Profilbild von Viv29

Viv29

Lesejury Star
offline

Viv29 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Viv29 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.10.2024

Zuerst etwas ziellos, dann sehr berührend

Die Abende in der Buchhandlung Morisaki
0

Dieses Buch bezaubert schon durch den wundervoll gestalteten Einband, dessen Motiv Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlt. Auch haptisch überzeugt der feste, wertige Einband. Der Ort der Handlung, die Buchhandlung ...

Dieses Buch bezaubert schon durch den wundervoll gestalteten Einband, dessen Motiv Wärme und Gemütlichkeit ausstrahlt. Auch haptisch überzeugt der feste, wertige Einband. Der Ort der Handlung, die Buchhandlung Morisaki, ist ein uraltes Antiquariat im Stadtteil Jinbocho der Stadt Tokio. Ich hatte vorher noch nie von diesem Stadtteil gehört und fand es ganz faszinierend, diesen nun kennenzulernen. Schon allein dafür hat sich die Lektüre gelohnt. Die Atmosphäre von Laden und Viertel wird gut eingefangen – wahrscheinlich kennt jeder buchaffine Mensch diese besondere Stimmung, die von alten Antiquariaten ausgeht.

Ich habe den Vorgängerband nicht gelesen, dies schadete aber zum Glück nicht, denn dort, wo auf vorherige Geschehnisse Bezug genommen wird, gibt es entsprechende Erklärungen, so daß man auch als Neueinsteiger die relevanten Zusammenhänge versteht. Das ist gut gemacht. Allerdings sind einem die Charaktere nicht so vertraut und sie werden verständlicherweise nicht so ausführlich eingeführt, wie es wahrscheinlich im ersten Band der Fall ist. So brauchte ich eine Weile, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war – dies ist aber kein Manko des Buches. Die Handlung wirkt allerdings anfangs noch etwas unschlüssig und konnte mich länger nicht fesseln. Es wird viel Belangloses geschildert. Eine Episode, in der die Protagonistin zwei Freunden Schützenhilfe beim Zueinanderfinden leistet, fand ich wenig überzeugend und auch die Beziehung der Protagonistin selbst bleibt blass und uninteressant, ihr Freund ist durchweg farblos. Ich habe mich in der ersten Hälfte oft gefragt, was der Autor eigentlich erreichen, sagen möchte. Auch die Liebe zu Büchern und zum Lesen kam nicht so durch, wie ich anhand des Klappentexts und Themas erwartet hatte.

Auch der Schreibstil überzeugte mich nicht richtig. Er ist schlicht und die Dialoge wirken oft unnatürlich. Wenn man beim Lesen dauernd denkt: „Kein Mensch würde so reden!“, dann spricht das nicht für ein Buch. Allerdings gibt es auch einige wirklich sehr schöne Sätze, und zum Ende hin werden die Dialoge natürlicher. Erfreulich ist, daß das Buch leicht lesbar ist, es eignet sich gut als entspannende Schmökerlektüre.

Im letzten Drittel wurde das Buch dann wesentlich besser und zog mich in seinen Bann. Nun gab es eine wirkliche Handlung, gewannen die Charaktere der Protagonistin, ihrer Tante und ihres Onkels richtig Kontur. Wie erwähnt wurden die Dialoge natürlicher und auch die Emotionen wirkten nachvollziehbarer und authentischer. Es schien fast, als ob der Autor sich da erst wirklich in Form geschrieben hätte. Das erste Drittel hatte einen gewissen Reiz des Neuen, das zweite Drittel ließ mich oft mit einem „Was soll das?“-Schulterzucken zurück und das letzte Drittel ließ mich wünschen, das ganze Buch wäre so gewesen. Hier wird die Geschichte berührend, die Beziehungen zueinander sind nicht wie vorher mit dem Holzhammer geschildert, sondern ganz fein, nuanciert und enorm wirkungsvoll. Die ganze Klaviatur der Emotionen wird meisterhaft gespielt und ja, hier spürte man es dann: die Macht der Worte, der Literatur, der Emotionen und des Zusammenhaltens.

