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Veröffentlicht am 25.12.2017

Etwas zu technisch geratene Dystopie

Die Optimierer
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Dystopische Romane haben gerade Hochkonjunktur – zumindest habe ich nach Zoë Becks „Die Lieferantin“, Marc-Uwe Klings „Qualityland“, Juli Zehs „Leere Herzen“ und nun auch Theresa Hannigs „Die Optimierer“ ...

Dystopische Romane haben gerade Hochkonjunktur – zumindest habe ich nach Zoë Becks „Die Lieferantin“, Marc-Uwe Klings „Qualityland“, Juli Zehs „Leere Herzen“ und nun auch Theresa Hannigs „Die Optimierer“ diesen Eindruck. Die genannten Bücher sind trotz ihrer düsteren Zukunftsszenarien alle recht unterschiedlich. Ihr gemeinsamer Nenner ist eine drastische Darstellung der technischen Möglichkeiten und eines ruhiggestellten, gläsernen Bürgers. Bei Theresa Hannig nimmt diese Darstellung etwas überhand – vor allem im ersten Buchdrittel, in dem die Handlung rund um den systemtreuen Lebensberater Samson noch gar nicht einzusetzen scheint. Etwas langatmig wird die Entstehung und das Konstrukt der „Bundesrepublik Europa“ beschrieben. An und für sich ist das düstere Zukunftsszenario sehr durchdacht und die im Roman herrschende „Optimalwohlgesellschaft“ ein ziemlich krasses Konstrukt, doch die ausführliche Darstellung hat mich dennoch stellenweise gelangweilt.

Im zweiten Drittel nimmt die Handlung dann deutlich an Fahrt auf. Samson, ein Musterbürger seines Landes, gerät – unfreiwillig und größtenteils auch unverschuldet – auf Abwege. Seine Freundin verlässt ihn wegen seiner Systemhörigkeit, für den heimlichen Fleischkonsum seiner Eltern (in der zwangsvegetarisierten „Bundesrepublik Europa“ des Jahres 2052 streng verboten, es gibt es nur noch Synthetikfleisch) muss auch er büßen und dass er versucht, das Geheimnis eines hochrangigen Politikers zu enthüllen, bringt ihm zusätzliche Probleme. Die Hauptfigur befindet sich im Abwärtsstrudel und kann es selbst kaum glauben, doch je mehr er dagegen ankämpft, desto schlimmer wird es. „Die Optimierer“ gipfeln in einem offenen Ende, das den Leser mit leichtem Grusel zurücklässt. Trotzdem konnte mich der Roman nicht ganz überzeugen. Samson als einzige Hauptfigur ist kein Sympathieträger, sein Schicksal hat mich nicht wirklich berührt und das Gleichgewicht zwischen Beschreibung und Handlung war nach meinem Empfinden nicht immer gegeben. Dennoch enthält der Roman Denkanstöße und lässt den Leser grübelnd zurück: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben? Welche Entwicklungen können wir zulassen? Was ist uns Gesundheit und Wohlstand wert? „Die Optimierer“ regen dazu an, sich mit diesen Fragen zu beschäftigen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Atmosphäre
  • Figuren
  • Idee/Originalität
  • Spannung
Veröffentlicht am 05.12.2017

Niemand kann seiner Vergangenheit entfliehen …

TICK TACK - Wie lange kannst Du lügen?
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„TICK TACK“ ist ein sich langsam entwickelnder Thriller. Er ist unblutig und kommt ohne Gänsehaut-Momente aus, in denen man ernsthaft um das Leben der Hauptfiguren fürchtet. Und trotzdem konnte ich ihn ...

„TICK TACK“ ist ein sich langsam entwickelnder Thriller. Er ist unblutig und kommt ohne Gänsehaut-Momente aus, in denen man ernsthaft um das Leben der Hauptfiguren fürchtet. Und trotzdem konnte ich ihn nicht mehr beiseitelegen und habe mich immer tiefer in die Geschehnisse um Hauptfigur Nic hineinziehen lassen.
Nic ist Ende 20, mit einem erfolgreichen Anwalt verlobt und lebt in Philadelphia – weit weg von ihrer Heimatstadt Cooley Ridge in North Carolina, aus der sie zehn Jahre zuvor regelrecht geflüchtet ist. Damals verschwand ihre beste Freundin Corinne spurlos und ist bis heute nicht wieder aufgetaucht. Zwar ist das Leben in Cooley Ridge weitergegangen, doch nun kommt alles wieder hoch – denn plötzlich wird eine weitere junge Frau vermisst. Und Nic ist erneut in der Stadt: Ihr Bruder und sie wollen ihr Elternhaus auflösen, nachdem der Vater inzwischen dement in einem Pflegeheim lebt. Die Vergangenheit holt Nic, ihre Familie und ihre früheren Freunde ein – und droht, Geheimnisse ans Licht zu bringen, die zehn Jahre lang verborgen geblieben waren …

