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Veröffentlicht am 01.11.2020

Enigmatisch-packender Schauerroman

Haus der Geister
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"I blame Charles Dickens for the death of my father." So lautet der kuriose erste Satz dieses historischen Romans von 2013, der in der Tradition des englischen Schauerromans steht. Er greift Motive der ...


"I blame Charles Dickens for the death of my father." So lautet der kuriose erste Satz dieses historischen Romans von 2013, der in der Tradition des englischen Schauerromans steht. Er greift Motive der "Gothic novel" von Charlotte Brontës "Jane Eyre" bis hin zu Daphne du Mauriers "Rebecca" auf und generiert doch gleichzeitig einen ganz eigenen individuellen Zugang zum Genre. Auch Elemente des Horrors, des Kriminalromans und des Psychothrillers werden in "This House is haunted" verarbeitet.

London 1867: Die 21-jährige Eliza Caine verliert nach einer Lesung von Charles Dickens ihren geliebten Vater und einzigen engeren Verwandten (die Mutter starb bei der Geburt ihrer jüngeren Schwester). Während ihr Vater als Entomologe am Britischen Museum beschäftigt war, ist Eliza Lehrerin an einer Schule für Mädchen, wo sie die 5-6-jährigen unterrichtet. Aufgewühlt vom plötzlichen Verlust ihres Vaters, sieht die junge Frau eine Anzeige für eine Stelle als Gouvernante in Norfolk. Begierig ihrer Einsamkeit in London zu entfliehen, kündigt sie ihre Stelle als Lehrerin und macht sich auf den Weg in die ihr unbekannte Grafschaft. Nachdem bereits die Reise mit unheimlichen Zwischenfällen einherging, erlebt Eliza bei ihrer Ankunft auf “Gaudlin Hall” schier Unglaubliches: Die beiden Kinder Isabella und Eustache empfangen sie, von Erwachsenen fehlt jede Spur. Und das ist nur der Anfang von einer Kette von unerklärlichen Ereignissen, die die Protagonistin auf eine harte Probe stellen.

"Gaudlin Hall" ist ein typisches englisches Herrenhaus, das schon bessere Tage gesehen hat und damit prädestiniert als Schauplatz für eine "Gothic novel". Aber nicht nur das abgewirtschaftete Herrenhaus selbst erzeugt eine gruselige Atmosphäre. Auch die Bewohner oder vielmehr ihre Abwesenheit, lassen beim Leser viel Raum für Schauder und Spekulationen über die wahre Natur ihres Verschwindens. Zahlreiche Nebenfiguren spinnen ein Netz aus Gerüchten und Geschichten, aus dem Eliza sich einen Weg zur Wahrheit bahnen muss. Sie ist eine starke Protagonistin, die niemals an ihrem eigenen Verstand zweifelt. Bodenständig, mutig und sympathisch versucht sie die Abgründe von “Gaudlin Hall” auf eigene Faust zu ergründen.

Was mir besonders gefallen hat: Der Roman strotzt nur so vor Intertextualität. Neben Charles Dickens (wir erinnern uns an den ersten Satz), der mit seinen Texten und auch als extrem erfolgreicher Autor der viktorianischen Zeit, in der der Roman spielt, quasi leitmotivisch erwähnt wird, werden noch viele andere AutorInnen bzw. Ihre Werke genannt. Neben Shakespeare, den Eliza gerne zur Sprache bringt, wird u.a. die Lektüre von Jane Austen (“Pride & Prejudice”) sowie George Eliot bzw. Mary Ann Evans (“Silas Marner”), die zur Handlungszeit des Romans noch lebte, erwähnt.

Als Schauerroman und “moderne” Gothic novel kann ich diesen Roman, bei dem dem Leser niemals langweilig wird, unbedingt empfehlen.

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Veröffentlicht am 28.10.2020

Trauriges Manifest einer Übriggebliebenen

Ungebunden
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Beziehungen lassen sich nicht erzwingen, Liebe ist unberechenbar. Also kann uns in unseren modernen differenzierten Zeiten voller unbegrenzter Möglichkeiten auch niemand garantieren, dass wir in unserem ...