Es ist also in mehrerlei Hinsicht ein ungewöhnliches Buch, das sich zu entdecken lohnt und das seine ganze Schönheit und Kraft zum Ende hin entfaltet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 19.10.2024

Stimmungsvolle Englandreise mit Werbeunterbrechung

Velvet Winter
0

„Velvet Winter – Wintertage wie Samt und Seide“: ein gelungener Buchtitel, der gleich Assoziationen und Erwartungen weckt. Der herrlich gestaltete Einband paßt ausgezeichnet dazu und greift visuell die ...

„Velvet Winter – Wintertage wie Samt und Seide“: ein gelungener Buchtitel, der gleich Assoziationen und Erwartungen weckt. Der herrlich gestaltete Einband paßt ausgezeichnet dazu und greift visuell die Stimmung der Titelworte auf. Die Gestaltung des Buches ist durchweg wertig und macht den auf den ersten Blick hohen Buchpreis angemessen. Ich war von der Haptik des Einbands ganz hingerissen, auch im Buch erfreuen gute Papierqualität und visuell stilvolle Aufmachung.

Im Buch nimmt die Autorin uns – größtenteils – auf eine Reise nach Oxford und in die Cotswolds mit, der m.E. malerischsten Gegend Englands. Dass sich „alles um (…) Samtstoff“ dreht, wie der Klappentext ankündigt, kann man nicht behaupten, an manchen Stellen wirkt die Velvet-Analogie etwas bemüht und ist letztlich auch gar nötig – als Einleitung und gelegentlicher Akzent hätte das Velvet-Motiv vollauf gereicht, um den Titel zu rechtfertigen. Die Einleitung führt auf angenehme Weise zum Thema Samt und Winter. Auch sonst sind die Texte gut lesbar, abgesehen von dem albernen Kunstwort „Studierende“ und gelegentlichem unnötigem Denglisch. Wir erfahren einiges über die Gegend, ihre Spezialitäten, Hotels, Restaurants o.ä., alles in gefälligem Stil und informativ. Hier habe ich einige Anregungen gefunden.

Insgesamt findet sich im Buch, wie der Klappentext auch ankündigt, eine Mischung aus Rezepten, Fotos und Bastelanregungen, der Großteil der Seiten gebührt den Fotos und Rezepten. Es ist – auch wenn ich mit den Bastelideen nichts anfangen konnte – eine angenehme Mischung, die beim Umblättern zu einem interessanten Wundertüten-Gefühl führt, weil man gespannt ist, was einen als nächstes erwartet. Auch ein paar Zitate sind vorhanden. Wie die Texte ist auch die Gesamtkomposition gefällig, nicht zu tiefgehend, angenehm. Ein Bogen beigelegtes Geschenkpapier trägt zum Wundertütengefühl bei. Man kann hier auf eine unterhaltsame Wohlfühlreise gehen.

Die Fotos überzeugten mich nicht vollständig. Es sind sehr viele herrliche, atmosphärische Bilder dabei, welche die Winterstimmung in den Cotswolds oder das Gemütliche in den Lokalen ausgezeichnet einfangen. Auch die Fotos der Gerichte sind ansprechend. Störend fand ich allerdings die vielen Fotos der Autorin selbst, gerne auch mal eine ganze Seite einnehmend. Ein Motiv von ihr auf einem Zaun wird uns gleich zweimal geboten. Abgesehen davon, dass diese Fotos gestelzt wirken, erschließt sich mir nicht, warum die Autorin sich selbst so häufig als Motiv ins Buch setzte – das wirkt selbstverliebt und entspricht zumindest meinen Erwartungen an ein Buch über die winterlichen Cotswolds nicht. Auch einige der Außenmotive ähnelten sich sehr und ein paar der Fotos fand ich selbst für ein englisches Wintermotiv etwas trist. Ich kenne die Cotswolds sehr gut und hier hätte man leicht etwas mehr erreichen können. Bei einigen der Texte, die Szenen beschreiben, dachte ich bedauernd: „Und warum gibt es davon kein Foto?“
Ein weiterer selbstverliebter und sehr dicker Minuspunkt: am Ende des Buches finden sich sechs Seiten (!) Werbung für das Hotel der Autorin (dies also zusätzlich zu der subtileren Eigenwerbung durch vorherige Fotos der Autorin und ihres Hotels). In ein (noch dazu hochpreisiges) Buch derart umfangreiche Werbung einzufügen, ist stillos und geradezu dreist.

