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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der einsame Killer

Blood on Snow. Der Auftrag
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Olav Johansen ist ein Auftragskiller – zwar einsam, aber in seinem Job auch sehr erfolgreich­. Doch dann bekommt er ein delikates Problem: Er soll die Frau seines Chefs töten und verliebt sich in sie. ...

Olav Johansen ist ein Auftragskiller – zwar einsam, aber in seinem Job auch sehr erfolgreich­. Doch dann bekommt er ein delikates Problem: Er soll die Frau seines Chefs töten und verliebt sich in sie. „Der Auftrag“ ist der Auftakt einer neuen Thriller-Reihe von Jo Nesbø, die unter dem Haupttitel „Blood on Snow“ erscheinen wird. Die Bücher sollen aber in sich abgeschlossen und nur lose miteinander verbunden sein. Ihre Gemeinsamkeit: Es geht um harte Kerle mit weichem Herz. Im ersten Teil ist das nun Olav, der Auftragskiller. Gleichzeitig sind die Bücher eine Hommage an die Pulp- und Noir-Romane früherer Zeiten: Ein Grund wohl auch, weswegen Nesbø den Thriller in der Vergangenheit angesiedelt hat. Die Geschichte spielt im Oslo der 1970er – eine Zeit, als das Heroin begann, in der Stadt zum Problem zu werden. Und auch das Format erinnert an die alten Pulp-Romane: Der Thriller hat nicht mal 200 Seiten. Mich hat dieses Buch extrem positiv überrascht. Das liegt zum einen an Nesbøs Erzählton: schlicht und präzise, aber auch melancholisch, düster, poetisch. Wirklich faszinierend wird der Roman aber durch seinen Protagonisten und dessen instabile Gefühlswelt: Da tötet Olav gerade noch einen Menschen, ohne mit der Wimper zu zucken und bekommt dann im nächsten Moment sentimentale Anwandlungen. Er stalkt einer jungen Frau hinterher, die er einmal vor der Zwangsprostitution gerettet hat und dichtet in einsamen Nächten an einem Liebesbrief herum. Und bald merkt der Leser: So wie Olav die Geschichte darstellt, kann es nicht sein. Obwohl die Geschichte so kurz ist, vermisst man nichts und sogar Olavs Charakter bekommt sehr viel Tiefe. Ein wirklich überraschend guter Thriller, mit einem verblüffenden Twist auf sprachlich hohem Niveau.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zwischen Dorfsatire und Alpenkitsch

Blasmusikpop oder Wie die Wissenschaft in die Berge kam
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In dem kleinen österreichischen Dörfchen St. Peter am Anger – hoch oben in den Alpen – läuft alles ein bisschen anders als im Rest der Welt: Hier hat noch alles eine Kontinuität. Die Kinder übernehmen ...

In dem kleinen österreichischen Dörfchen St. Peter am Anger – hoch oben in den Alpen – läuft alles ein bisschen anders als im Rest der Welt: Hier hat noch alles eine Kontinuität. Die Kinder übernehmen irgendwann den Familienbetrieb der Eltern, Tradition ist immens wichtig und die große weite Welt muss man gar nicht kennenlernen. „Hochgschissene“ braucht es im Dorf nicht. Johannes Gerlitzen widersetzt sich diesem Naturgesetz: Ein Bandwurm führt dazu, dass er sich für Würmer im Speziellen und die Wissenschaft im Allgemeinen zu interessieren beginnt. Eines Tages verlässt er sein Dorf, um in der Stadt ein Doktor zu werden. Das ist im Jahr 1960. Beinahe zehn Jahre später kehrt er in seine Heimat zurück. Als Johannes Großvater wird, nimmt er seinen Enkel unter die Fittiche, um auch aus ihm einen Wissenschaftler zu machen. Und in der Tat: auch den kleinen Johannes drängt es zu mehr als das, was sein Dorf zu bieten hat.

Zunächst einmal: Vea Kaiser hat in ihrem Debütroman bewiesen, dass sie erzählen kann. Sie schreibt sehr flüssig und geschliffen, stellenweise mit viel Sprachwitz. Man gleitet beim Lesen geradezu über die Geschichte hinweg. Allerdings kommt es aber nicht nur darauf an, wie man erzählt, sondern vor allem auch was man erzählt und da liegt der große Knackpunkt. Anfänglich ist der Roman tatsächlich eine ganz nette Satire auf das Dorfleben und Kaiser nimmt mit einem Augenzwinkern die Eigenheiten der Dorfbewohner, deren Angst vor Neuem und die dörfliche Engstirnigkeit aufs Korn. Gerade wenn man selbst auf dem Land aufgewachsen ist, kommt einem einiges doch bekannt vor und lässt einen schmunzeln. Doch irgendwann lässt die Geschichte sehr nach, sie plätschert episodenweise vor sich hin, hat keine Höhen, keine Tiefen. Vor allem ab dem Teil, wenn der junge Johannes im Mittelpunkt steht, wird das Ganze zu einer seltsamen Mischung aus kitschiger Alpensaga und Pennälerroman. Die ständigen Stadt- / Land-Stereotypen und Dorf-Klischees beginnen zu nerven und das geschmierte Ende des Romans will so gar nicht mehr zum Anfang passen. Netter Ansatz, so richtig überzeugt hat mich der Roman letztendlich nicht.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Wenn Musik verboten wird

Das Lied meiner Schwester
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Die Kunst ist frei – ein Ausspruch, der heute – zumindest in Deutschland und Europa – als so selbstverständlich hingenommen wird. Dass das nicht immer so war, zeigt ein Blick zurück in die Geschichte: ...