Beziehungen lassen sich nicht erzwingen, Liebe ist unberechenbar. Also kann uns in unseren modernen differenzierten Zeiten voller unbegrenzter Möglichkeiten auch niemand garantieren, dass wir in unserem Leben einen (oder mehrere) Partner finden, mit ihm oder ihr eine Familie gründen und im Alter händchenhaltend auf der Gartenbank sitzen. Die Zeit der Konvenienzehen ist vorbei und somit entscheiden auch nicht mehr unsere Eltern, mit wem wir durchs Leben gehen. Wir entscheiden es - scheinbar, denn was machen, wenn wir niemals ein Gegenüber finden, das genau das auch will und zwar mit uns? Von exakt diesem Problem handelt Malin Lindroths Essay "Ungebunden", ein schmales Sachbuch von gerade einmal 112 Seiten. Für sie heißt das Problemphänomen "Alte Jungfer" und die Autorin bezeichnet sich selbst als solche: Sie ist Mitte fünfzig, unverheiratet, kinderlos, heterosexuell und hatte seit ihren frühen Zwanzigern keine feste Beziehung mehr, nur noch zwanglose Affären. Eine "Jungfrau" im herkömmlichen Sinne ist sie also nicht, sie hat es nur nicht geschafft, eine dauerhafte feste Beziehung zu einem männlichen Gegenpart einzugehen und eine Familie zu gründen. Für die westliche Gesellschaft, die für Frauen immer noch die konventionelle Lebensform Familie mit eigenen Kindern vorsieht, ist sie also eine Gescheiterte. Vor allem für Frauen ist Beziehungslosigkeit, die in den meisten Fällen auch mit Kinderlosigkeit einhergeht, ein Stigma.

Lindroth dekonstruiert nicht das Klischee von der Alten Jungfer, im Gegenteil. Sie weigert sich, ihre "Altjungfernschaft" als Triumph anzusehen und sie etwa als individualistische Entscheidung für ein autonomes Leben zu stilisieren, denn das war sie nicht. Die Liebe hat sich einfach nicht ergeben. Obwohl sie als Frau ihren Beitrag zur Gesellschaft anderweitig geleistet hat, nämlich als Journalistin, die zum Wissenserwerb und kulturellen Überbau ihres Landes beigetragen hat, sieht sie sich als erfolglos an, denn in der Welt der Liebe und Familie hat sie es nicht geschafft zu prosperieren. Aus dem Essay spricht sehr viel Verbitterung und ganz unverhohlen auch Neid gegenüber den Frauen, die es eben geschafft haben, dem Schicksal der "Alten Jungfer" zu entgehen. Lindroth feiert alle anderen Altjungfern der Geschichte, wie z.B. Bertha von Suttner, die ihre ganze Liebe eben nicht in einen Mann und Familie, sondern beispielsweise in wohltätiges Handeln gesteckt haben.

Sollte man sich selbst als "Alte Jungfer" definieren, würde ich "Ungebunden" nicht als Gute-Nacht-Lektüre empfehlen, denn ich finde der Grundtenor zieht schon etwas runter, macht die Leserin traurig statt ihre Lebenssituation als Möglichkeit zur Selbstentfaltung und als modernen weiblichen Lebensentwurf zu feiern. Vielleicht ist aber genau das der Sinn dieses Buches: Lindroth ist unfreiwillig kinderlos und Single geblieben und das findet sie einfach doof, ungerecht und niederschmetternd. Dahinter steckt ganz viel Seelenschmerz, den die Autorin in ihrem "Manifest einer Übriggebliebenen", wie ich es nennen möchte, verarbeitet. Ich kann sie verstehen, würde sie gerne in den Arm nehmen und finde das Thema auch sehr wichtig, dennoch bin ich mir unsicher, ob die Lektüre für die Zielgruppe bereichernd ist oder ob sie einfach nur noch mehr deprimiert.

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Veröffentlicht am 25.10.2020

Meisterin der feinen Ironie

Zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht
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Dieses Buch war für mich in jeglicher Hinsicht eine Überraschung, denn eigentlich mag ich Erzählungen nicht besonders. Auch Sport im Allgemeinen und Tennis im Besonderen kann ich nur wenig abgewinnen. ...

Dieses Buch war für mich in jeglicher Hinsicht eine Überraschung, denn eigentlich mag ich Erzählungen nicht besonders. Auch Sport im Allgemeinen und Tennis im Besonderen kann ich nur wenig abgewinnen. Dennoch habe ich mich auf die autobiografischen Erzählungen von Andrea Petković eingelassen - zum Glück, denn sonst wären mir ein paar schöne Stücke kleiner Prosa entgangen, die eine ordentliche Portion Lebensweisheit und viele weise Betrachtungen einer noch jungen Frau und Sportlerin enthalten.

