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Veröffentlicht am 04.06.2017

Politischer Roman und Familiensaga

Das Geisterhaus
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Die Geschichte einer Familie und die Geschichte eines Landes: In ihrem Erstlingsroman „Das Geisterhaus“ erzählt Isabel Allende über vier Generationen – von circa 1915 bis in die 1980er Jahre – die Geschichte ...

Die Geschichte einer Familie und die Geschichte eines Landes: In ihrem Erstlingsroman „Das Geisterhaus“ erzählt Isabel Allende über vier Generationen – von circa 1915 bis in die 1980er Jahre – die Geschichte der Familie Trueba. Ihren Aufstieg und ihren Fall. Der Roman ist aber auch eine Chronik der Ereignisse in Chile im 20. Jahrhundert. Eine besondere Rolle spielt vor allem der Militärputsch 1973, bei dem der drei Jahre zuvor demokratisch gewählte sozialistische Präsident gestürzt wurde. Im Mittelpunkt des Romans steht Esteban Trueba, der tyrannische Patriarch. Esteban stammt aus einfachen Verhältnissen und kommt durch harte Arbeit als Goldgräber zu Vermögen. Als Großgrundbesitzer bekämpft er die Arbeiterbewegung und beginnt durch seinen Jähzorn, seine Sturheit und seine Machtbesessenheit nach und nach auch seine Familie zu zerstören. Mit seinem Verhalten besiegelt er auch das Schicksal seiner Frau Clara, seiner Tochter Blanca und schließlich seiner Enkelin Alba, die der Leser ebenfalls begleitet. Ich muss zugeben, dass ich ein paar Seiten gebraucht habe, um in die Geschichte hineinzufinden. Gerade den etwas mystischen Part fand ich anfangs befremdlich: So kann Clara in die Zukunft sehen und ihre Schwester Rosa hat grünes Haar. Schwierig fand ich zu Beginn auch die Erzählperspektive: Auf der einen Seite ist Enkelin Alba die auktoriale Erzählerin der Geschichte, es gibt aber auch Passagen, die aus Estebans Sicht in Ich-Perspektive erzählt werden. Diesen Perspektivenwechsel fand ich zunächst sehr verwirrend, vor allem, weil man von Alba erst recht spät im Buch erfährt und anfangs also gar nicht weiß, wer denn jetzt hier erzählt. Und noch ein dritter Punkt hat mich gestört: Allende verwendet kein einziges Mal im Roman Jahreszahlen – man muss sich also irgendwie selbst anhand der beschriebenen Ereignisse zusammenreimen, in welchem Jahr man sich gerade circa befindet. Nichts desto trotz hat mich der Roman aber nach ein paar Seiten doch sehr gefangen genommen und am Ende war ich ziemlich begeistert. Das liegt zum einen an der wirklich grandiosen Handlung und auch an Allendes Schreibstil. Sie schreibt sehr bildhaft und poetisch und hat es irgendwie geschafft, dass die Geschichte noch sehr lange in mir nachgeklungen ist. Trotz der doch recht tragischen und düsteren Handlung, gelingt es ihr immer mal wieder einen sehr feinen Humor einfließen zu lassen. Sehr gelungen ist auch ihre Charakterzeichnung der Figuren – sie bekommen dadurch etwas sehr Menschliches, Authentisches. „Das Geisterhaus“ ist durchaus lesenswert: ein intelligenter, politischer Roman und eine fesselnde, dramatische, todtraurige Familiensaga.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Der Untergang des Osmanischen Reichs

An den Ufern des Bosporus
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1918 – der 1. Weltkrieg ist zu Ende und Europa jubelt. In der Türkei jedoch ist der Schrecken noch nicht vorbei. Das Land gehört zu den Besiegten und Istanbul wird von den Siegermächten belagert, die die ...