Megan Miranda verwendet eine interessante Erzähltechnik: Sie berichtet von Nics Ankunft in Cooley Ridge, dann von den Geschehnissen zwei Wochen später. Von da erzählt sie dann Tag für Tag rückwärts, bis diese zweiwöchige Lücke für den Leser gefüllt ist. Das ist erstmal gewöhnungsbedürftig – die Handlung entwickelt sich quasi nicht weiter, sondern setzt sich eher puzzleartig zusammen. Nach jedem Tag kommt der Morgen des Vortags, der meist an einer ganz anderen Stelle ansetzt. Und so vergrößert sich zwar der Gesamtüberblick des Lesers nach und nach, er kann sich jedoch nie sicher über die Vorgeschichte sein – und muss sein Bild wieder und wieder revidieren … zum Teil ist das mühsam. Aber es lohnt sich auch. In jedem Fall fesselt „TICK TACK“ und hat mich laufend überrascht. Der Kreis der Hauptfiguren ist klein, trotzdem tappte ich bis zum Schluss im Dunkeln, wie was zusammenhing. Und fand die Auflösung dann durchaus befriedigend, obwohl ich mir zwischenzeitlich einfach nicht vorstellen konnte, wie alles zusammenpassen sollte. Genau das macht einen guten Thriller für mich aus – dass er am Ende glaubwürdig ist, auch wenn man sich während des Lesens einfach kein glaubwürdiges Ende vorstellen konnte.

So gesehen passt „TICK TACK“ zu „Girl on the Train” oder “Gone Girl” – die Geschichte entrollt sich nach und nach, leise, unvorhersehbar und überraschend. Die Ereignisse überschlagen sich nur selten, sondern entwickeln sich langsam. Autorin Miranda nimmt sich Zeit, dem Leser Cooley Ridge näherzubringen – die Kleinstadtatmosphäre, die umliegenden Wälder. Man taucht mit Nic in ihr altes Leben ein und muss die Bereitschaft mitbringen, sich darauf einzulassen – ich finde, es lohnt sich. Leseempfehlung für alle, die romanartige, aber nicht minder intensive Psychothriller mögen!

Veröffentlicht am 29.11.2017

Spannend, verstörend, aufrüttelnd - und dabei einen Tick zu mahnend

Leere Herzen
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„Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert Autorin Juli ...

„Leere Herzen“ wird im Klappentext als „verstörender Psychothriller über eine Generation, die im Herzen leer und ohne Glauben und Überzeugungen ist“ beschrieben. In der Widmung schleudert Autorin Juli Zeh ihren Lesern dann auch noch ein unmissverständliches „Da. So seid ihr.“ entgegen – womit klar ist, welche Generation gemeint ist: die eigene. Ein harter Einstieg in eine dystopische Geschichte, die bereits in naher Zukunft spielt. Irgendwann in den späteren 2020er Jahren angesiedelt, berichtet sie von der Post-Merkel-Ära, in der die BBB (Besorgte-Bürger-Bewegung) regiert, nachdem die anderen Parteien es nicht mehr schaffen, ihre Wähler zu mobilisieren. Und während die BBB die demokratischen Grundrechte immer weiter abschafft, ohne dabei auf nennenswerten Widerstand zu stoßen, haben sich Gutausgebildete und -verdienende wie Protagonistin Britta längst ins Private zurückgezogen, pflegen ihr kleinstädtisches Leben, konzentrieren sich auf die eigene Karriere und schalten die Nachrichten höchstens mal aus Versehen ein. Verantwortungsgefühl, Moral und Ethik sind ihrem „leeren Herzen“ schon sehr lange abhandengekommen. Kopf und Herz sind zufrieden mit dem Ist-Zustand, nur der Bauch rebelliert ab und zu in Form von Schmerzen und Übelkeit, wird aber ebenso wie die Krankhaftigkeit ihres Sauberkeitsfimmels erfolgreich ignoriert.