Petković nimmt uns mit auf eine literarische Reise durch ihr Leben und ihre Psyche. Sie erzählt von ihrer beständigen Furcht vor der Niederlage, die nicht nur auf dem Tennisplatz, sondern auch hinter jeder Ecke, in der Straßenbahn, im Klassenzimmer und vor allem aber in ihrem Kopf lauert. Humor, Literatur und Freundschaft sind ihre ständigen Begleiter im Kampf gegen die Angst vor dem Scheitern auf dem Tennisplatz, vor Verletzungen und auch gegen die vor dem Auffallen. Als Einwandererkind aus dem ehemaligen Jugoslawien (geboren wurde sie 1987 im bosnischen Tuzla) lernt sie schnell, sich anzupassen. Der Tennissport, so schwierig und fordernd er auch ist, wird zum Glückstreffer ihres Lebens, zur Möglichkeit sich aus dem eigenen Milieu herauszubewegen, die Welt kennenzulernen. Und dennoch, das zeigt uns die Autorin mit ihren Erzählungen, ist auch nicht jede glänzende Tennistrophäe aus dem Gold, das einem ein sorgloses Leben ohne Chaos, Zweifel und Enttäuschungen beschert, denn "zwischen Ruhm und Ehre liegt die Nacht" und die kann mitunter lang, düster und einsam sein.

Ja, es geht naturgemäß viel um Tennis in diesen Erzählungen. Die Autorin nimmt uns mit auf die Grand-Slam-Turniere, wo wir braungebrannten und gut gelaunten Australiern begegnen (Australian Open), rauchenden und modisch gekleideten Franzosen (French Open), hochnäsigen, Erdbeeren-mit-Sahne essenden Engländern mit Hut (Wimbledon) und schließlich schlecht gelaunten Großstadtneurotikern in Petkovićs Lieblingsstadt New York (US Open). Aber auch ihre Erlebnisse bei den weniger weltbekannten Turnieren, das intensive Training in Bulgarien beispielsweise, beeindrucken. Man sieht die Anstrengung, den vergossenen Schweiß auf der sonnenverbrannten Haut förmlich vor sich und gleichzeitig spürt man die Lebensfreude, die die Autorin bei allen Strapazen ausstrahlt, ihren Humor, ihre feine Ironie, mit der sie den Unwägbarkeiten des Daseins trotzt.

Philosophisch sind viele ihrer Aussagen - man merkt, es ist eine intellektuelle Sportlerin die hier schreibt und vor allem eine, die liest. Am besten hat mir dann auch das Kapitel "Best day ever" gefallen, in dem Petković uns von ihren Lieblingsbüchern und -autoren berichtet.

Mit ganz viel Selbstironie, Selbstreflexion und Selbstkritik erzählt Andrea Petković häppchenweise die Geschichte ihres Lebens. Mir hat das sehr gut gefallen - Chapeau!

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Veröffentlicht am 25.10.2020

Wie "Hamnet" zu "Hamlet" wurde

Judith und Hamnet
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Shakespeare als Vaterfigur und Familienmensch - das ist der radikal neue erzählerische Ansatz von Maggie O'Farrells Roman "Hamnet" (Dt. "Judith und Hamnet"). Das größte literarische Genie aller Zeiten ...