Bei den Rezepten erfreute es mich sehr, daß fast alle vegetarisch waren. Richtig toll, daß hier mal gezeigt wird, wie viel man ohne Fleisch und Fisch machen kann! Es gibt einfache, erwartbare Rezepte wie Porridge, Shortbread- und Sauerteigbrotvariationen, aber auch Unerwartetes und Ungewöhnliches. Eine gute, vielfältige Mischung. Ich habe hier manche Ideen gefunden und werde einiges ausprobieren. Unerfreulich ist allerdings, daß hier dem von mir schon oft monierten Trend gefolgt wird, auf Nährwertangaben zu verzichten. Für manche sind diese Angaben notwendig und wichtig – man tut den Lesern keinen Gefallen damit, sie einfach wegzulassen.
Die Fotos der Gerichte sind nicht immer neben den Rezepten, sondern im Buch verteilt. Hier weisen dann Bildunterschriften darauf hin, um welches Gericht es sich handelt und auf welcher Seite das Rezept steht – das ist gut gemacht und bringt mehr Pfiff hinein.

Auch wenn mich die penetrante Hotelwerbung eher davon abhalten wird, zu weiteren Büchern der Autorin zu greifen, und mich nicht alles überzeugt hat, stellt „Velvet Winter“ eine interessante und erfreulich zu entdeckende Reise durch die Cotswolds da, welche sowohl von den Rezepten als auch von den örtlichen Besonderheiten manch neue Facette für mich eröffnete.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 25.09.2024

Unterhaltsam und interessant, aber stilistisch nicht ganz überzeugend

Wallis Simpson
0

Das Leben der Wallis Simpson und die Geschichte ihres skrupellosen Aufstiegs liefert definitiv das Material für eine interessante Biographie und die Autorin weiß es zu nutzen. Sie beginnt mit farbiger ...

Das Leben der Wallis Simpson und die Geschichte ihres skrupellosen Aufstiegs liefert definitiv das Material für eine interessante Biographie und die Autorin weiß es zu nutzen. Sie beginnt mit farbiger Erzählweise mitten in der Geschichte – Edward hat abgedankt, Wallis wartet auf ihre Scheidungspapiere. Dieser Einstieg, der bis zu den Flitterwochen des Paares geht, zieht sich über mehr als 50 Seiten (und enthält leider auch einige zähe Schilderungen minutiöser Reiseabläufe). Für Leser, die mit der Geschichte noch nicht sonderlich vertraut sind, könnte dieser Einstieg, der Vorwissen voraussetzt, etwas verwirrend sein. Erst nach diesem ersten Viertel des Buches wird dann überwiegend chronologisch erzählt.

Die Erzählweise gefiel mir einerseits gut, denn sie ist flüssig, mit vielen interessanten Details und Hintergrundinformationen versehen. Man kann dieses Buch leicht lesen und es verfügt über eine unterhaltsame Lebhaftigkeit. Allerdings haben mich zwei Aspekte des Erzählstils ganz enorm gestört und mir das Lesevergnügen verleidet. Das ist zum einen die fehlende Objektivität der Autorin. Immer wieder streut sie ihre eigene Meinung auf unangenehme Weise ein, ob nun durch teils geradezu gehässig wirkende Einschübe, eigene Beurteilungen oder kleine Zusätze wie „die versnobte Thelma“. Das liest sich, obwohl ich ihre Meinung in den meisten Punkte teilte, nicht nur unerfreulich, sondern ist auch unprofessionell. Eine fundierte Biographie sollte es den Lesern überlassen, sich selbst ein Urteil zu bilden, und sich durch eine objektive Erzählweise auszeichnen.
Der andere enervierende Aspekt war das ständige Denglisch. Warum die Autorin nicht Prominente, Gastgeberin, Königsfamilie, Geburtstagsfeier etc. schreiben kann, sondern es Celebrity, Hostess, Royal Family, Birthday Party o.ä. heißt, eine Reproduktion zu einer „Fake-Renaissance-Truhe“ wird oder das Brautpaar wie „zwei Outlaws“ dasteht, ist mir ein Rätsel. Das klingt albern und hat etwas von den Büchern dieser Influencer-Häschen, die leider momentan den Markt überschwemmen. Auch Formulierungen wie „… wie Herman, wenn auch nicht ganz so toll“ oder „dem superreichen Eisenbahnerben“ passen eher in ein Teenie- oder Inflencerbuch, aber nicht in eine ernstzunehmende Biographie. Es gab Momente, in denen ich eher ein gewisses Klatschzeitschriftengefühl beim Lesen hatte. Ich habe aus derselben Reihe das Buch „Leopoldine von Habsburg“ gelesen, dessen Autorin es wesentlich besser schafft, sowohl seriös wie auch unterhaltsam zu schreiben.