Juli Zehs Buch wirkt stellenweise wie eine Abrechnung der Autorin. Eine Abrechnung mit Nichtwählern und mit denjenigen, die die Demokratie für selbstverständlich halten und glauben, das Weltgeschehen gehe sie nichts an. Auch mit Hasskommentatoren im Internet wird abgerechnet und der entsprechende Abschnitt liest sich, als hätte sich Zeh ihre Verachtung schon lange von der Seele schreiben wollen. Ganz eventuell ist „Leere Herzen“ auch noch eine kleine Abrechnung mit Sarah Wagenknecht. Die Gründe dafür sind mir verborgen geblieben, aber Wagenknecht wird, neben Merkel, als einzige real existierende Politikern namentlich erwähnt. Überraschenderweise ist sie Innenministerin der BBB. Positiv ist das keinesfalls, denn die in „Leere Herzen“ beschriebene politische Situation ist desaströs – nicht nur in Deutschland, sondern überall. Frexit, Schwexit und andere Bewegungen werden am Rande erwähnt – in Juli Zehs Welt der 2020er Jahre ist sich jeder selbst der Nächste. Besonders bemerkenswert war für mich, dass die Autorin sich nicht an den Wählern ihrer BBB abarbeitet, sondern an den Gleichgültigen, die es besser wissen, aber tatenlos bleiben. „Leute wie ich tragen Schuld an den Zuständen, nicht die Spinner von der BBB“ erkennt auch Hauptfigur Britta irgendwann. Und genau Leute wie die von ihr erschaffene Britta will Juli Zeh erreichen; das wird deutlich.

Und wie liest sich das Ganze? Zeh entwickelt ihre Romangegenwart so, dass sie – im worst case -tatsächlich an die Gegenwart anknüpfen könnte – ein erschreckender Gedanke, der der Faszination, die die Geschichte ausübt, natürlich zuträglich ist. Gleichzeitig fühlte ich mich manchmal doch zu offensichtlich belehrt; „Leere Herzen“ erscheint insgesamt wie eine Warnung der Autorin an die Leser. Die Geschichte um Hauptfigur Britta und das morbide Geschäft, das sie mit ihrem besten Freund Babak betreibt, ist jedoch so fesselnd, dass mich die fehlende Subtilität der Gesellschaftskritik nur selten störte. Und der im Roman gleich mehrmals vorkommende Appell der Autorin, das Hier und Jetzt zu schätzen und aktiv für seine Bewahrung bzw. Verbesserung einzutreten, hat ja durchaus Berechtigung. Juli Zehs Mahnungen haben mich auf jeden Fall beschäftigt und tun es immer noch – der Roman wirkt nach.
Für bequeme Bücher ist die Autorin nicht bekannt, auch „Leere Herzen“ ist keines. Die Geschichte liest sich gut und schnell, erschüttert und verstört immer mal wieder und regt zum Nachdenken an – und zum Wählen gehen, zum Partei ergreifen. So gesehen hätte das Buch ruhig schon ein paar Monate früher erscheinen können.

Veröffentlicht am 04.11.2017

Cosy Crime der alten Schule

Geheimnis in Rot
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Ein Krimi mit besonderer Haptik (der Einband ist mit Stoff überzogen), einem weihnachtlichen Eyecatcher-Cover und leider etwas nichtssagendem Titel („The Santa Klaus Murder“, wie das Buch auf Englisch ...