Shakespeare als Vaterfigur und Familienmensch - das ist der radikal neue erzählerische Ansatz von Maggie O'Farrells Roman "Hamnet" (Dt. "Judith und Hamnet"). Das größte literarische Genie aller Zeiten - umgeben und reflektiert von seiner Familie. Das Dramatis Personae dieses Romans im Kern: Der ehrgeizige Vater John (Shakespeare), Handschuhmacher aus Stratford-upon-Avon; seine Frau Mary (Arden), die Mutter des Genies und seiner Geschwister, von denen einige auch vorkommen (Gilbert, Eliza); die Ehefrau Agnes (eigentliche Lesart: Anne), Tochter eines Schäfers, Freigeist und Seherin, Heilerin, Kräuterfrau; ihr leiblicher Bruder Bartholomew; ihre Stiefmutter Joan und deren Kinder; schließlich die Kinder von Agnes und William Shakespeare: Susanna & die Zwillinge Judith und Hamnet. Und natürlich: Der Barde selbst, zunächst Lateinlehrer, dann "Handschuhvertrer" in London, dann voll und ganz Theatermensch: Schauspieler, Regisseur, Intendant und schließlich und vor allem: Dramatiker, Poet, literarisches Genie ohne Gleichen - “not of an age but for all time”.
Das Kuriosum: Shakespeare bleibt die einzig namenlose Figur des Romans. Die Erzählstimme bezeichnet ihn lediglich als "der Ehemann" oder "der Vater", Nachnamen werden auch nicht verwendet. Das ist ebenfalls sehr radikal und spannend: Das größte Individuum der Literaturgeschichte, über das wir de facto so wenig wissen, wird in diesem Roman seiner Identität und seiner Individualität auf gewisse Weise beraubt und das ist so großartig, mutig und radikal, dass es mir den Atem raubt.
Auf zwei Zeitebenen wird die Handlung erzählt: Die Geschichte von Hamnets Tod im Alter von 11 Jahren im Jahr 1596 ist die Haupthandlung. Alternierend wird in Rückblicken die Beziehung von Agnes und Shakespeare chronologisch erzählt. Im Mittelpunkt steht dabei Agnes, die Ehefrau und Mutter von Shakespeareas drei Kindern. Sie ist das Zentrum dieser Familie, die einen schweren Verlust erleidet, fast daran zerbricht und am Ende durch diesen Verlust, der in Kunst transformiert wird, wieder zueinander findet.
Die Handlung, die im Roman beschrieben wird, ist manchmal statisch wie auf einem Gemälde und gleichzeitig lebendig, virulent und flirrend. In Stratford geschieht alles ganz ruhig, gemächlich und besonnen, während die Szenen in London einem überfüllten Wimmelbild gleichen. Die Sprache ist einfach, natürlich, greifbar und passt so wunderbar zum Beschriebenen, dass es schon fast schmerzt, wie akkurat und auf den Punkt sie ist. Auch in der Übersetzung kommt das rüber, die Übertragung ins Deutsche ist zu 100% gelungen, meiner Meinung nach.
O'Farrell verwendet viele Sprachbilder sowie Onomatopoesie, also lautmalerische Wendungen, die eine sinnliche Kulisse erschaffen und das Geschehen im Kopf des Lesers lebendig werden lassen: Das wiederholte Klopfen an einer Tür, das Geräusch des Waschens auf dem Waschbrett, die Äpfel auf ihrem Winterlager, die durch menschliche Bewegung vibrieren. Das macht die Erzählung ungeheuer sinnlich und plastisch - einfach lebendig.
Die Autorin hat Elemente des magischen Realismus in die Handlung verwoben: Es gibt unerklärliche Vorkommnisse, also “Dinge zwischen Himmel und Erde, die sich der Schulweisheit entziehen”, um "Hamlet" sinngemäß zu zitieren. Gänsehaut erzeugen nicht nur die Vorahnungen von Agnes sondern auch die allwissende Erzählstimme, die über alle Entwicklungen - vergangene, zukünftige und gegenwärtige - im Leben der Familie Shakespeare Bescheid weiß. Magisch ist aber auch die Tatsache, dass Hamnet in “Hamlet” weiterleben wird und die Möglichkeit, dass endliches Leben in unsterbliche Kunst transformiert werden kann.
"(Judith und) Hamnet" ist aber auch der Roman einer Fernbeziehung. Eines liebenden Mannes und Vaters, der als Pendler lebt und der nur in der Großstadt die Arbeit machen kann, die er möchte. Eines Menschen aus einfachen bürgerlichen Verhältnissen, der es zum reichsten Mann von Stratford bringt, ohne dort wieder richtig zu leben - er bevorzugt seine Klause, die Junggesellenwohnung in der Stadt. Die Familie Shakespeare lebt ohne einander. Diese Komponente und das Thematisieren der Infektionskrankheit Pest, verleihen dem Roman einen modernen Anstrich.
Muss man “Stratfordianer” sein, um den Roman genießen zu können? Man muss sich schon - “willing suspension of disbelief” falls man dieser Theorie nicht Folge leistet - ganz einlassen auf die klassische Lesart, dass ein Handschuhmacherssohn aus Stratford-upon-Avon, der fernab höfischer Zirkel und ohne universitäre Bildung aufwuchs, diese weltberühmten Dramen und Gedichte schrieb und nicht etwa nur der “Strohmann” eines adeligen Verfassers war.
Ich könnte noch so viel über dieses Buch schreiben, es hat so viele Aspekte und wird mich sicher noch lange begleiten.
"Hamlet" ist ein Meisterwerk und “(Judith & )Hamnet" ist ein Meisterwerk unserer Zeit. Ob es zeitlos wie “Hamlet” ist, wird die Zeit zeigen.

