scheint fast erstaunlich, daß dieses Treffen überhaupt zustande kam), ebenso wie die Einflußnahme der Sowjetunion und auch die außenpolitische Bedeutung des Treffens. Das ist alles klar und gut erklärt.

Der Abschnitt über das Treffen ist naturgemäß der intensivste, emotionalste. Ich kann bis heute den Ortsnamen „Gerstungen“ nicht ohne Erinnerungen und Emotionen lesen und so war die Beschreibung der Zugreise Brandts, des Grenzübergangs auch aus persönlichen Gründen für mich sehr bewegend. Sehr schön fand ich es, daß das Buch auch auf die emotionalen Aspekte hinter der großen Politik eingeht, Brandts Rührung und auch die Gefühle der begleitenden Mitarbeiter beschreibt. Es hat mich beeindruckt und erfreut, daß auch diese gestandenen Politiker den Anlaß mit großen Emotionen erlebten. Die Atmosphäre während des Treffens ist gut dargestellt, man spürt die Befangenheit und kann förmlich mitfühlen, wie vorsichtig Brandt sich verhielt, wie er jede Bewegung, jede Reaktion genau überlegen mußte. Man sieht die Bilder des Jubels, von Brandt am Fenster und ist sich oft nicht bewußt, was alles dahintersteckt. Interessant und erschreckend auch der Bericht über den Besuch in Buchenwald, als die DDR ausgerechnet diesen Moment des Gedenkens nutzte, um Brandt genau dem Zeremoniell, der „Anerkennungspropaganda“ zu unterwerfen, das er vorher ausdrücklich abgelehnt hatte.

„Mit Repressalien wird gerechnet“

Sehr gut wird beschrieben, welches Nachspiel die Sympathiekundgebungen der Bevölkerung in Erfurt für Willy Brandt hatten. Zuerst beordert das Regime instruierte Staatsjubler zum Bahnhofsvorplatz, so viel Angst hatte es vor der Meinung seiner unterdrückten Bürger, dann wird umgehend damit begonnen, diejenigen, die Brandt zujubelten, zu identifizieren, zu verhaften. Wie gründlich vorgegangen wurde, kann man hier anschaulich lesen, wie überhaupt die Atmosphäre der ständigen Überwachung, der Abhörung und der nervösen Bestrebungen, freie Meinungsäußerung zu verhindern, sehr gut geschildert wird.

So liefert dieses Buch sehr gut geschilderte Hintergrundinformationen; zeigt auf, welche Widerstände und Gegensätze überwunden werden mußten, um diesen ersten Schritt der Annäherung zu machen. Willy Brandt wurde mir hier nicht nur als Politiker, sondern auch als Mensch nähergebracht, wie überhaupt das Buch die sachlichen und menschlichen Aspekte gelungen verbindet. Das propagandistische und starre Vorgehen der DDR, die Angst vor den eigenen Bürgern, um die eigene Macht, ersteht ebenfalls deutlich von den Buchseiten auf. Angesichts all dieser so gut dargebrachten Hintergrundinformationen kann ich die Bilder von Willy Brandt in Erfurt nun auch mit einer ganz neuen Würdigung jener betrachten, die sich für diese Annäherung engagierten.

Veröffentlicht am 10.02.2019

Fulminant

Als das Leben vor uns lag
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"Über den Erinnerungen an die Vergangenheit liegt ein schrecklicher Schatten."

Es gibt Bücher, bei denen man während des Lesens fast ängstlich auf die Seitenzahlen schaut, weil man nicht möchte, daß sie ...

"Über den Erinnerungen an die Vergangenheit liegt ein schrecklicher Schatten."

Es gibt Bücher, bei denen man während des Lesens fast ängstlich auf die Seitenzahlen schaut, weil man nicht möchte, daß sie irgendwann enden. Solch ein Buch ist "Als das Leben vor uns lag". Was für eine unglaubliche Mischung aus Charakteren, Schicksalen, Geschichte!

