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Veröffentlicht am 04.06.2017

Derb und donnernd

Mittelreich
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Als Theater- und Filmschauspieler ist Josef Bierbichler vor allem für seine eigenwilligen und kantigen Darstellungen bekannt. Eigenwillig und kantig ist auch sein vom Feuilleton hochgelobter Roman „Mittelreich“. ...

Als Theater- und Filmschauspieler ist Josef Bierbichler vor allem für seine eigenwilligen und kantigen Darstellungen bekannt. Eigenwillig und kantig ist auch sein vom Feuilleton hochgelobter Roman „Mittelreich“. Ein durchaus sprachgewaltiges Werk, in dem Bierbichler mit offener Brutalität gegen Bigotterie und Nationalsozialismus wettert. Erzählt wird die Geschichte einer Bauern- und Gastwirtsfamilie an einem See im bayerischen Voralpenland – vom Ersten Weltkrieg bis in die 1980er Jahre. Im Mittelpunkt steht der Seewirt Pankraz – Wirtshauserbe wider Willen. Sein Vater hat das Gasthaus zur Jahrhundertwende mit eigener Kraft von einem kleinen Saisonlokal zu einer großen Ausflugswirtschaft hochgewirtschaftet. Aus einst armen Bauern wurden mittelreiche Bürger. Im Ersten Weltkrieg wird aber der älteste Sohn des alten Seewirts und eigentlicher Erbe des Hofs so schwer verletzt, dass sein Bruder Pankraz in die Fußstapfen des Vaters treten muss. Dabei wäre er doch lieber Künstler geworden. Als ihn später sein eigener Sohn Semi anfleht, ihn nicht auf das katholische Internat zu schicken, macht er die gleichen Fehler seines Vaters. Die fast 80 Jahre Familien- und auch deutsche Geschichte schildert Bierbichler sehr imposant und dicht. Sein Hauptaugenmerk liegt aber deutlich auf der Zeit um den Zweiten Weltkrieg und die Nachkriegsjahre. So erzählt er, wie der Nationalsozialismus gerade in der bayerischen Idylle auf fruchtbaren Boden fällt und auch noch bis weit in die 60er Jahre hinein beinahe verklärt wird. Erst kommen die Sommerfrischler, dann die Flüchtlinge und schließlich die Hippies aus der Stadt. Und immer wird die tiefsitzende Abneigung der Landbevölkerung gegenüber dem Fremden deutlich. Was den Roman ausmacht und auch einzigartig macht, ist seine Sprache: kraftvoll, derb, donnernd – oft aber auch sehr poetisch, fast schon sprachverliebt. Bierbichler ist kein Erzähler, der sich zurücknimmt. Er steht mächtig und selbstbewusst mitten in seiner Geschichte. Das ist aber auch ein Nachteil, denn neben der markigen Sprache wirken die Charaktere fast schon schlicht und die Handlung driftet zu oft ins Episodenhafte ab. Nicht richtig anfreunden konnte ich mich mit dem Schreibstil. So verwendet Bierbichler fast ausschließlich verschachtelte, verschwurbelte Partizipialsätze. Dazu kommen befremdlich viele sexuelle Szenen, die alle irgendwie brutal oder abartig sind. „Mittelreich“ ist ein bedrückender Antiheimatroman, der all das hervorholt, was sonst so gerne unter den Teppich gekehrt wird. Es gibt auch sehr viele intelligente und auch poetische Sätze. Oft erschien es mir aber so, als ob Bierbichler mit aller Gewalt versucht, Tabus zu brechen und seine Hasstiraden gegen alles und jeden geradezu mit dem Vorschlaghammer auf den Leser einprügelt. Ein interessanter Roman, der aber keine leichte Kost ist und ganz sicher kein Roman für zwischendurch.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Was wäre wenn?

Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner
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Was wäre wenn? – Bestimmt hat sich schon mal jeder irgendwann in seinem Leben diese Frage gestellt. So geht es auch Kati in Kerstin Giers Roman „Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner“. Kati ist ...