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Veröffentlicht am 20.10.2020

“Kabale und Liebe” mit den “Räubern”

Die Gabe der Sattlerin
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Historische Romane funktionieren in der Regel dann, wenn sie uns glaubhaft vermitteln können, dass sich die erzählte Geschichte in der dargestellten Zeit genau so hätte abgespielt haben können. Dieses ...

Historische Romane funktionieren in der Regel dann, wenn sie uns glaubhaft vermitteln können, dass sich die erzählte Geschichte in der dargestellten Zeit genau so hätte abgespielt haben können. Dieses Gefühl der historischen Authentizität beim Leser zu erzeugen, gelingt Ralf H. Dorweiler mit "Die Gabe der Sattlerin" in jedem Fall. Für die Zeit der Lektüre sind wir einfach davon überzeugt, dass eine junge Sattlerin namens Charlotte, eine Räuberbande rund um den im 18. Jahrhundert berüchtigten Räuber Hannikel, der Arzt und Dichter Friedrich Schiller sowie der verschwendungssüchtige Herzog Carl Eugen von Württemberg auf einem Marbacher Gestüt im Sommer 1781 aufeinandergetroffen sind (in der historischen Wirklichkeit war das nicht der Fall). Zahlreiche interessante Nebenfiguren sowie Schauplätze in Württemberg, Baden und dem Schwarzwald (damals Hoheitsgebiet der Habsburger) komplettieren den Eindruck eines lebendigen historischen Romans. Das Setting also stimmt schon mal.

Alle Hauptfiguren in diesem Roman haben eine Mission, sie sind getrieben von der Jagd nach ihrem ganz persönlichen Glück. Die (fiktive) Protagonistin Charlotte, Tochter eines Sattlers, möchte der Ehe mit einem 20 Jahre älteren Amtmann entgehen und flieht mit unbekanntem Ziel auf ihrem Pferd Wälderwind einen Tag vor der anberaumten Hochzeit aus ihrem Heimatort Märgen. Der junge Regimentsarzt Friedrich Schiller möchte endlich seinen ihm zustehenden Sold erhalten und alle Leute behandeln dürfen, die bei ihm vorsprechen, nicht nur die Soldaten aus Carl Eugens Regiment. Außerdem muss er sein Theaterstück "Die Räuber" für die Mannheimer Bühne adaptieren. Zu seinem Verdruss wird er als Aushilfs-Rossarzt ans herzogliche Marbacher Gestüt geschickt, dabei sind ihm Pferde eigentlich suspekt…
Seine Durchlaucht, der Herzog von Württemberg, möchte seine langjährige Mätresse, die Gräfin von Hohenheim, heiraten, aber die Kirche macht ihm einen Strich durch die Rechnung. Einstweilen lenkt er sich mit der Jagd nach extravaganten Geschenken für sie ab und auch sich selbst möchte er um ein exklusives Reitpferd aus Venedig bereichern, für das außerdem ein prunkvoller Sattel benötigt wird (hier kommt Charlotte ins Spiel). Carl Eugens Hoffaktorin Karoline Kaulla (eine großartige Persönlichkeit des 18. Jahrhunderts) sieht die schwindelerregenden Ausgaben des Herzogs mit Skepsis. Und dann sind da ja auch noch die Räuber um Hannikel, die, wie sollte es auch anders sein, räubern wollen bzw. müssen.

Ralf Dorweiler hat sich mit diesem Buch sehr viel vorgenommen, wie er auch im Nachwort betont. Die Handlung wird vor allem von der lebendigen Darstellung der historischen Figuren getragen. Die Dialogszenen sind eine große Stärke des Buches, sie haben mich sehr gut unterhalten und warfen mitunter auch ein neues Licht auf Schiller und Carl Eugen, den Herzog von Württemberg, die beide sehr komplexe Persönlichkeiten waren. Madame Kaulla hat mich begeistert, toll dass sie mir hier vorgestellt wurde. Für den subtilen Humor und die Situationskomik gibt es nochmal einen großen Pluspunkt. Die Handlung um Charlotte ist mir leider mitunter etwas zu melodramatisch ausgefallen. Ein Verehrer weniger hätte meines Erachtens auch gereicht. Das ist aber auch schon der einzige Kritikpunkt, den ich habe.

Im Großen und Ganzen ein wundervoller historischer Roman, der uns das Württemberg des
18. Jahrhunderts und seine facettenreichen Persönlichkeiten authentisch näher bringt.

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