Vom Informationsgehalt ist das Buch ausgezeichnet, wenn es für meinen Geschmack doch manchmal an der Oberfläche bleibt. Schön ist, daß auch viele Zeitgenossen zitiert werden und zum umfänglichen Eindruck beitragen. Gestört hat mich, daß gelegentlich Behauptungen über Gedanken und Gefühle Wallis Simpsons getroffen wurden, zu denen kein Beleg erfolgte. Gerade bei solchen Aussagen, welche das Innere betreffen, fragt man sich ja, woher diese bekannt sind – Tagebücher, Briefe? Manchmal wird es erwähnt, manchmal aber eben auch nicht, was ich ebenfalls nicht sonderlich seriös finde. Auch hier fällt der Unterschied zum „Leopoldine von Habsburg“-Buch auf, welches 371 Anmerkungen enthält, die Aussagen belegen. Eine solche Anmerkungsliste fehlt hier komplett.

Die Zeit nach der Hochzeit wird leider eher summarisch abgehandelt, aber auch hier erfährt man viel Interessantes und sieht während der Kriegsjahre eine andere, unerwartete Seite von Wallis Simpson. Insgesamt vermittelt das Buch einen lebhaften und umfassenden Eindruck dieser Frau.

Die Ausstattung ist erfreulich, auch wenn ich die grellen Farben, in denen diese Buchreihe gehalten ist, persönlich überhaupt nicht mag. Ein herrlich fester Bucheinband und eine schlichte, aber durchdachte innere Gestaltung können überzeugen, auch sind die zahlreichen Fotografien erfreulich. Auch wenn das Buch hinsichtlich Anspruch und Schreibstil m.M.n. gegenüber dem „Leopoldine von Habsburg“-Buch abfällt und es ihm leider etwas an Sachlichkeit mangelt, bietet es doch einen unterhaltsamen und informativen Blick auf Wallis Simpson, Edward VIII und ihre Geschichte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 25.09.2024

Ungewöhnliche, originelle Geschichte, Erzählweise nicht ganz überzeugend

Sing, wilder Vogel, sing
0

Die Geschichte hat durch den gelungenen, farbigen Einstieg gleich mein Interesse geweckt – die Protagonistin Honora arbeitet in einem Bordell im amerikanischen Westen und trägt offensichtlich eine schwere ...

Die Geschichte hat durch den gelungenen, farbigen Einstieg gleich mein Interesse geweckt – die Protagonistin Honora arbeitet in einem Bordell im amerikanischen Westen und trägt offensichtlich eine schwere innere Last auf den Schultern. Das macht neugierig und war lebhaft beschrieben. Nach diesem Einstieg reisen wir erst einmal zurück in der Zeit und erfahren, wie Honora an diesen Punkt gekommen ist. Wir begleiten sie ins Irland des Jahres 1849, mitten in die große Hungersnot. Das Geschehen ist sehr eindringlich beschrieben, auch wenn hier und da ein paar Hintergrundinformationen gefehlt haben (welche dem irischen Lesepublikum sicher bekannt sind). Die historische Situation ist gut recherchiert und in die Geschichte verwoben.

Die Charaktere sind allerdings abgesehen von Honora selbst nicht sonderlich gut ausgearbeitet, auch die Beziehungen fand ich manchmal nicht ganz nachvollziehbar. Besonders irritierte mich das, als Honora in einem Fall selbst ausführlich darüber nachdenkt, dass eine andere Person eine habituelle Lügnerin ist und man ihr nicht vertrauen kann, sie genau dieser Person dann aber in einer wichtigen Situation vertraut – ab da wurde die Geschichte dann sehr konstruiert.

