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Veröffentlicht am 05.06.2021

Auf Südsee-Mission

Dein ist das Reich
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„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea ...

„Dein ist das Reich“ – was für ein mächtiger Titel. Er scheint gleich auf Mehreres anzuspielen: auf das Gottvertrauen der Protagonisten, aber auch auf das Reich Gottes, das sie den Papua auf Neuguinea nahebringen wollen. Die Idee, in ein fremdes Land einzudringen und den Einheimischen die eigene Kultur aufzuzwingen, könnte ebenfalls mitschwingen. Denn um all das geht es in diesem Buch, in dem die Autorin Katharina Döbler ihre eigene Familiengeschichte verarbeitet.

1913 verlassen Döblers spätere Großväter Heiner Mohr und Johann Hensolt ihre fränkische Heimat und begeben sich auf eine lange Schiffsreise – noch nicht ahnend, dass sie dadurch dem Ersten Weltkrieg entgehen werden. Die jungen Männer sind von dem lutherischen Missionswerk in Neuendettelsau entsandt und auf dem Weg nach Kaiser-Wilhelms-Land, wie die deutsche Südsee-Kolonie heißt. Johann wird dort als Missionar arbeiten und Heiner als Pflanzer für die Bewirtschaftung einer Palmenplantage verantwortlich sein. Beide sind erst Anfang zwanzig.
Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Kolonie australisches Mandatsgebiet, doch die deutschen Missionsabgesandten dürfen bleiben und sogar ihre Bräute aus Deutschland nachholen. Marie und Linette sind grundverschieden und lernen sich auch erst viele Jahre später kennen, da die Familien in unterschiedlichen Teilen Neuguineas leben. Doch ihre Kinder, von denen sich zwei – Döblers Eltern – nach dem Zweiten Weltkrieg verloben werden, eint die Sehnsucht nach dem inzwischen verlorenen Paradies.

Man kann sich heute kaum vorstellen, wie es ist, die Heimat zu verlassen, um in einem Land zu leben, das man nur von ein paar Reiseberichten und Schwarzweißfotografien kennt. Und dann geht es noch nicht mal „nur“ um das Leben in der Fremde, sondern sie soll auch noch nach deutschen Vorstellungen bewirtschaftet und gestaltet werden, die indigenen Völker erzogen und missioniert. Die vier Franken glauben an ihren Auftrag, gehen mit der Herausforderung jedoch so unterschiedlich um wie mit dem später aufkeimenden Nationalsozialismus.

Döblers Roman tastet sich behutsam an die fiktionalisierten Schicksale ihrer Großeltern heran. Immer wieder werden alte Fotos und ihre Erinnerungen an Gespräche mit Familienangehörigen beschrieben. Doch am Lebendigsten lesen sich die Geschehnisse in Neuguinea. Was Kolonialismus bedeutet, wie Mission funktioniert – oder eben auch nicht: Döbler macht diese Themen nahbar. „Dein ist das Reich“ ist keine leichte oder bequeme Kost, der koloniale Rassismus und die Verkennung der politischen Entwicklung schmerzen ab und zu richtiggehend. Die unterschiedlichen Haltungen von Linette, Johann, Marie und Heiner regen außerdem zum Nachdenken an: Welche Irrungen sind im historischen Kontext nachvollziehbar – und welche nicht? Was macht Macht mit Menschen? Eine spannende Ergänzung wäre die Sicht der Papua auf die beschriebenen Missionsabgesandten, doch diese hätte den Roman sicher gesprengt. „Dein ist das Reich“ zerrt ein Stück eher unbekannter deutscher Kolonialgeschichte ans Licht, gewährt einen vielschichtigen Zugang dazu und trägt dazu bei, es vor dem Vergessen zu bewahren.

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Veröffentlicht am 16.05.2021

What if ...

Die Mitternachtsbibliothek
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Vermutlich fragt sich jede und jeder mal, was gewesen wäre, wenn man irgendeine Abzweigung im Leben anders genommen hätte. Wäre man glücklicher und erfolgreicher geworden – oder wäre alles furchtbar schiefgelaufen? ...