1918 – der 1. Weltkrieg ist zu Ende und Europa jubelt. In der Türkei jedoch ist der Schrecken noch nicht vorbei. Das Land gehört zu den Besiegten und Istanbul wird von den Siegermächten belagert, die die Stadt untereinander aufteilen. Das Osmanische Reich scheint dem Untergang geweiht. Dieser wechselvollen, aufrührenden Zeit widmet sich Theresa Révay in ihrem Roman „An den Ufern des Bosporus“. Im Mittelpunkt der Geschichte steht Leyla. Sie ist die Frau von Selim Bey, dem Sekretär von Sultan Mehmed VI. und lebt behütet mit ihren Kindern und ihrer Schwiegermutter in einem traditionellen Harem. Doch dann wird das prächtige Stadthaus der Familie von den Siegermächten beschlagnahmt und Selim wird gezwungen, einen französischen Offizier aufzunehmen. Derweil engagiert sich Leylas Bruder Orhan im Widerstand und bringt eines Tages einen verwundeten Kameraden ins Haus seines Schwagers, den Leyla heimlich gesund pflegen soll. Eine dramatische Liebegeschichte bahnt sich an und plötzlich findet sich Leyla selbst mitten im Widerstand.

Révay erzählt die Geschichte des Osmanischen Reichs nach dem 1. Weltkrieg und die grundlegenden Veränderungen für die Menschen sehr detailliert und eindringlich. Sie schildert, wie die verschiedenen Kulturen in Istanbul aufeinanderprallen, erzählt von den ersten Revolten, die aufflammen, bis hin zur Abschaffung des Sultanats 1922 und der Entstehung der heutigen Türkei. Auch die Lebensweise der Türken und ihre strengen Traditionen werden gut erklärt. Man merkt einfach, dass Révay wahnsinnig gut recherchiert hat. Mit Leyla haben wir eine starke Protagonistin, die zwar noch die alten Traditionen ihres Landes lebt, aber auch vom Anbruch der neuen Epoche fasziniert ist und sich von einem modernen Zeitgeist mitreißen lässt. Révay schreibt sehr flüssig, lebendig und bildhaft. Die Schauplätze – wie Istanbul oder die Landschaft Anatoliens – werden so bunt beschrieben, dass man glaubt, selbst dort zu sein. Weil Révay allerdings sehr viele historische Fakten in die Geschichte einbindet, wird der Lesefluss dadurch manchmal ein wenig gehemmt und auch die Schicksale der Protagonisten - so facettenreich und dramatisch sie auch sind - rutschen manchmal etwas arg in den Hintergrund. Nichts desto trotz ist „An den Ufern des Bosporus“ aber ein interessanter historischer Roman, bei dem man noch einiges dazulernt. Auf jeden Fall kann ich den Roman allen empfehlen, die sich für türkische Geschichte interessieren. Alle, die den Fokus des Romans auf der Liebesgeschichte erwarten – das suggerieren Klappentext und Cover nämlich – werden wohl eher enttäuscht sein.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Verbotene Liebe in einer dunklen Zeit

Die verbotene Zeit
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Zwei Zeitebenen, ein dunkles Geheimnis, Liebe und Verrat: Claire Winters Roman „Die verbotene Zeit“ gehört ganz klar in die Reihe der Bücher, in denen es um Familiengeheimnisse geht. Ein Genre, das ich ...