Auch fand ich die Erzählweise oft seltsam distanziert – Honora passieren sehr viele schreckliche Dinge (irgendwann war es mir zu viel), aber das Geschehen erreichte mich emotional nicht. Auch werden relevante Passagen oft einfach übersprungen. Ein Beispiel dafür ist Honoras unfreiwillige Arbeit im Bordell – wir erfahren, daß sie dort arbeiten muß und dann gibt es einen Zeitsprung (dessen Länge wir nicht erfahren, überhaupt sind Zeitangaben leider zu vage gehalten) und viele Fragen bleiben offen: wie sie die anfängliche Zeit dort bewältigt hat, wie das für sie war, etc. So ist es immer, wenn sie in neue Situationen kommt – die Anfangszeit wird jedes Mal übersprungen, was wichtige Bestandteile der Geschichte unterschlug und dem Geschehen die Unmittelbarkeit nahm, weil das Geschehene dann nur kurz zusammengefasst wird.

Der Schreibstil liest sich gut und leicht. Es gibt viele farbige, gelungene Beschreibungen und es wurde – entgegen meiner anfänglichen Befürchtungen – nicht zu blumig oder poetisch. Bei den Dialogen war mir die Sprache oft zu modern, so daß ich mir manchmal in Erinnerung rufen mußte, daß die Geschichte im 19. Jahrhundert spielt.

Die Geschichte an sich ist erfreulich ungewöhnlich und hebt sich vom Einerlei historischer Romane ab, auch wird die Situation der Iren sowohl in ihrem Heimatland, wie auch auf der Überfahrt nach Amerika und vor Ort gut dargestellt. Manches war zu langatmig geschildert, was in Verbindung mit dem bereits erwähnten Überspringen wichtiger Phasen eine ungünstige Gewichtung darstellt.

Zum Ende hin verlor mich die Geschichte zunehmend. Ich fand sie immer weniger plausibel, gerade weil die Beziehungen unter den Charakteren oft nicht nachvollziehbar sind. Vieles entwickelt sich aus dem Nichts und die Geschichte bekommt etwas zunehmend Konstruiertes.

So hat mich dieses Buch in der ersten Hälfte noch richtig in seinen Bann gezogen, mich dann aber in der zweiten Hälfte wesentlich weniger überzeugt. Hier hätte man bei besserer handwerklicher Umsetzung eine wesentliche überzeugendere Geschichte schaffen können.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 11.09.2024

Herrliche Sprache, interessantes Thema mit ein paar Längen

Die Bilder meines Vaters
0

Im Nachwort zu diesem Buch schreibt die Autorin, sie wäre glücklich, wenn die Leser „diesen Roman als Ausgangspunkt nehmen, um mehr über die historischen Personen sowie ihre Zeitgeschichte zu erfahren“. ...

Im Nachwort zu diesem Buch schreibt die Autorin, sie wäre glücklich, wenn die Leser „diesen Roman als Ausgangspunkt nehmen, um mehr über die historischen Personen sowie ihre Zeitgeschichte zu erfahren“. Ich kann jedenfalls für mich vermelden, daß dieses Ansinnen auf fruchtbaren Boden gefallen ist. Ich wußte vor dem Buch gar nichts über Marie Luise Vogeler oder ihr Familienumfeld, auch wenn mir über Worpswede einiges bekannt ist. Nun habe ich dank Astrid Goltz eine Reise in eine für mich ungewohnte, anschaulich geschilderte Welt gemacht. Marie Luise Vogelers Leben wird sehr stark durch ihren Vater und ihren Ehemann definiert – nicht einmal der Titel dieses Buches gehört ihr. Dass es vorwiegend ihre Beziehungen zu anderen sind, die ihre Geschichte ausmachen, lässt sie manchmal etwas blass wirken, führt aber andererseits auch dazu, dass hier viele interessante Perspektiven dargestellt werden.