Ein Krimi mit besonderer Haptik (der Einband ist mit Stoff überzogen), einem weihnachtlichen Eyecatcher-Cover und leider etwas nichtssagendem Titel („The Santa Klaus Murder“, wie das Buch auf Englisch heißt, finde ich sowohl passender als auch interessanter als „Geheimnis in Rot“). Obwohl ich während der Lektüre noch weit davon entfernt war, mich irgendwie in Weihnachtsstimmung zu fühlen, hat mich dieses Buch schnell in seinen Bann gezogen. Und wirklich weihnachtlich ums Herz ist den Protagonisten von „Geheimnis in Rot“ auch nicht zumute: Am ersten Weihnachtsfeiertag wird Sir Osmond Melbury, der seine Kinder, Schwiegerkinder und Enkel Jahr für Jahr während der Feiertage nach Hause auf Gut Flaxmere nötigt, erschossen in seinem Arbeitszimmer aufgefunden. Der Kreis der Verdächtigen ist groß, denn eigentlich jeder der Anwesenden hat einen Teil des Erbes zu erwarten und für die Mehrzahl von ihnen kommt dieses auch recht willkommen. Aber war das für eines der Familienmitglieder tatsächlich Grund genug, einen Mord zu verüben? Ein Freund des Hauses, Colonel Halstock, beginnt zu ermitteln. Systematisch trägt er Informationen zusammen, sammelt Indizien und führt Gespräche. Und als Leser sitzt man grübelnd vor dem Grundriss von Gut Flaxmere, der dem Buch vorangestellt ist, und fragt sich mit dem Colonel, wie denn nun alles zusammenpasst. „Geheimnis in Rot“ ist ein Krimivergnügen in guter alter Whodunit-Manier. Mavis Doriel Hay beschreibt die einzelnen Familienmitglieder sehr anschaulich und lässt den Großteil auch selbst zu Wort kommen, doch obwohl sich das Gesamtbild so immer mehr zusammenfügt, tappt man als Leser lange im Dunkeln. Wer gerne mit Miss Marple oder Hercule Poirot rätselt, ist hier gut aufgehoben. „Geheimnis in Rot“ ist ein Cosy Crime, dem man sein Alter (Erstveröffentlichung 1936!) nicht anmerkt. Ein Krimigenuss alter Schule, der sich nicht nur unterm Weihnachtsbaum gut macht, aber als gemütliche Feiertagslektüre auf jeden Fall bestens geeignet ist!

Veröffentlicht am 22.10.2017

Abgesang auf vergangene Zeiten

Das Vermächtnis der Spione
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„Das Vermächtnis der Spione“ ist das allererste Buch von John Le Carré, das ich überhaupt gelesen habe. Ich fand die Leseprobe fesselnd und habe es auch relativ schnell durchgelesen. Allerdings stellt ...

„Das Vermächtnis der Spione“ ist das allererste Buch von John Le Carré, das ich überhaupt gelesen habe. Ich fand die Leseprobe fesselnd und habe es auch relativ schnell durchgelesen. Allerdings stellt sich mir im Nachhinein die Frage, ob es so klug war, ohne Vorkenntnisse zu diesem Roman zu greifen, der inhaltlich offensichtlich auf Ereignisse aus „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ aufbaut und außerdem bereits das neunte Buch um den Geheimagenten George Smiley ist – auch wenn dieser hier vor allem durch Abwesenheit glänzt.
Der Handlung konnte ich dennoch ganz gut folgen: Peter Guilliam, früherer Agent des britischen Geheimdienstes und schon seit Jahren im Ruhestand, wird nach London beordert. Er soll helfen, Geschehnisse aus dem Jahr 1961 zu rekonstruieren, an denen er mindestens mittelbar beteiligt war. Damals wurden zwei Agenten des Secret Service an der Berliner Mauer erschossen, deren Kinder jetzt im Jahr 2017 Geld und eine Offenlegung der Sachverhalte fordern. Doch der britische Geheimdienst hat selbst Mühe, die Ereignisse, die zum Tod der beiden Agenten führten, zu rekonstruieren. Die Akten sind lückenhaft oder ganz verschollen, Beteiligte tot oder nicht auffindbar. Und Peter Guilliam ist auch nicht der Auskunftswilligste – was hat er zu verbergen?

Als Leser folgt man den Gedanken des Agenten und reist mit ihm in Rückblenden fast 60 Jahre zurück. Nach und nach scheint sich die Vergangenheit zu entwirren. Das war schon fesselnd, da sehr intelligent gemacht und gleichzeitig ist vorstellbar, dass Geheimdienste damals tatsächlich so agiert haben. Trotzdem kommt kaum Spannung auf, da der Leser aufgrund der Romangegenwart ja im Großen und Ganzen weiß, wie die Geschichte ausgeht. Auch hat mich das Schicksal der einzelnen Figuren meist kaltgelassen, vielleicht mit Ausnahme der Spionin „Tulip“. Ich nehme jedoch an, dass das ebenfalls daran lag, dass ich die übrigen Romane nicht kannte – wären mir die Protagonisten schon vertraut gewesen, hätte ich ihre Handlungen vermutlich noch besser nachvollziehen können und mehr mit ihnen sympathisiert. So kämpfte ich stattdessen immer wieder mit den verschiedenen Decknamen und hatte manchmal doch Mühe, alle Personen richtig zuzuordnen.
Ich geben diesem Roman vier Sterne, empfehle aber, die „George Smiley“-Buchreihe nicht mit ihm zu beginnen, sondern zumindest „Der Spion, der aus der Kälte kam“ und „Dame, König, As, Spion“ zuerst zu lesen.