Zwei Zeitebenen, ein dunkles Geheimnis, Liebe und Verrat: Claire Winters Roman „Die verbotene Zeit“ gehört ganz klar in die Reihe der Bücher, in denen es um Familiengeheimnisse geht. Ein Genre, das ich immer wieder gerne lese, in dem es aber auch viel Kitsch gibt. Das trifft auf „Die verbotene Zeit“ schon mal nicht zu. Im Gegenteil: Der Roman ist mitunter einer der besten in diesem Genre, den ich je gelesen habe. Die Geschichte beginnt 1975 in London und wir lernen die junge Journalistin Carla kennen, die sich gerade erst von einem schweren Autounfall erholt. Das Tragische: An gut ein halbes Jahr vor dem Unfall kann sich Carla nicht mehr erinnern. Weil sie aber das Gefühl hat, von ihrem näheren Umfeld belogen zu werden, setzt sie alles daran, die verlorene Zeit zu rekonstruieren. In ihrem Notizheft findet Carla die Telefonnummer des Journalisten David Grant und erfährt von ihm, dass sie vor ihrem Unfall auf der Suche nach ihrer Schwester war. Anastasia verschwand vor 16 Jahren spurlos an der Küste von Cornwall und gilt seitdem als tot. Auf was war Carla vor ihrem Unfall gestoßen? Was verschweigen ihre Eltern ihr? Die Suche führt Carla in das Berlin der 1930er Jahre – in eine dunkle, grausame Zeit. Winter schreibt sehr lebendig, bildgewaltig und emotional. Von Anfang an wird man regelrecht in die Geschichte hineingezogen und kann das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Dazu trägt auch der gut ausgearbeitete Spannungsbogen bei. Die Charaktere sind sehr lebensecht und ihr Handeln plausibel. Da ein Teil der Geschichte im Berlin der 30er Jahre spielt, geht es im Roman natürlich zu großen Teilen auch um die Machtergreifung Hitlers. Wie Winter dieses historische Ereignis in ihrem Roman verarbeitet ist mehr als gelungen: Beinahe fassungslos verfolgt man als Leser mit, wie schnell sich die Ereignisse überschlagen: Da machen die liberalen Berliner Bildungsbürger 1932 noch Witze über die Nationalsozialisten und sind überzeugt, dass das nur eine vorübergehende Erscheinung ist. Nur knapp ein Jahr später werden aus Freunden und Nachbarn rechtlose Juden und wer sich gegen die Nazis stellt, ist plötzlich Volksfeind. Die Szenen, die Winter in diese Zeit gestellt hat, sind nicht nur extrem gut recherchiert, sondern auch sehr aufwühlend und machen betroffen. „Die verbotene Zeit“ ist ein wunderbar erzählter Roman über eine außergewöhnliche Freundschaft und eine verbotene Liebe in einer dunklen Zeit. Aber auch über große Verzweiflung und eine tiefe Schuld. Ein Roman, der unter die Haut geht.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Aus dem Alltag eines Lokalreporters

Die tote Kuh kommt morgen rein
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Schützenfeste, Liveticker über liegengebliebenen Busse oder Umfragen über das Wetter: In seinem halbdokumentarischen Roman „Die tote Kuh kommt morgen rein“ verarbeitet der Journalist Ralf Heimann seine ...

Schützenfeste, Liveticker über liegengebliebenen Busse oder Umfragen über das Wetter: In seinem halbdokumentarischen Roman „Die tote Kuh kommt morgen rein“ verarbeitet der Journalist Ralf Heimann seine Erlebnisse als Zeitungsredakteur in einer kleinen Lokalredaktion auf dem Land. Im Buch schickt Heimann sein Alter Ego nach Borkendorf, ein fiktives Kaff im Münsterland. Dort soll er ein Jahr lang in der Redaktion des Borkendorfer Boten die Schwangerschaftsvertretung für eine Kollegin machen. Seinen Lokalreporter-Alltag in Borkendorf schildert Heimann nun in 20 Episoden. Eine seiner ersten journalistischen Herausforderungen ist die Karnevalsprunksitzung im Ort, wo er gleich mal vom Vorsitzenden einen Zettel in die Hand gedrückt bekommt, verbunden mit der Anweisung: „Dat kannste allet so übernehmen!“ Heimann darf auch einen ganzen Samstag mit einem Taubenzüchter verbringen und eine Homestory über eine abgehalfterte Schlagersängerin schreiben, die seit über 30 Jahren keinen Song mehr rausgebracht hat. Sie ist aber der einzige Promi im Ort. Da ich selbst einige Jahre in einer Zeitungsredaktion in einer sehr kleinen Stadt gearbeitet habe, war ich natürlich besonders neugierig auf das Buch. Und ich muss sagen: Heimann hat eine scharf beobachtete, wirklich gelungene und dazu noch witzige Chronik des Lokalreporter-Daseins vorgelegt. Ich musste wirklich bei ganz vielen Szenen laut auflachen, weil ich ähnliche Erfahrungen gemacht habe bzw. vergleichbares erlebt habe. Natürlich sind einige Figuren etwas überzeichnet und hin und wieder sind einige Ereignisse leicht überspitzt dargestellt. Als Satire würde ich den Roman trotzdem nicht bezeichnen. Orte wie Borkendorf und Typen wie in diesem Roman gibt es wirklich. Und auch in Lokalredaktionen kann es so zugehen. Da gibt’s den übereifrigen Leserbriefschreiber – ein Lehrer, der seine Leserbriefe immer mit Zitaten großer Persönlichkeiten beginnt. Der fast 80-jährige Organisator des Lauftreffs, der die Terminankündigung jede Woche auf einem handgeschriebenen Zettel in die Redaktion bringt und dann bis Mittag sitzen bleibt. Und nicht zu vergessen der freie Mitarbeiter, der schon seit 30 Jahren grauselige Artikel liefert in denen „das Tanzbein geschwungen wird“ und in denen „sich im Anschluss die Angler erhoben, um den Toten zu gedenken“. Klar, dieser Roman ist jetzt nicht literarisch wertvoll, dennoch kann ich ihn allen empfehlen, die wissen möchten, wie es in einer Lokalredaktion zugeht. Ein sehr kurzweiliges, lustiges Buch, in dem Heimann aber auch die moderne Medienwelt und die Rolle der Zeitung in der heutigen Zeit hinterfragt.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Haarsträubend und unglaubwürdig