Von Anfang an ist man ganz in der Geschichte drin. Wir befinden uns in einer spanischen Klosterschule des Jahres 1950. Fünf vierzehnjährige Schulkameradinnen, Freundinnen, spielen ein Pfänderspiel, das zu einer gravierenden Wendung in ihrer Leben führen wird. Die fünf Mädchen sind beeindruckend charakterisiert und die Autorin versteht es meisterhaft, nach und nach Informationen ins Geschehen einzuflechten, durch die wir die fünf besser kennenlernen. Genau dies behält sie auch während des Buches bei, so entblättern sich auf über 300 Seiten allmählich immer neue Aspekte, runden das Bild ständig neu ab. Unvorhergesehene Wendungen gibt es reichlich, alle gekonnt eingebracht. In den ersten Informationen über die Mädchen deutet sich auch schon der geschichtliche Einfluß an - wir befinden uns in Francos Spanien. Ich muß gestehen, daß ich über diese Zeit recht wenig weiß und so gab es viele geschichtliche Informationen, die mich überrascht und entsetzt haben. Ich wußte nicht, wie brutal die Diktatur auch noch nach dem Krieg war, wie groß die Macht des Klerus (sogar ein Frauengefängnis wird von Nonnen geführt). Die Andeutungen und ersten Blicke in das Leben der fünf Mädchen machen also sofort neugierig, der Abschnitt über 1950 endet zudem mit unerklärten Geschehnissen.

Die Geschichte springt vorwärts ins Jahr 1981 und nun ist jeder der fünf, die mittlerweile 45jährige Frauen sind, ein Kapitel gewidmet, welches einerseits die (Rahmen)Handlung weiter fortführt, andererseits aber auch ausführlichere Rückblicke auf das Leben jeder Frau in den Jahren seit 1950 bietet. Die fünf sind sehr verschieden, ihre Erfahrungen entfalten sich zu einem schillernden Panorama Spaniens. Manche sind ausgesprochen interessant, wie Olga, deren Leben absolut leer ist und die nur aus Schein und Selbstbetrug besteht. Obwohl bei ihr am wenigsten passiert, fand ich ihre Geschichte am spannendsten, was an ihrem von der Autorin so wunderbar gezeichneten Charakter liegt. Olga ist kein Sympathieträger, aber sie gehört zu den Unsympathen, über die man gerne liest. Ihre Schwester Marta ist der ruhige See, unter dessen Oberfläche sich viel abspielt. Während Olga uns zeigt, wie das Leben der höheren Tochter verläuft, erfahren wir durch Marta einen interessanten Überblick über die Situation einer berufstätigen Frau jener Jahre. Lola/Lolita dagegen bleibt über das ganze Buch hinweg etwas blaß und ihre Geschichte hat mich nicht so sehr überzeugt. Nina ist hauptsächlich schrille, laute, ordinäre Hülle und die Einzige, bei der sich bis zum Ende hin keine Substanz zeigte. Die fünfte im Bunde ist Julia, damals aufgrund ihrer einfachen Herkunft Außenseiterin und auch jetzt - wenn auch aus anderen Gründen - etwas außen vor. Ihr Schicksal ist am stärksten mit der Geschichte der Franco-Diktatur verwebt und mir stockte beim Lesen oft der Atem.

Es ist kein Buch der dramatischen Geschehnisse - die Handlung selbst findet an zwei Abenden in den Jahren 1950 und 1981 statt und abgesehen von Julias Geschichte sind auch die Lebensrückblicke nicht per se ungewöhnlich. Es sind Dinge, die Frauen dieser Generation - und auch anderer Generationen - häufig erlebten. Ungeplante Schwangerschaft, Vernunftehe, Entfremdung, Bestehen in der Arbeitswelt, Bilanzziehung in der Mitte des Lebens. Und doch kommt bei jeder dieser Frauen noch eine ungewöhnliche, unerwartete Note hinzu, spielt die Geschichte des Landes immer wieder mit hinein. Care Santos berichtet all dies unaufgeregt, manchmal mit einer Prise Humor, die Rückblicke größtenteils ohne Dialoge. Der Stil liest sich angenehm, kurzweilig (abgesehen von einer für meinen Geschmack zu langatmigen Szene im psychiatrischen Krankenhaus). Es gibt ein paar Dialoge, die ich nicht wirklich gelungen fand, ein paar Wiederholungen, aber letztlich habe ich das Buch gebannt gelesen, war gespannt darauf, was als nächstes ans Licht kommen würde, war fasziniert davon, was ich über Francos Spanien lernte. Zu gerne hätte ich diese fünf Frauen noch weiter begleitet, denn auch das Ende bleibt dem Stil des Buches treu und macht neugierig auf weitere angedeute Entwicklungen.