Marie Luise fungiert in diesem Buch als Ich-Erzählerin im oft genutzten Muster der zwei Zeitebenen. Ihre von Krankheit erfüllten letzten Lebensjahre in Mexiko sind die Rahmenhandlung, vor der sie ihr Leben erzählt. Der Schreibstil ist hervorragend, ich habe ihn sehr genossen. Ich fand es ganz wunderbar, wie gekonnt die Autorin mit Sprache umgeht, und hoffe sehr, daß das nicht ihr letztes Buch sein wird. Unerfreulich fand ich lediglich, daß sie am Anfang, in den Kinderjahren Marie Luises, ganze Unterhaltungen auf Plattdeutsch schreibt. Das geht an manchen Stellen über ganze Seiten und ist für jemanden, der mit diesem Dialekt nicht vertraut ist, äußerst beschwerlich zu lesen und teils schlichtweg nicht verständlich. So sehr ich es befürworte, im Sinne der Authentizität ein wenig Dialekt einzubringen, sollte sich das im Rahmen halten. Hier war es irgendwann so, daß ich diese langen Passagen überspringen mußte, weil ich sie so gut wie unleserlich fand.
Auch die jetzt so beliebten Genderdoppelungen wie „Künstlerinnen und Künstler“ oder „Saarländerinnen und Saarländer“ fand ich wenig angebracht. Ganz abgesehen davon, daß diese die Lesefreundlichkeit beeinträchtigen, sind sie hier nicht authentisch, weil mit der Erzählstimme einer Frau geschrieben wird, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts lebte, in der solche Doppelungen nicht verwendet wurden. Wenn als Ich-Erzählerin geschrieben wird, dann sollte das auch stimmig sein.
Ganz wundervoll fand ich dagegen das stetige Einweben von Farben in den Text. Das ist herrlich authentisch und erinnert uns daran, daß Marie Luise als Malerin die Welt in Farben sah, auf Farben achtete, auch paßt es ausgezeichnet zum Titel und Motiv des Buches. Es wirkt völlig natürlich, wie diese Farben immer wieder Eingang in den Text finden und ich hatte beim Lesen viel Freude daran.

Das Erzähltempo ist gemischt. Die erste Hälfte fand ich teilweise ziemlich langatmig, was vor allem an den ausführlichen Kindheitserlebnissen mit allerlei Spielen, den o.e. Unterhaltungen auf Platt und vielen berichteten Details lag, die ich für das Gesamtbild nicht notwendig fand. Im Nachwort las ich dann, daß die meisten dieser Aspekte von der Autorin erfunden wurden. Sie erklärt im Nachwort gut, was belegbare Informationen sind; was zwar nicht explizit belegt, aber schlüssig ist, und was reine Erfindung von ihr ist. Hier war ich teilweise etwas befremdet. So hat Marie Luise im Buch eine Fehlgeburt, die sich im Nachwort als fiktiv herausstellt. Das überschreitet bei einer Romanbiographie über eine tatsächliche Person für mich persönlich die Grenzen.
Auch wird allerlei Mystisches in den Romantext verwebt. Beim Lesen irritierte es mich, daß Marie Luise häufiger von ihren Konversationen mit Katzen berichtete. Im Nachwort stellte sich heraus, daß es keine liebenswerte Marotte der tatsächlichen Marie Luise war, sondern ebenfalls reine Erfindung, um „die magische Seite ihrer Kindheit sowie ihre Imaginationskraft“ zu betonen. Das hätte man gerade in einem künstlerischen Haushalt doch etwas weniger überspannt und für die Leser nachvollziehbarer lösen können.
Recherchiert wurde allerdings insgesamt ganz ausgezeichnet, auch das erkennt man sowohl am Nachwort wie auch an der umfangreichen Quellenangabe. Einiges habe ich schon im Internet nachgelesen und stellte fest, wie farbig und gut die Ereignisse im Roman berichtet werden. Man lernt durch die Lektüre auf unterhaltsame Weise eine ganze Menge und man bekommt durch die hervorragende Sprache einen gelungenen Einblick in die Welt der Künstler, der Kommunisten, der Emigranten. Marie Luises Krankheit wird gerade zum Ende hin sehr eindringlich und berührend geschildert. Ganz zum Schluss finden sich dann noch einige Fotos von Marie Luise, was mir gut gefiel.

Insgesamt kann das Buch gerade durch die Sprache und das ungewöhnliche Sujet überzeugen – es gibt unzählige Bücher über deutsche Schicksale in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, aber die Kombination aus den hier geschilderten Themen, zudem mit wahrem Hintergrund, findet sich eher selten und eröffnet interessante Blickwinkel.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere