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Veröffentlicht am 13.08.2018

Fesselnd, mitreißend, meisterhaft erzählt. Sehr lesenswert.

Ein unvergänglicher Sommer
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Diesen neuen Roman von Isabel Allende habe ich gern gelesen. Er hat mir paar gute, erfüllte Lesestunden geschenkt, daher empfehle ich ihn auch gern weiter.
Es gibt zwei Zeitebenen. In der Gegenwart treffen ...

Diesen neuen Roman von Isabel Allende habe ich gern gelesen. Er hat mir paar gute, erfüllte Lesestunden geschenkt, daher empfehle ich ihn auch gern weiter.
Es gibt zwei Zeitebenen. In der Gegenwart treffen sich im verschneiten Brooklyn während eines starken Wintersturms drei einsame Menschen: Eine chilenische Journalistin, ein amerikanischer Professor, beide etwas über sechzig, und eine junge Frau aus Guatemala. Die Handlung wurde in diesem Erzählstrang durch die Verwicklungen um die Leiche einer jungen Frau bestimmt. Hier gibt es eine Reise, in vielerlei Hinsicht, i.e. sowohl zu einem bestimmten Ort, als auch zu sich selbst und zum eigenen Glück, zum Ende der Einsamkeit, durch bitter-süße Geschichte der neuen Liebe zweier reifer Menschen angereichert.
Noch spannender und stärker fand ich die Geschehnisse in der Vergangenheit: Ich reiste mit den drei Hauptfiguren zum Krieg in Guatemala, zum Militär-Putsch in Chile, nach Brasilien von damals. Sehr mutig spricht Allende diese akuten Themen an. Bildhaft wurde dargestellt, welche verheerenden Auswirkungen die Politik der USA auf das Leben der einfachen Menschen in Lateinamerika hat. Es fällt nicht schwer zu glauben, dass all diese Dinge tatsächlich stattgefunden haben, s. „Illegale Kriege“ von Daniele Ganser.
Faszinierende wie tragische Lebensgeschichten der Einwanderer in die USA wurden anhand eindrucksvoller Bilder vor Augen der Leser ausgebreitet. Hier wurde u.a. klar, warum sich diese Menschen gezwungen sahen, ihre Heimat zu verlassen. Auf ihren Schultern tragen sie all die unschönen Konsequenzen der Machtgier der Reichen.
Als Kontrast steht das Leben der weißen Amerikaner, der Großstadtneurotiker, voller Ängste da. Der Professor kam mir als Archetyp des weißen Amerikaners der Mittelschicht vor. Sohn eines jüdischen Einwanderers, dessen Lebensgeschichte wiederum auch recht typisch ist, war er in der Vergangenheit ein glühender Kämpfer für die Rechte der Einwanderer gewesen. Nun hat er resigniert und ist sehr verschreckt. Ängste und Neurosen bestimmen sein Handeln. Vom Kampfgeist keine Spur mehr. Politikverdrossenheit hat sich breit gemacht. Auch sehr bezeichnend für die heutige Zeit.
Jede Menge starker Frauen trifft man hier. Manches kam mir dabei sehr autobiographisch vor. Manches erinnerte stellenweise an „Das Geisterhaus“ von Allende, bloß einige Jahrzehnte später.
Männer kommen hier insg. weniger gut weg.
Grundlegende, existenzielle Fragen wurden hier gestellt und bildhaft in Szene gesetzt: Was ist Heimat? Was ist ein gutes, glückliches Leben? Was ist eine gute Ehe, eine gute Familie? Mutter-Sohn Beziehung wie Mutter-Tochter Beziehung sind auch eingehend thematisiert worden, und noch vieles mehr.
Paar mystische Elemente sind hier und dort, wie so oft bei Allende, wohl dosiert und passend, auch dabei.

Das Buch ist hochwertig gemacht: Festeinband in Violett, Schutzumschlag. Das Coverbild passt gut zum Inhalt. Die Schrift ist nicht zu klein. Gutes Papier. Jedes Kapitel fängt auf der rechten Seite an, hat man heute nicht oft. Schön als Geschenk.

Fazit: Fesselnd, mitreißend, meisterhaft erzählt. Kein Wohlfühlbuch, aber auch kein trauriges, eher ein lebenbejahendes mit gutem Ende. Ein beeindruckendes und bereicherndes Leseerlebnis. Sehr lesenswert.

Veröffentlicht am 10.08.2018

Stark! Literarisches Highlight dieses Sommers.

Das Feld
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„Das Feld“ von Robert Seethaler habe ich nicht gelesen, sondern gehört. Ungekürzte Autorenlesung. Und bin restlos begeistert! Unbedingte Lese- bzw. Hörpflicht!

Klappentext beschreibt den Inhalt sehr gut: ...

„Das Feld“ von Robert Seethaler habe ich nicht gelesen, sondern gehört. Ungekürzte Autorenlesung. Und bin restlos begeistert! Unbedingte Lese- bzw. Hörpflicht!

Klappentext beschreibt den Inhalt sehr gut: „Wenn die Toten auf ihr Leben zurückblicken könnten, wovon würden sie erzählen? Einer wurde geboren, verfiel dem Glücksspiel und starb. Ein anderer hat nun endlich verstanden, in welchem Moment sich sein Leben entschied. Eine erinnert sich daran, dass ihr Mann ein Leben lang ihre Hand in seiner gehalten hat. Eine andere hatte siebenundsechzig Männer, doch nur einen hat sie geliebt. Und einer dachte: Man müsste mal raus hier. Doch dann blieb er. In Robert Seethalers neuem Roman geht es um das, was sich nicht fassen lässt. Es ist ein Buch der Menschenleben, jedes ganz anders, jedes mit anderen verbunden. Sie fügen sich zum Roman einer kleinen Stadt und zu einem Bild menschlicher Koexistenz.“

Die toten Bewohner dieser kleinen Stadt, alle mit vollem Namen aufgeführt, erzählen ihre (Lebens-)Geschichten. Manche sind etwas länger, manche sind kurz, manche bestehen nur aus einem Wort. Und in (fast) jeder Geschichte kommt das Feld oder die Felder, in verschiedenen Kontexten, vor.

Der Charme des Ganzen entwickelt sich erst nach und nach. Tipp für Ungeduldige: Den Anfang, falls er nicht attraktiv genug vorkommen sollte, einfach durchhalten. Der Roman ist wirklich stark und absolut großartig. Spätestens nach einer Stunde, beim Hörbuch, findet man sich bestens zurecht und fühlt sich wohl, geborgen, aber auch gespannt und noch vieles mehr. Es entsteht eine Art Sog, da kann man nicht mehr aufhören, wobei Pauseneinlegen auch eine gute Idee ist, denn der Stoff ist reichhaltig und manchmal auch intensiv.

Die Vielfalt an Themen beeindruckt ungemein. Es geht um das Leben und alles, was es ausmacht: Liebe, Freundschaft, Familie mit all ihren hellen und dunklen Seiten, um Männer und Frauen, Krieg und Frieden, Wahrheiten und Lügen, um Jungsein und Altwerden, um menschliche Würde, um die Träume, und Fluch oder Segen, diese zu verwirklichen, um den richtigen oder falschen Partner, um das Leben verpfuschen, verprassen, einer Sucht anheimfallend, oder auch das Leben als ein unauffälliger Beamter verbringen, oder doch etwas wagen und am Ende nicht erreichen können uvm.

Die Vielfalt der Erzähltechniken ist ebenso spektakulär: mal kommt eine Stakkato-Etüde in kurzen, abgehackten Sätzen, mal überrascht uns der Autor mit einer Elegie. Später taucht ein spannendes längeres oder auch ein kurzes, knappes Stück. Dabei ist die Form nie ein Selbstzweck, sondern stets ein Mittel, das sein Ziel erreicht und die Leser in die Lebensgeschichten, Charaktere, die damit aufkommende Atmosphäre usw. eintauchen lässt.

Dieses Werk kommt mir wie ein großartiges, vielfältiges, von Talent und meisterhaftem Können geprägtes Musikstück vor, eine Sinfonie, die sämtliche Register des menschlichen Daseins zieht, das Ganze an die Leser/Zuhörer trägt und ihn dabei bestens unterhält.

Oder man betrachtet das als eine Portraitgalerie, bestehend meist aus einfachen Menschen: Handwerkern, Kaufleuten, Servicekräften. Der Bürgermeister ist aber auch dabei. So entsteht aus Puzzleteilchen nach und nach ein Bild. Der Gesellschaft wird Spiegel vor Augen gehalten. Dieses Gemälde macht nachdenklich: Was ist das menschliche Leben? Was ist Liebe? Was ist der Tod? Welche Bedeutung hat das alles? Uvm.

Mal musste ich aber auch auflachen, denn Humor ist genauso ein Bestandteil dieses Romans wie alles andere.

Viel kann man noch über dieses Werk schreiben, besser, man erlebt es selbst.

Es war eine ungekürzte Autorenlesung von 5 St. 21 Min.

Robert Seethaler hat sehr gut gelesen, wie ein Profi-Sprecher. Manchmal ist es von Vorteil, wenn der Autor selbst sein Werk interpretiert, hier ist es absolut der Fall. Kann mir hier keinen besseren Erzähler vorstellen, denn so unterschiedlich die Figuren sind, so liest er sie auch.

Fazit: Unbedingt lesen/ hören. Ein literarisches Highlight dieses Sommers.



Veröffentlicht am 07.08.2018

Wissenswertes übers Essen. Angenehm, amüsant, unterhaltsam.

Gastrologik
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„Gastrologik“ von Charles Spencer habe ich gern gelesen, einiges über die neue, „erstaunliche Wissenschaft der kulinarischen Verführung“ erfahren, und mich einfach wohl und gut unterhalten gefühlt, daher ...

„Gastrologik“ von Charles Spencer habe ich gern gelesen, einiges über die neue, „erstaunliche Wissenschaft der kulinarischen Verführung“ erfahren, und mich einfach wohl und gut unterhalten gefühlt, daher empfehle ich das Buch auch gern weiter.
Rund 310 Seiten, mit recht viel Text, sind in 14 Kapitel unterteilt. Das Ganze ist wie eine auf einander abgestimmte Mahlzeit arrangiert, sodass man unbedingt mit Amuse-Gueule, so heißt die Einführung, anfangen und sich sukzessiv durcharbeiten sollte: Schmecken (Kap.1), Riechen (Kap. 2), Sehen, Hören, Tasten. Hier wird erzählt, wie sich diese Sinne beim Essen auf die Wahrnehmung auswirken. Dass das Auge mitisst, das kennt man. Aber dass man auch zum Schmecken und Riechen z.B. das Hören und Tasten miteinbezieht, und wie das Ganze zu einem stimmigen Essen komponiert werden kann, Kap. 6, darüber soll man unbedingt selbst lesen. Charles Spencer erzählt leichtfüßig, amüsant und einfach wunderbar.
Zum Autor laut Klappentext: „Charles Spencer ist Professor für Experimentalpsychologie an der University of Oxford. Für seine Forschungen erhielt er zahlreiche Preise…“
Etwas Geschichte gibt es auch, Kap. 8, „Essen im Flugzeug“. Das war nicht immer schlecht, wie man erfährt, denn zu den Zeiten hatten die Betreiber der Fluglinien ganz andere Prioritäten. Das gute Essen sollte die Leute motivieren, ins Flugzeug zu steigen.
Ein extra Kapitel gibt es fürs personalisierte Mahl. Spannend.
Bei den Futuristen und ihrer Visionen, wie das Essen der Zukunft aussehen soll, ist Spencer am Anfang und am Ende des Buches. Dabei geht er auf die Themen wie „Essen und Big Data“ ein, „Das gesunde, nachhaltige Essen der Zukunft“ und gibt zum Schluss „Tipps für ein gesundes Leben“, die einem verraten, wie man weniger isst und das wenige mit allen Sinnen maximal genießt.
Für wen ist dieses Buch interessant? Für Gastronomen, die nach neuen Erkenntnissen suchen, um ihr Lokal und das Essen besser gestalten zu können. Auch für Marketingleute könnte es nützlich sein, denn hier werden die Erkenntnisse der Gastrophysik preisgegeben, die, wenn angewendet, was z.B. Verpackung angeht, zu höheren Absätzen führen können. Spencer erzählt von viele Experimenten, die er mit seinem Team in den angesagten Restaurants durchgeführt hat, um das Verhalten der Restaurantbesucher zu ergründen, wie sie z.B. auf schnellere oder lautere Hintergrundmusik oder auf die veränderte Beleuchtung: ganz dunkel oder in bestimmte Farben getaucht reagieren. Auch wie man das Essen wahrnimmt, wenn es auf farbigen Tellern oder Schalen oder Tablets (flache Computer) serviert wird, wie man das Essen schmeckt: süßer, salziger, knuspriger, wenn man bestimmte Klänge dabei hört, usw.
Das Buch ist hochwertig gemacht. Festeinband mit goldenen Mustern, so wie man es auf dem Cover sieht. Lesebändchen passend dazu. S/w Fotos, Diagramme, insg. 55 Abbildungen.
Weiterführende Literatur, ca. 12 S., sowie auch die Anmerkungen, ca. 11 S., sind nach Kapiteln geordnet, und stellen hpts. Fachliteratur auf Englisch dar.
Die kürzeren Unterkapitel sorgen dafür, dass man schnell fertig und immer versucht ist, ein Stück und noch paar Seiten weiter zu lesen.

Fazit: Insg. angenehm, amüsant, unterhaltsam. Man erfährt etwas Neues/Anregendes, das man anwenden kann, wenn man z.B. Freunde einladen und ein unvergessliches Mahl zubereiten möchte. Spencer spricht solche Gelegenheiten auch an mehreren Stellen explizit an. Das Buch ist also nicht nur für die Marketing- und Gastroprofies gemeint, sondern für jeden, der sich fürs gute Essen interessiert.
Gekürzt.

Veröffentlicht am 24.07.2018

Spannend, aufschlussreich, großartig. Highlight dieses Lesesommers!

Traurige Moderne
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Mit dem Buch habe ich einige erfüllte Stunden verbracht, viel Wissenswertes erfahren. Es gibt kaum einen wichtigen Aspekt, den Todd in seine Überlegungen nicht miteinbezogen hat. Die Ausführungen sind ...


Mit dem Buch habe ich einige erfüllte Stunden verbracht, viel Wissenswertes erfahren. Es gibt kaum einen wichtigen Aspekt, den Todd in seine Überlegungen nicht miteinbezogen hat. Die Ausführungen sind spannend, aufschlussreich, recht spektakulär und einfach großartig. Richtig gutes Futter fürs Hirn, daher empfehle ich das Buch sehr gern weiter.
Schon in der Einführung, und oft genug im weiteren Verlauf, musste ich beim Lesen denken: Er ist wirklich gut! So unabhängig in seinem Denken, einer, der den Eliten nicht nach dem Munde redet, sondern eigene Meinung hat und diese prima zu vermitteln weiß. So messerscharf die Analysen. Echt stark! Er sieht die Dinge klar und nimmt kein Blatt vorm Mund, redet Tacheles, u.a. wenn es um Eliten und ihre Interessen geht, um die Arrangements, die diese mit der Arbeiterklasse treffen uvm. Dabei wurde in britisch-amerikanische, französische, deutsche, japanische Eliten unterschieden und ihr Verhalten basierend auf den unterliegenden Familienstrukturen erklärt.
Das Buch ließ sich insg. sehr gut lesen. Komplexe Zusammenhänge wurden verständlich, sehr zugänglich erklärt. Todd kommt sehr sympathisch rüber, auch weil er ohne Kunstgriffe auskommt, um sich beim Leser interessant zu machen. Das was er zu sagen hat, erzählt er ganz nüchtern. Und das reicht völlig aus. So fesselnd sind seine Inhalte, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. Die Unterkapitel sind zudem kurz, was auch dazu verleitet, immer schön weiterzulesen.
Rund 500 Seiten sind in 18 Kapitel gegliedert, plus Vorwort der dt Ausgabe, plus „Anstoß“ und „Postskriptum“.
In der Einführung stellt Todd zunächst ein Modell vor, das in Anlehnung an Freud „Bewusstes, Unterbewusstes und Unbewusstes der Gesellschaften“ unterscheidet, was „eine geschichtliche Darstellung der menschlichen Gesellschaften und ihrer Veränderung“ möglich macht. S. 27. Weiter folgt u.a. die Familientypologie, die „reine Kernfamilie“, „Stammfamilie“, „exogame kommunitäre Familie“ usw. unterscheidet. Das wird man brauchen, um die späteren Ausführungen des Autors nachvollziehen zu können. Nach der Typologie kommt eine wohl begründete wie treffende Darstellung der Entwicklung der Menschheit aus anthropologischer und soziologischer Sicht von der Steinzeit bis heute.
Zwischendurch gibt Todd einige interessante Lesetipps und zitiert spannende Absätze aus diesen Werken, z.B. S. 333 „Closing the Collaps Gap“ von D. Orlov.
Das Beste kommt aber zum Schluss. Die Analyse der heutigen Lage, darunter die Erklärung der Wahl Trumps, Kap. 14. Die letzten etwa hundert Seiten, im Kap. 17 „Die Metamorphose Europas“, insb. „Der Triumph der Ungleichheit in Europa“, „Das postdemokratische Europa – ganz normal“ und „Postskriptum. Die Krise der westlichen Demokratie“ sind besonders aufschlussreich und lesenswert.
Im Postskriptum gibt Todd eine Art Ausblick und spricht u.a. über die postdemokratische Zukunft.

Fazit: Warum also „Traurige Moderne“ von Emmanuel Todd lesen? Viele Gründe gibt es hierfür. Z.B. um diese spannende, klare, unverstellte Sicht der Dinge kennenzulernen. Seine Erklärungen des Zeitgeschehens, die unterliegenden Muster der heutigen Entwicklung in Politik und Gesellschaft sind so plausibel und treffend, dass man sie einfach kennen MUSS. Diese Inhalte sollten zur Allgemeinbildung zählen. Das Buch gehört in jede gute Bibliothek. Schon allein all dies so klar und griffig, anhand von zahlreichen Tabellen, Grafiken, etc. präsentiert zu bekommen ist eine bereichernde und erfüllende Leseerfahrung.
5 wohl verdiente Sterne und unbedingte Lesepflicht.

Gekürzt.

Veröffentlicht am 19.07.2018

Bewegtes Leben einer Lebenskünstlerin. Charmant und gekonnt erzählt.

Franziska zu Reventlow
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Diese Biographie beschreibt auf eine feine, charmante, etwas romanenhafte Art, mit einem deutlichen philosophischen Anschlag, den Lebensweg einer bemerkenswerten, künstlerisch begabten Frau, die ihrer ...

Diese Biographie beschreibt auf eine feine, charmante, etwas romanenhafte Art, mit einem deutlichen philosophischen Anschlag, den Lebensweg einer bemerkenswerten, künstlerisch begabten Frau, die ihrer Zeit in Sachen persönlicher Freiheit, Frauenrechte uvm. weit voraus war.
Franziska zu Reventlow (1871-1918) wollte sich nicht in die gesellschaftlichen Konventionen ihrer Zeit zwängen lassen, die einem heute, insb. bezüglich der Rolle der Frauen, grausam wie haarsträubend erscheinen. „Das unanständigste Wort, das ein junges Mädchen um 1900 sagen konnte, hatte drei Buchstaben: Ich.“ S. 356. Franziska zu Reventlow lebte, wie es ihr richtig erschien, tat Dinge, die sie tun wollte. Natürlich musste sie dafür teuer bezahlen. Sie ließ sich aber kaum bekehren. Dazu war sie zu anders als ihre angepassten Zeitgenossen, so voller Leben, so klar und so frei im Kopf. Sie wollte erst Malerin werden. Auf jeden Fall ihre eigene Herrin sein. Sie hat früh mit dem prüden Elternhaus gebrochen und vieles ausprobiert: Unternehmertum, Schauspielerei, u.a. auch Romane aus dem Französischen übersetzt. Am Ende ist sie Schriftstellerin geworden. Und Lebenskünstlerin bis zum Ende geblieben.
Diese Lebensgeschichte ist vom Gesichtspunkt zwischenmenschlicher Beziehungen erzählt worden. Franziskas Männergeschichten bilden den Schwerpunkt, alles andere erscheint in dieser Darstellung eher nebensächlich, als eine Art schmückendes Beiwerk. Zwischendurch hatte ich meine Zweifel, ob diese Wahl eine optimale Lösung war. In der Mitte gab es viel von zwischenmenschlichen Verwicklungen: All die Männer mit ihren Geschichten und Präferenzen, all die z.T. chaotische Zustände, eine Art Karussell, bei dem einem schon beim bloßen Hinschauen leicht schwindelig wird.
Über die Liebe wurde hier intensiv, von diversen Blickwinkeln betrachtet, nachgedacht, ob tief oder oberflächlich, ob sie sich in Singular- oder Pluralform vollzieht. Auch über das Leben, nicht nur Fannys, wurde hier philosophiert, sowie über das Sterben, den Tod, den Sex, die non-konventionelle Kindererziehung, über Selbstwerdung, den richtigen Platz im Leben suchen und finden, Geldverdienen müssen, die Arbeit, die Rolle der Frauen uvm.
Die Biographie ließ sich recht angenehm lesen: manchmal poetisch, hier und da etwas abschweifend, nachdenklich und zum Nachdenken anregend. Eine Portion Feinhumorigkeit und Ironie, die auch Franziska zu Reventlow eigen waren, rundete das Lesevergnügen ab. „Humor ist eine Art Höflichkeit des Geistes angesichts der Unvollkommenheit der Welt. Franziska zu Reventlow besaß ihn in einem staunenswerten Maße, gepaart mit einer frappierenden Urteilskraft.“ S. 357.
Oft wurde aus ihren Tagebüchern und Romanen zitiert, im Text hervorgehoben durch Kursiv, was Franziska den Lesern noch näherbringt und tiefere Einblicke in ihr Wesen ermöglicht. Viele kluge, poetische, schöne Sätze trifft man in diesem Buch, die ganze Zitatenhefte füllen können:
„Das Glück schreibt nicht, es neigt nicht zur Mitteilsamkeit, es ist. Das ist ihm genug.“ S. 99.
„Wahre Komik ist nicht das Gegenteil des Leidens, sie erwächst aus dem tiefsten Grund des Leidens, und da weilt sie nach wie vor öfter.“ S. 108.
„Ich hab‘ dem Greuel zum Abschied einen Kuss gegeben, und er zerschmolz vollständig. Ob vielleicht doch etwas Wahres hinter all dieser verlogenen Fratzenhaftigkeit steckt?“ S. 282.
Das Buch ist prima gemacht: Festeinband in einem bemerkenswerten Blau, Lesebänchen, Umschlagblatt passend dazu. Schön als Geschenk.

Fazit: Es ist keine Biographie im klassischen Sinne. Als Sachbuch kommt sie unbedingt nicht rüber, eher wie ein Roman. Diese Erzählform wirkt sich aber durchaus vorteilhaft aus und passt zu Franziska von Reventlow. Eine bereichernde Leseerfahrung war diese Biographie auf jeden Fall. Paar erfüllte Lesestunden habe ich damit verbracht. Nach einer Pause lese ich sie bestimmt nochmals. Wohl verdiente 5 Sterne gibt es von mir und eine klare Leseempfehlung.