Die Kunst ist frei – ein Ausspruch, der heute – zumindest in Deutschland und Europa – als so selbstverständlich hingenommen wird. Dass das nicht immer so war, zeigt ein Blick zurück in die Geschichte: Als die Nationalsozialisten in den 1930er Jahren an die Macht kamen, begannen sie nach und nach Kunst, die sie als „entartet“ ansahen, zu verbieten. Das betraf nicht nur Bilder oder Bücher, sondern auch Musik: Schlager und Operetten jüdischer Musiker, Swing und Jazz, Werke politischer Komponisten – das Spektrum „entarteter“ Musik war riesig. Wie stark die Musik- und Kunstszene von den Nationalsozialisten beeinflusst wurde und was diese Einschnitte für Musiker in der damaligen Zeit bedeuteten, beleuchtet Gina Mayer in ihrem Roman „Das Lied meiner Schwester“.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die zwei ungleichen Schwestern Anna und Orlanda. Anna, die Ältere, Vernünftige, geht in ihrem Beruf als Krankenschwester auf, hat sich aber auch der Kirchenmusik verschrieben und spielt am Sonntag Orgel in der Kirche. Orlanda, die Sprunghafte, Emotionale, Leidenschaftliche, ist ausgebildete Operettensängerin. Bald entdeckt sie ihre Liebe zu Jazz und Swing und taucht tief in die Swing-Szene ein. Als die Nazis die Macht ergreifen, bekommen das sowohl die beiden Schwestern als auch deren Freunde zu spüren und jeder von ihnen wird auf eine andere Art und Weise in der Ausübung seiner Kunst eingeschränkt. Als die Situation immer schlimmer wird, gehen Anna und Orlanda in den Widerstand.

Gina Mayer hat sich sehr um Authenzität bemüht und man merkt, dass sie sehr gut recherchiert hat. Man erfährt einiges über die Musikszene der 1930er und -40er Jahre. Auch die Rolle der Evangelischen Kirche während des Dritten Reichs ist Bestandteil der Geschichte. Der Schreibstil ist sehr angehem, lebendig und emotional. Mayer gelingt es sehr gut, die Atmosphäre der damaligen Zeit zu transportieren: Die Angst vor Strafen, wenn man sich nicht regimetreu verhält. Die bodenlose Ungerechtigkeit jüdischen Künstlern gegenüber, die plötzlich nicht mehr auftreten durften. Die innere Verzweiflung der Musiker, weil sie ihre Kunst nicht mehr richtig frei ausüben können. Während sich Orlanda und Anna zur Wehr setzen, zerbrechen einige ihrer Freunde an der Situation.

Nicht ganz so perfekt gelungen sind Mayer allerdings ihre Charaktere beziehungweise deren Entwicklung: Vor allem Orlanda handelt zum Teil sehr unglaubwürdig. Auch ihr Ehemann Leopold lässt sich am Ende zu einer Handlung hinreißen, die nicht wirklich nachvollziehbar ist. Ein paar andere Figuren wirken wie Prototypen. Etwas lieblos und dahingeklatscht fand ich auch die Rahmenhandlung, die allerdings nur ein paar Seiten einnimmt.

Trotz dieser Schwächen ist "Das Lied meiner Schwester" aber im Großen und Ganzen ein interessanter historischer Roman, der mal eine etwas andere Seite des Nationalsozialismus behandelt, als andere Romane. Eine traurige, düstere Geschichte, die ich auf jeden Fall weiterempfehlen kann.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Zurück in die 80er

Mofaheld
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Mixkassetten, Rückspulgebühr und Dauerwellen – willkommen zurück in den 80er. Als Marcs Eltern ihr Reihenhaus räumen, taucht auch Marcs alte Schatzkiste wieder auf, prall gefüllt mit Fotos, Konzertkarten, ...

Mixkassetten, Rückspulgebühr und Dauerwellen – willkommen zurück in den 80er. Als Marcs Eltern ihr Reihenhaus räumen, taucht auch Marcs alte Schatzkiste wieder auf, prall gefüllt mit Fotos, Konzertkarten, Kassetten und anderen Dingen. Während Marc seine Schätze durchforstet, reist er in Gedanken zurück in seine Jugend, genauer gesagt ins Jahr 1986: Marc ist 15 Jahre alt und steckt mitten in der Pupertät. Und die ist geprägt von peinlichen Klamotten, ersten sexuellen Probeläufen, Bandproben im Keller seines Freundes Stucki und natürlich Mötley Crüe.