Der Nachtwandler
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Bislang war ich der Ansicht, dass man mit einem Fitzek eigentlich nichts falsch machen kann. Gehört er doch meiner Meinung nach zu den handwerklich zuverlässigsten Thriller-Autoren in Deutschland. Klar, ...

Bislang war ich der Ansicht, dass man mit einem Fitzek eigentlich nichts falsch machen kann. Gehört er doch meiner Meinung nach zu den handwerklich zuverlässigsten Thriller-Autoren in Deutschland. Klar, seine Bücher sind keine Hochliteratur und seine Geschichten sind schon oft ein wenig hanebüchen, aber man bekommt eigentlich immer eine gute, nervenzerreißende Gänsehautgeschichte mit überraschenden Wendungen geboten. „Der Nachtwandler“ nun war allerdings so überhaupt nicht mein Fall und ist das schlechteste Buch, dass ich je von dem Autor gelesen habe. Dabei ist die Idee hinter dem Roman ganz innovativ: Leon Nader ist Schlafwandler. Als Kind wurde er deswegen sogar psychiatrisch behandelt, weil es immer wieder zu gefährlichen Situationen kam. Mittlerweile gilt Leon als geheilt. Doch als seine Frau Natalie eines Tages unter mysteriösen Umständen verschwindet, fürchtet Leon im Schlaf schlimme Dinge getan zu haben. Um die Sache aufzuklären, befestig Leon sich eines Abends eine Stirnkamera an seinem Kopf, um seine nächtlichen Aktivitäten zu überwachen. Als er sich am nächsten Morgen die Bänder ansieht, entdeckt er schockierendes. Die Geschichte ist kurzweilig und temporeich geschrieben und es gibt auch immer wieder die bei Fitzek typischen überraschenden Wendungen. Anfangs fand ich den Thriller sogar noch richtig gut, vor allem auch, weil Fitzek ein paar wissenschaftliche Fakten zu Somnabulie – also Nachtwandeln – einbaut. Toll fand ich es anfangs auch noch, dass der Leser genauso wie Leon irgendwann nicht mehr genau unterscheiden kann, was Traum ist und was Wirklichkeit. Genauso wie Leon hat man das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Irgendwann jedoch nehmen die Überraschungen einfach überhand, man hat fast das Gefühl, im Sekundentakt mit neuen mysteriösen Begebenheiten überschüttet zu werden. So richtig gruselig ist es aber auch nicht. Die ganze Geschichte wird irgendwann einfach nur noch ein großes Durcheinander. Richtig schlimm wird es allerdings mit dem Showdown. Das fängt schon damit an, dass Fitzek fast sklavisch versucht alle zuvor aufgeworfenen Fragen zu lösen - das Ganze wirkt einfach sehr lieblos und dahingeklatscht. Auf das Ende kommt man als Leser übrigens garantiert nie – aber nur, weil die Auflösung der Geschichte sowas von den Haaren herbeizogen, unglaubwürdig und himmelschreiend unmöglich ist. Da hat sich sogar Fitzek selbst noch übertroffen. Ich werde Fitzek bestimmt noch viele Chancen geben, „Der Nachtwandler“ kann ich nicht empfehlen.