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Veröffentlicht am 26.08.2019

Ein großer amerikanischer Roman

Der Gesang der Flusskrebse
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In ihrem Debütroman befördert Delia Owens den Leser nicht nur in die Vergangenheit (die 1950er bzw -60er Jahre), sondern auch in eine geo-topografische Zone, die den meisten fremd sein dürfte: ...


In ihrem Debütroman befördert Delia Owens den Leser nicht nur in die Vergangenheit (die 1950er bzw -60er Jahre), sondern auch in eine geo-topografische Zone, die den meisten fremd sein dürfte: das Marschland an der Küste North Carolinas - wo Land und Meer ineinander übergehen, dort spielt sich Kyas Geschichte ab.

Auf den ersten Blick ist das Buch rau wie die Naturgewalten. Es beginnt mit dem Auffinden einer Leiche im Prolog und dem harten Alltag des Mädchens Kya in den Sümpfen, die bereits mit sieben Jahren zur Eremitin und absoluten Außenseiterin wird. Verlassen von Mutter und Geschwistern, der Willkür des gewalttätigen Vaters ausgeliefert, als "Sumpfgesindel" von den Dorfbewohnern abgestempelt - eine "Nell" 2.0 gewissermaßen. Man hat als Leser pures Mitleid mit der zunächst Siebenjährigen.

Im Kontrast zur Handlung steht allerdings von Anfang ab die poetische Prosa bzw. der unglaublich zarte, vorsichtig-zurückhaltende Erzählton, vor allem in den malerischen Naturbeschreibungen. Dieser Ton scheint die Geschichte wie ein Rettungsnetz zu überlagern, um sie gleichsam davor zu schützen in den Verdacht zu geraten, ein banaler Justizkrimi mit Lokalkolorit und einer vom Südstaaten-Slang der Figuren geprägten Dialoge zu sein.

Nein, ein einfacher Whodunit-Krimi ist es nicht, der hier auf zwei Zeitebenen - ab 1952 (Kyas Kindheit und Heranwachsen) und 1969 (nach dem Mord, später gibt es noch einen Ausblick in die Zukunft) - erzählt wird, es gibt zunächst kaum offensichtliche Spannungselemente, der Mord spielt erstmal eine Nebenrolle.

Ganz langsam baut sich diese Coming-of-Age-Geschichte auf, in der wir erfahren wie das "arme", isolierte Mädchen Kya und der "reiche", privilegierte Junge Chase zu Opfern (und/oder Tätern) wurden - jede/r auf seine bzw ihre Art. Hier wird mit dem alten literarischen Antagonismus männliches versus weibliches Prinzip gespielt, schon bei Goethe ein beliebtes literarisches Motiv und aktueller denn je. Kya (deren eigentlicher Name Catherine Danielle Clark lautet) steht für die ewig weibliche "Mutter" Natur, das Ursprünglich-Echte, wohingegen der Mann Chase Andrews für die entfremdete Kultur der modernen Welt steht, den Menschen in seiner von der Natur abgewandten Differenziertheit, der aber im tiefsten Inneren, so interpretiert es die Naturforscherin Kya, seinen tierischen Trieben folgt (Frauen sind für ihn Trophäen, er jagt um des Jagens willen, den Frauen und auch dem Glück hinterher). Diese Diskrepanz führt dazu, dass er Kya gleichsam anzieht und gleichzeitig aufgrund ihrer Außenseiterposition in der Gesellschaft, abstößt.
Kya hingegen geht völlig in der Natur auf, sie ist eins mit ihr. Alle Versuche, ihr die erzwungene Kultur der sich von allem Natürlichen entfremdeten Gesellschaft, in der Frauen unpraktische Kleidung und Stöckelschuhe tragen, aufzudrücken, schlagen fehl. Vorurteile, Rassentrennung, der schnöde Mammon, bigotte Religion, Unechtheit (die Natur ist dort eine Fake-Natur aus Farbe und Plastik, nur eine Chimäre und wird, wo es geht, zurückgedrängt um gleichförmige Häuser zu bauen) prägen diese moderne, ach so kultivierte Welt, in der Kya nicht sein möchte und mit der sie doch immer wieder auf negative Weise konfrontiert wird, mit der sie sich auseinandersetzen muss und von der sie teilweise auch angezogen wird. Kya sieht die menschliche Gesellschaft zunehmend mit der Brille der Naturforscherin und weiß, dass alles künstliche Verhalten die eigentlich natürlichen Instinkte und Triebe des Tieres Mensch nur übertünchen und nicht ausrotten kann.

Dann ist da noch Tate, der Dritte im Bunde, der die Dreiecksbeziehung komplettiert. Er verkörpert die positiven Seiten der Kultur, allen voran Bildung und Wissen. Tate verhilft Kya zu sich selbst zu finden, zu Autonomie und Emanzipation. Er ist der Geradlinige, der Gute, doch auch er ist zunächst ganz modern zerrissen zwischen Gefühl und Verstand und den Möglichkeiten, die sich ihm bieten, seine Rolle als (gebildeter) Mann in einer von Männern dominierten Welt zu erfüllen und seine Bestimmung zu finden. Ist Kya seine Bestimmung?

Der Roman ist nicht zuletzt ein "Ökoroman". Das Ökosystem Marsch, das Kyas Heimat und Forschungsgegenstand ist, spielt die zentrale Rolle, ist der eigentliche Protagonist. Was für die meisten Menschen dreckiges Brachland ist, ist Kyas Lebenselixir und Heimat. Das Überleben des Systems Marsch ist schicksalhaft für das "Marschmädchen", das eigentlich eine Marschforscherin ist. Delia Owens, die selbst studierte Biologin ist, beschreibt diese Natur so wunderbar, dass man darüber nicht viele Worte verlieren muss.

Gute Literatur regt zum Nachdenken an und lässt den Leser nicht unbeeindruckt zurück, spielt mit immer gültigen Menschheitsthemen und ist doch aktuell. Ich würde sagen, dieser komplexe Roman schafft das, in all seinen Facetten.

Ich brauchte dennoch mehrere Anläufe und es fiel mir anfangs schwer, mich auf die Geschichte und ihre scheinbar ausweglose Trostlosigkeit einzulassen. Sehr langsam, aber umso intensiver konnte ich mich schließlich ganz in die doch an vielen Stellen traurige Erzählung vertiefen. Nicht nur, aber auch dank der metaphorischen Lichtblicke (wie den Lutscher am Boden der Plastiktüte, die Federn im Baumstumpf, die Möwen auf Kyas Füßen, die Wiesen voller Schneegänse in Kyas Gedanken, etc.), die das Buch erhellen wie vereinzelte Sterne das dunkle Marschland, wie die Hand, die einen letztendlich doch aus dem Sumpf zieht.

Das Ende und die Auflösung des Falls haben mich etwas irritiert, wenn auch überrascht. Leider driftet die Autorin mit diesem Ende etwas zu sehr ins Kitschige, Unglaubwürdige ab, was dem Gesamtbild aber dennoch keinen Abbruch tut.
Ein schöner, ein besonderer, ein nicht alltäglicher Roman. Traurig und doch versöhnlich.