Vermutlich fragt sich jede und jeder mal, was gewesen wäre, wenn man irgendeine Abzweigung im Leben anders genommen hätte. Wäre man glücklicher und erfolgreicher geworden – oder wäre alles furchtbar schiefgelaufen? Der britische Autor Matt Haig spielt diesen Gedanken in seinem neuesten Buch durch, was mich so gefesselt hat, dass ich es innerhalb eines Wochenendes ausgelesen habe. Ein faszinierender Roman!

„Die Mitternachtsbibliothek“ beginnt damit, dass Nora Seeds Leben in Trümmern zu liegen scheint. Sie hat’s vermasselt – und nicht erst seit gestern. Schon als Teenager hat sie trotz vielversprechender Erfolge den Profisport aufgegeben. Die Band ihres Bruders hatte bereits einen Plattenvertrag in Aussicht, doch dann ist sie als Sängerin abgesprungen. Ihrem Ex-Verlobten hat sie das Herz gebrochen, zudem wird sie arbeitslos und dann stirbt auch noch ihre Katze. Nora Seed will nicht mehr leben – und lässt diesem Wunsch Taten folgen.

Allerdings landet sie nicht im ersehnten, sanften Vergessen, sondern in einer Art Pausenraum zwischen Leben und Tod – der titelgebenden Mitternachtsbibliothek. Dort bekommt Nora die Chance, die Dinge rückwirkend zu ändern. Sie kann längst getroffene Entscheidungen umkehren und in das daraus resultierende Leben schlüpfen. Was nicht bedeutet, dass sie in die Vergangenheit reist – Nora bleibt ihr 35-jähriges Ich und muss sich in jeweils dem Leben zurechtfinden, das sich aus einer anders getroffenen Entscheidung ergeben hat. Gelingt ihr das nicht bzw. entspricht es nicht ihren Vorstellungen, gelangt sie zurück in die Mitternachtsbibliothek und das Spiel beginnt von Neuem.

„Die Mitternachtsbibliothek“ liest sich kurzweilig, ist aber weit mehr als gute Unterhaltung. Ganz nebenbei beschäftigt sich der Roman mit existentiellen Fragen: Was definiert eigentlich ein „gelungenes“ Leben? Wie viel Einfluss darauf haben wir? Und was ist Glück?
Mit Nora hat Matt Haig außerdem eine Protagonistin geschaffen, in die man sich bestens einfühlen kann. Dem Autor gelingt es, Emotionen in ihrer ganzen Tiefe auszuloten. Haig hat eigene Erfahrungen mit Depressionen und Angstzuständen gemacht und auch darüber bereits geschrieben. Er schafft es, auch Außenstehenden den Hauch einer Ahnung von den Abgründen zu vermitteln, in die ein depressiver Mensch blickt. Seine Schilderungen wirken stimmig und einfühlsam; der Roman pendelt spielend zwischen Schwere und Leichtigkeit und feiert gleichzeitig das Leben in all seinen Facetten. Mir hat er unheimlich gut gefallen.

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Veröffentlicht am 05.05.2021

Zwischen Männern und Kulturen

Laudatio auf eine kaukasische Kuh
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„Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ – das klingt nach einem Hohelied auf die Viehhaltung. Die Kuh spielt allerdings nur eine kleine Nebenrolle in diesem Roman. Hauptfigur ist die angehende Ärztin Olga ...

„Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ – das klingt nach einem Hohelied auf die Viehhaltung. Die Kuh spielt allerdings nur eine kleine Nebenrolle in diesem Roman. Hauptfigur ist die angehende Ärztin Olga Evgenidou, die in Bonn kurz vor dem letzten Staatsexamen steht und mit ihrem Medizinerfreund Felix van Saan glücklich zu sein scheint. Einziger Wermutstropfen: Irgendwann muss sie ihm ihre in München lebende Familie vorstellen und blickt diesem Culture Clash mit Grauen entgegen. Denn auch wenn sie schon viele Jahre in Deutschland leben, sind Olgas Eltern und Großmutter noch sehr in der griechisch-georgischen Kultur verwurzelt. Außerdem versucht ihre Mutter, Olga zu verheiraten, seit diese 15 Jahre alt ist. Natürlich weiß die Familie nichts von Felix – und natürlich hat sie sehr konkrete, eigene Vorstellungen vom zukünftigen Schwiegersohn …

Der Spagat zwischen ihrem unabhängigen Leben und ihrer Familie verlangt Olga einiges ab und liest sich dabei oft amüsant. Doch plötzlich steht sie nicht nur zwischen zwei Kulturen, sondern auch zwei Männern. Und ab da konnte ich ihre Gefühlslagen nicht mehr so recht nachvollziehen; Felix‘ Rivale Jack Jennerwein ist nämlich zunächst vor allem eins: aufdringlich. Die Annäherungsversuche des rastlosen Lebenskünstlers gehen schon in Richtung Stalking.

Auch mit einigen familiären Beziehungen tat ich mich schwer; Olgas Mutter ist zum Beispiel eine manipulative Drama-Queen, der die Gefühle der eigenen Tochter herzlich egal sind. Die nahbareren Charaktere bleiben eher blass. Und so konnte ich auf der zwischenmenschlichen Ebene nicht so richtig mitfühlen und mitfiebern; vermutlich fand ich die Entwicklungen deswegen auch etwas langatmig erzählt. Am Ende überschlagen sich die Ereignisse dann; die schnelle Abhandlung der letzten Kapitel wurde der Geschichte und den Protagonisten in meinen Augen allerdings auch nicht gerecht.
Etwas aufgefangen hat das der Georgien-Teil, denn im Laufe der Geschichte verschlägt es den Großteil der Protagonisten in das Herkunftsland von Olgas Eltern. Im Gegensatz zur Autorin war ich noch nie dort, aber die „Laudatio auf eine kaukasische Kuh“ macht große Lust, das zu ändern: Georgien wird als facettenreiches und gastfreundliches Land bunt und liebevoll geschildert. Der Roman vermittelt einen lebhaften ersten Eindruck von Sitten und Gebräuchen, Essen und Wein – letzterer wird mehrmals so anschaulich beschrieben, dass ich mir zur Lektüre gerne selbst ein Gläschen eingeschenkt hätte. Und so ist mein Interesse an der kaukasischen Kuh bzw. Georgien an sich doch etwas größer geblieben als das an Olgas Beziehungsleben.

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Veröffentlicht am 24.04.2021

Pointiertes Porträt

Hauskonzert
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„Hauskonzert“ ist, wie auf den letzten Seiten auch noch einmal thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). ...

„Hauskonzert“ ist, wie auf den letzten Seiten auch noch einmal thematisiert wird, nicht das typische „Pianistenbuch“ (wobei es zugegebenermaßen das erste Pianistenbuch ist, das ich überhaupt gelesen habe). Und es handelt auch längst nicht nur vom Klavierspielen. Themen sind eine Erfolgsgeschichte mit vielen Rückschlägen, die Rezeption von Kunst, aber auch der Umgang von Menschen miteinander. Das Ganze ist klar und schnörkellos geschrieben und macht gleichzeitig die Faszination von klassischer Musik und die Leidenschaft dafür spürbar.

Autor Florian Zinnecker ist stellvertretender Ressortleiter der Wochenzeitung „Die Zeit“ und auch das merkt man „Hauskonzert“ an: Es liest sich wie ein langes, fesselndes und immer wieder auch pointiertes Porträt, das ich gar nicht mehr zur Seite legen wollte.
Dabei hatte ich mich mit Igor Levit bislang nur wenig beschäftigt und höre klassische Musik äußerst selten. Dass dieses Buch mich von Anfang an gepackt hat, lag sicher auch am ungewöhnlichen Blick hinter die Kulissen des Konzertbetriebs. Aber vor allem an der Skizzierung von Levits Person: Sie wirkt komplett authentisch, denn da wird ein Künstler mit Ecken und Kanten und Schwächen sehr menschlich beschrieben – und das im Kontext eines Jahres, das gerade für Künstler sehr schwierig war. Auch das macht den Reiz dieses Buches aus: Geplant wurde es im Dezember 2019, der Konzerttourneeplan für 2020 stand, und dass er ab Mitte März pandemiebedingt komplett umgeworfen werden würde, war noch nicht abzusehen. Levits Perspektive auf diese Zäsur – als Pianist, der sich Rang und Namen bereits erspielt hat – ist spannend zu lesen.

Und dann beschäftigen sich Igor Levit und Florian Zinnecker noch mit Themen, die so gar nichts mit Kunst zu tun haben, mit denen ersterer aber immer wieder konfrontiert wird: Antisemitismus, Rassismus, Hetze. Der Hass im Netz flammt auf, seit Levit sich zu gesellschaftspolitischen und ökologischen Themen öffentlich äußert. Was ihn dabei antreibt und wie er damit umgeht, wird in „Hauskonzert“ ebenfalls angesprochen. Und so gibt es hier Einblicke und Denkanstöße, die dieses „Pianistenbuch“ tatsächlich einzigartig machen.

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Veröffentlicht am 18.04.2021

Das unvorstellbare Grauen

Dann schlaf auch du
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Eine Nanny, die ihre Schützlinge ermordet – das klingt albtraumhaft und ist eigentlich kein Thema, über das ich Romane lesen möchte. Für dieses Buch habe ich zum Glück eine Ausnahme gemacht und konnte ...

Eine Nanny, die ihre Schützlinge ermordet – das klingt albtraumhaft und ist eigentlich kein Thema, über das ich Romane lesen möchte. Für dieses Buch habe ich zum Glück eine Ausnahme gemacht und konnte mich seinem Sog kaum entziehen.

Das Grauen ist auf den ersten Seiten von „Dann schlaf auch du“ bereits passiert: Louise, die „Nounou“ von Kleinkind Mila und Baby Adam, hat das ihr anvertraute Geschwisterpaar umgebracht. Es scheint unfassbar, war sie doch der Glücksfall, die gute Fee, die dem Ehepaar Myriam und Paul ermöglichte, trotz Kindern Karriere zu machen. Die ganz selbstverständlich Überstunden schob, Gäste bekochte, das Haus gemütlich und rein hielt. Die sich bereits nach wenigen Tagen unersetzlich gemacht hatte, nie etwas forderte und nie klagte.
Und ihre Arbeitgeber? Ein junges, ehrgeiziges Paar, das alles richtig machen wollte – auch wenn der Spagat zwischen familiärer Nähe und professioneller Distanz bisweilen seine Tücken hatte.

Die große Frage, die die Lektüre von „Dann schlaf auch du“ von Anfang an begleitet, ist natürlich die nach dem Warum. Leïla Slimani liefert keine einfachen Antworten darauf. Sie schildert stattdessen, wie Myriam und Paul Louise erstmals treffen, sie einstellen und wie das Leben mit Nounou so läuft. Ab und an berichten kurze Kapitel von Louises Leben außerhalb der Altbauwohnung der Familie im 10. Arrondissement von Paris. Hinzu kommen nach und nach kleine Einblicke in die Vergangenheit. Und so baut sich eine untergründige Spannung auf, die kaum zu erfassen und noch schwieriger zu beschreiben ist. Klar ist nur: Es bahnt sich etwas an.

Slimanis Figuren sind komplex. Die Autorin legt ihre Gedanken und Gefühle nicht komplett offen, macht sie aber doch in vielen kurzen Kapiteln hinreichend nahbar. Für mich hätte dieser Roman durchaus länger und ausführlicher sein können, speziell die Perspektive einer nur in Rückblicken auftauchenden Nebenfigur hätte mich sehr interessiert. Dennoch: Als Komposition ist „Dann schlaf auch du“ perfekt. Und hat mich nachhaltiger beeindruckt als so mancher Thriller.

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