Gerade die Welt von Olga, Marta und Julia hat mir ausnehmend gut gefallen, mich in ihren Bann gezogen. Selten habe ich so viel inneren Anteil an Buchcharakteren genommen und ich kann die so lebensechte, fein gestaltete Charakterbescheibung der Autorin nur noch einmal hervorheben. Ein wahres Leseerlebnis!

Veröffentlicht am 06.02.2019

Zusammenhänge und Hintergründe hervorragend erklärt

Die Besiegten
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Robert Gerwarth hat mit diesem Buch ein detailliertes Werk geschaffen, daß auf eine oft etwas vernachlässigte historische Epoche blickt - die Jahre direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Er konzentriert sich ...

Robert Gerwarth hat mit diesem Buch ein detailliertes Werk geschaffen, daß auf eine oft etwas vernachlässigte historische Epoche blickt - die Jahre direkt nach dem Ersten Weltkrieg. Er konzentriert sich auf die Situation den Ländern, die den Krieg verloren haben und unbeschreibliche Umwälzungen, verbunden mit einer erschreckenden Gewaltwelle, durchleben mußten.

Während mir die Situation in Russland relativ bekannt war, ebenso wie natürlich die Lage in Deutschland, wußte ich bislang sehr wenig über die Nachkriegsjahre in der Türkei, Bulgarien, Ungarn, Polen oder selbst Österreich. Insofern konnte ich hier viel lernen, auch wenn mich nicht alle Länder gleichermaßen interessiert haben. Dies ist aber natürlich nicht dem Buch anzulasten. Auch die Geschichte der russischen Revolution habe ich selten so gut erklärt gelesen. Robert Gerwarth gelingt es nämlich ausgezeichnet, Zusammenhänge und Hintergründe klar zu erklären. So bekommt man teilweise einen ganz neuen Blick auf viele Entwicklungen und deren Auswirkungen auf Jahre und Jahrzehnte hinaus - teils bis heute.

Der differenzierte Blick der Autors hat mir sehr gut gefallen. Es hilft dabei, viele Geschehnisse besser einzuordnen und ebenfalls die "andere" Seite zu sehen, zu verstehen. Gerwarth scheut auch nicht davor zurück, vorgebliche Motive und Doppelmoral darzustellen. Präsident Wilson, der das nationale Selbstbestimmungsrecht und moralische Werte publikumswirksam hochhielt, aber dies nur für Weiße relevant hielt und gleichzeitig im eigenen Land Segregation kräftig unterstützte und die ehemaligen Kolonialvölker für unfähig hielt, sich selbst zu verwalten, ist ein gutes Beispiel.

Das spezielle Klima nach dem Krieg, welches der "Gewaltlogik" die Wege ebnete und in einer unvorstellbaren Ausartung von Gewalt mündete, wird ebenfalls gut beschrieben. Es ist immer wieder erschreckend zu lesen, wie beide extremistische Richtungen Gewalt und Terror gegen Andersdenkende (und auch völlig Unbeteiligte) als legitim ansahen. Ebenfalls interessant, wie Mussolinis Taktik der von ihm initiierten Gewalt auf den Straßen, verbunden mit dem Versprechen, daß unter seiner Regierung wieder Ordnung herrschen würde, aufging und von Faschisten anderer Länder - leider erfolgreich - kopiert wurde. Dies alles wußte ich so ungefähr, es wird aber in diesem Buch klar und gut erklärt.

Manchmal waren die Schilderungen etwas zu detailverliebt für meinen Geschmack, gerade auch, wenn Gerwarth die Geschehnisse Land für Land betrachtet. Letztlich ähneln sich die Vorgänge in vielen Ländern sehr, und so liest man für jedes Land ausführlich Ähnliches, was etwas anstrengend ist. Da Gerwarth die Vorgänge thematisch sortiert, springt er zeitlich in den einzelnen Kapiteln manchmal etwas hin und her. Wenn man mit der Geschichte eines Landes nicht so vertraut ist, ist es etwas irritierend, wenn man eben erst ausführlich von den Geschehnissen bis Sommer 1919 liest, und im nächsten Kapitel plötzlich in den Herbst 1918 zurückgeworfen wird. Es gibt keine Zeitleiste, die die Einordnung vereinfacht hätte. So war trotz der an sich klaren Erzählweise das Lesen manchmal etwas mühsam.

Im Ganzen aber überzeugt der Stil, die Informationen sind wertvoll, die Zusammenhänge beeindruckend erklärt. Ein sehr gelungenes Buch.