Was wäre wenn? – Bestimmt hat sich schon mal jeder irgendwann in seinem Leben diese Frage gestellt. So geht es auch Kati in Kerstin Giers Roman „Auf der anderen Seite ist das Gras viel grüner“. Kati ist eigentlich glücklich mit Felix verheiratet. Inzwischen haben sich aber Alltag und Berufsleben so sehr in ihr Liebesleben geschlichen, dass Kati immer öfter Zweifel kommen: Ist Felix wirklich der Mann, mit dem sie alt werden möchte? Als Kati Mathias kennenlernt, werden ihre Zweifel nur noch stärker. Bevor es aber so richtig kompliziert werden kann, hat Kati einen Unfall und kommt im Krankenhaus wieder zu sich – exakt fünf Jahre zuvor. Diesmal möchte Kati alles richtig machen: sich für den richtigen Mann entscheiden und noch so ein paar andere Sachen in ihrem Lebenslauf aufpolieren. Mir hat die Idee hinter dieser Geschichte extrem gut gefallen und Kerstin Gier hat ein weiteres Mal bewiesen, dass Frauenromane nicht unbedingt seicht, kitschig oder albern sein müssen. Gier erzählt die schon ein bisschen abgedrehte Geschichte sehr leichtfüßig und mit ganz viel Humor und Situationskomik. Gerade Katis Gedankengänge sind manchmal zum brüllen komisch. Es gibt aber auch ganz viele Passagen, die einen zum Nachdenken bringen. Ganz toll fand ich auch die vielen Zitate und Sprüche, die als Art Randnotizen im Buch auftauchen. Auch die Charaktere sind wieder wunderbar ausgearbeitet worden. Vor allem Kati muss man sofort ins Herz schließen. Ein wunderbarer, herzerfrischender Roman mit einer sehr tollen Botschaft.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Wer hat Nola getötet?

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
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Ein Buch im Buch, eine unmögliche Romanze, ein Kriminalfall, Gesellschaftsdrama und Kritik am Literaturbetrieb: Joel Dicker hat für seinen preisgekrönten Bestellseller-Roman einen außerordentlichen Mix ...

Ein Buch im Buch, eine unmögliche Romanze, ein Kriminalfall, Gesellschaftsdrama und Kritik am Literaturbetrieb: Joel Dicker hat für seinen preisgekrönten Bestellseller-Roman einen außerordentlichen Mix zusammengestellt – der durchaus lesenswert und unterhaltsam ist, aber ein paar kleine Schwächen hat.

Marcus Goldman, ein aufstrebender New Yorker Schriftsteller, leidet an einer Schreibkrise und sucht deshalb Hilfe bei seinem ehemaligen Professor, dem berühmten Autor Harry Quebert. Dieser lebt recht zurückgezogen im Städtchen Aurora in New Hampshire. Dann wird in Queberts Garten eine Mädchenleiche gefunden. Es handelt sich um die 15-jährige Nola, die 1975 spurlos verschwand. Das Pikante: Der damals 35-jährige Quebert hatte ein Verhältnis mit Nola. Quebert wird zum Hauptverdächtigen, sein Ruf ist ruiniert und ihm droht die Todesstrafe. Marcus glaubt aber an die Unschuld seines Mentors und begibt sich nun auf Spurensuche. Vordergründig wirkt „Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ wie ein klassischer „Whodunit“-Rätselkrimi. Bald schon aber merkt man, dass der Roman weitaus komplexer ist: Goldmans Verleger zwingt ihn geradezu den Fall „Harry Quebert“ literarisch auszuschlachten und über seine Recherchen ein Buch zu schreiben. Nach kurzem Zögern sagt Goldman zu. Ihm bleibt ja ohnehin kaum etwas anderes übrig. Durch seine Schreibkrise ist er nämlich sowieso schon vertragsbrüchig geworden und ihm drohen Schadensersatzforderungen seitens des Verlags, wenn er nicht bald ein neues Manuskript abliefert.

Durch die verschiedenen Erzählstränge, die der Roman hat, schafft es Dicker auch noch sehr ironisch den Literaturbetrieb und die Vermarktungsmechanismen der Buchbranche zu kritisieren. Und auch Themen wie den Preis des Erfolgs zu behandeln oder die Frage, was Menschen bereit sind alles zu machen, um ein bestimmtes Bild in der Gesellschaft zu wahren. Wirklich gelungen sind der Aufbau und die Dramaturgie des Romans. Mit Hilfe von Rück- und Vorblenden wird der Kriminalfall langsam aufgedröselt, doch immer wenn der Leser denkt, zu wissen wer der Täter ist, kommt doch wieder alles ganz anders. Trotz der vielen Wendungen und Erzählstränge wird die Geschichte aber nie unlogisch und Dicker verliert auch nie den roten Faden.

„Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert“ ist durchaus ein spannendes, unterhaltsames Lesevergnügen; warum der Roman aber bei Erscheinen so hochgejubelt wurde, kann ich nicht verstehen. Dafür waren mir die Figuren zu wenig ausgearbeitet und die Geschichte hätte durchaus verdichteter erzählt werden können, so gibt es doch immer wieder ein paar unnötige Wiederholungen. Auch sprachlich war der Roman nichts Besonderes – aufgrund der vielen guten Kritiken hätte ich da etwas Elaborierteres erwartet. Möglicherweise gefällt der Roman so gut, weil man auf recht viel bekanntes trifft. So hat der Roman Anklänge von Nabokovs „Lolita“. Es gab aber auch Szenen die mich an „Clockwork Orange“, „Catch me if you can“ und „Mord ist ihr Hobby“ denken ließen. Alles in allem: Herausragend fand ich den Roman nicht, er hat aber Unterhaltungswert.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Flucht vor der Wirklichkeit

Der unsichtbare Gast
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Sie wollen vor der Wirklichkeit fliehen und werden dann härter den je von ihr überrollt – Mit „Der unsichtbar Gast“ ist der schwedischen Autorin Marie Hermanson ein vielschichtiger, packender und stimmungsvoller ...

Sie wollen vor der Wirklichkeit fliehen und werden dann härter den je von ihr überrollt – Mit „Der unsichtbar Gast“ ist der schwedischen Autorin Marie Hermanson ein vielschichtiger, packender und stimmungsvoller Roman gelungen, der lange in einem nachklingt.

Der Leser begleitet Martina, die die Geschichte aus der Ich-Perspektive erzählt. Bei Martina läuft es momentan nicht gerade rund: In ihrem derzeitigen Job als Zimmermädchen wird sie ausgebeutet und dann wird ihr auch noch die Wohnung gekündigt. Da trifft Martina ihre alte Freundin Tessan wieder. Tessan erzählt von ihrer Arbeit als Haushälterin bei Florence Wendman, einer alten Dame, die auf Gut Glimmenäs lebt. Kurzerhand begleitet Martina Tessan
auf das Gut und ist begeistert: Auf dem ganzen Anwesen scheint die Zeit stehen geblieben zu sein und Martina kommt sich vor wie in einem Film, der in den 1940er spielt. Doch nicht nur das Haus hat sich seitdem nicht verändert, auch Florence lebt geistig im Jahr 1943 – da war sie ein junges Mädchen. Tessans Aufgabe als Haushälterin besteht im Endeffekt darin, die Vergangenheit aufrecht zu erhalten. Auch Martina findet eine Anstellung auf dem Gut, als Florences Sekretärin. Die beiden jungen Frauen glauben im Paradies angekommen zu sein: ein
angenehmer Job, ein gutes Taschengeld sowie freie Kost und Logis. Doch Martina bleibt nicht der einzige Neuzugang auf dem Gut, es gesellen sich bald noch drei weitere junge Menschen dazu. Alle haben sie eines gemeinsam: Sie sind nicht richtig in der Gesellschaft angekommen und wollen ihren Alltagsproblemen entkommen. Dass diese weltfremde Idylle, in die sich die fünf jungen Menschen flüchten, aber nicht für immer Bestand hat, liegt auf der Hand. Und eines Tages geschieht tatsächlich etwas, das eine Lawine ins Rollen bringt.