Lars Niedereichholz hat mit „Mofaheld“ einen sehr unterhaltsamen, witzigen Roman vorgelegt, der einen mit einem Schlag zurück in die 1980er katapultiert. Auch das Lebensgefühl pupertierender Jugendlicher bringt Niedereichholz so gut auf den Punkt, dass man sich sofort selbst wieder wie 15 fühlt. Der Schreibstil ist ein bisschen hemdsärmelig, aber auch sehr locker und flockig und eben extrem humorvoll. Ich musste an ganz vielen Stellen echt laut lachen. Die Figuren sind zwar zum Teil ein wenig überzeichnet, aber trotzdem auch authentisch. Marc ist mir sehr ans Herz gewachsen, gerade weil er ein bisschen peinlich und tolpatschig ist und bei ihm recht viel schief läuft. Richtig großartig fand ich aber Marcs Opa mit seinen trockenen Sprüchen und dann babbelt er noch so schön hessisch. Am Ende eines jeden Kapitels schlägt Niedereichholz dann aber ernstere Töne an und nimmt Bezug auf Tschernobyl – denn die Katastrophe hat ja auch das Jahr 1986 geprägt. Natürlich ist die Idee hinter dem Roman nicht besonders neu, trotzdem kann ich das Buch nur weiterempfehlen. Ein Buch voller Witz und Nostaglie – einfach tolle Unterhaltung.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Wir sind die Toten

1984
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In seinem dystopischen Roman „1984“ entwirft Orwell eine schreckliche Zukunftsvision: Die Welt ist aufgeteilt in die drei Supermächte Ozeaninen, Eurasien und Ostasien, die ständig Krieg miteinander führen. ...

In seinem dystopischen Roman „1984“ entwirft Orwell eine schreckliche Zukunftsvision: Die Welt ist aufgeteilt in die drei Supermächte Ozeaninen, Eurasien und Ostasien, die ständig Krieg miteinander führen. England und somit auch London – Handlungsort des Romans – gehören zu Ozeanien – ein totalitärer Präventions- und Überwachungsstaat. Die Menschenrechte sind dort rigoros eingeschränkt, es herrscht permanenter Mangel an allen möglichen Waren, die Bevölkerung wird in ständiger Angst gehalten und jeder bespitzelt jeden. Das System geht sogar so weit, die Gedankenfreiheit der Menschen zu beschneiden. An der Spitze des Systems steht ein scheinbar unsterblicher Führer – der große Bruder. Der Leser folgt nun Winston Smith, ein einfaches Parteimitglied, der im Wahrheitsministium arbeitet. Dort sorgt er dafür, dass die Vergangenheit der gegenwärtigen Parteilinie angepasst wird. Insgeheim hasst Winston die Partei aber und er beginnt immer öfter, das System zu hinterfragen. Sein innerer Widerstand bleibt aber nicht unbemerkt.

„1984“ ist für mich ein Klassiker, den jeder einmal gelesen haben sollte. Mich zumindest hat der Roman sehr beeindruckt und nachdenklich gestimmt. Orwell hat den Roman Ende der 40er Jahre, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg geschrieben und man merkt, dass der Roman unter dem Eindruck des Nationalsozialsmus, aber vor allem des Kommunismus entstanden ist. Orwell geht aber noch einen Schritt weiter und entwirft ein System, das noch diktatorischer und radikaler ist als alle Systeme zuvor. Es gibt überhaupt keine Privatsphähre mehr, sogar die Gedanken der Menschen werden überwacht und alles ist auf reinen Pragmatismus ausgelegt. Sogar die Sprache soll langfristig durch den sogenannten Neusprech ersetzt werden. Eine Sprache, die die Anzahl und das Bedeutungsspektrum der Wörter reduzieren soll, mit dem Ziel die Kommunikation noch besser kontrollieren zu können. Für Schönheit und Emotionen ist in dieser Sprache kein Platz mehr.

Extrem faszinierend fand ich die Atmosphäre, die Orwell in seinem Roman aufbaut: düster, beklemmend, eindringlich. Die ganze Zeit ahnt man, weiß man, dass es keine Hoffnung, kein happy End geben wird – auch wenn man sich das noch so sehr wünscht. Die Sprache ist sehr flott und modern, wenn auch anspruchsvoll. Obwohl das dramaturgische Tempo eher langsam ist und es längere Passagen zu gesellschaftstheoretischen Überlegungen gibt, fand ich den Roman durchgehend fesselnd. Am Ende steht man als Leser ein wenig allein gelassen da, mit vielen Fragen über die Gesellschaft, in der man lebt, im Kopf.

„Sie werden sich daran gewöhnen müssen, ohne sichtbare Ergebnisse und ohne Hoffnung zu leben. […] Es besteht keine Möglichkeit, daß zu unseren Lebzeiten eine sichtbare Veränderung eintritt. Wir sind die Toten.“