Hermanson hat ihren Roman sehr raffiniert konstruiert. Von Anfang an wird angedeutet, dass diese Idylle nicht lange währen wird. Über der Szenerie schwebt die ganze Zeit etwas Surreales, aber auch Beklemmendes und Bedrohliches. Wie Hermanson diese unheilverkündende Atmosphäre entwickelt und aufbaut, ist wirklich großartig. Dazu kommt ein flüssiger, klarer Schreibstil, der einen sofort in die Geschichte hineinzieht. Auch die Charaktere sind sehr lebendig und detailliert gezeichnet. „Der unsichtbare Gast“ ist ein kurzweiliger, spannender Roman, der aber auch verdeutlicht, wie empfänglich gescheiterte junge Menschen für Fluchtmöglichkeiten aus der Realität sind und was Gruppendynamik anrichten kann. Gerade die Beschreibung der Gruppendynamik im Buch war sehr gelungen. Eine absolute Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 04.06.2017

Hexenwahn in der frühen Neuzeit

Hexenliebe
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Der gefühlt tausendste Hexen-Roman auf dem Buchmarkt und dazu noch mit so einem kitschigen Titel – das waren meine ersten Gedanken, als ich den Debütroman von Marita Spang entdeckt habe. Aufgrund der vielen ...

Der gefühlt tausendste Hexen-Roman auf dem Buchmarkt und dazu noch mit so einem kitschigen Titel – das waren meine ersten Gedanken, als ich den Debütroman von Marita Spang entdeckt habe. Aufgrund der vielen guten Rezensionen und weil mich das Thema „Hexenverfolgung“ seit Jahren sehr interessiert, wollte ich dem Buch dann aber doch eine Chance geben. Eines kann ich schon mal sagen: Ich wurde nicht enttäuscht, der Roman hat meine Erwartungen sogar übertroffen.

Marita Spangs Roman beruht auf wahren historischen Begebenheiten beziehungsweise auf einer Legende aus Neuerburg bei Trier. Es ist das Jahr 1613 und rund um die Herrschaft Neuerburg werden erbarmungslos Hexen verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Die kleine Eifelherrschaft selbst scheint aber noch vom Hexenwahn verschont. Bis eines Tages die Tochter des Landesvaters Wilhelm von Leuchtenberg Opfer eines Anschlags wird. Auf der Suche nach einem Schuldigen wird nun auch in Neuerburg die Hexenverfolgung gnadenlos vorangetrieben. Claudia, die kluge Nichte des Landesvaters, muss hilflos mit ansehen, wie Unschuldige der Hexerei angeklagt und gefoltert werden. Mit ihren Verbündeten ersinnt sie schließlich einen gefährlichen Plan, um das System mit seinen eigenen Waffen zu schlagen. Marita Spang schreibt sehr fesselnd, atmosphärisch und eindringlich. Sprachlich hat sie sich der damaligen Zeit angepasst, was den Roman besonders authentisch macht. Die Protagonisten sind alle sehr detailliert ausgearbeitet und handeln glaubhaft. Spang hat zudem auch extrem gut recherchiert und kann dem Leser somit sehr viel Hintergrundwissen zum Thema „Hexenwahn und Hexenverfolgung“ liefern. Besonders gut und nachvollziehbar wird dargestellt, wie es denn überhaupt zu diesem extremen Hexenwahn und den Verfolgungswellen in der frühen Neuzeit kommen konnte. So sind es im Jahr 1613 Unwetter, Missernten und Kälteeinbrüche, die für Unmut und Existenzängste in der Bevölkerung sorgen. Dazu kommen noch Seuchen, die durch mangelnde Hygiene ausbrechen. Auch der bald nahende dreißigjährige Krieg ist schon zu spüren. Schuld an all dem Leid seien Zauberer und Hexen, glaubten die Menschen.

Spang räumt auch mit dem Vorurteil auf, dass allein die katholische Kirche Treiber der Hexenverfolgung war oder dass die Opfer fast nur kräuterkundige Frauen waren. Die Verfolgung geschah auch aus der Bevölkerung heraus und es konnte im Prinzip jeden treffen, willkommene Opfer waren nicht selten wohlhabende Bürger. Denn auch Geldgier spielte eine große Rolle bei der Hexenverfolgung, wurde doch der Besitz der verurteilten Menschen eingezogen. Gerade die Hexenmeister verdienten nicht schlecht daran.

„Hexenliebe“ ist ein gut recherchierter, packender historischer Roman, der den Leser in die frühe Neuzeit entführt und ein düsteres Stück deutsche Geschichte aufzeigt.