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Veröffentlicht am 30.06.2020

Historischer Politthriller der Extraklasse

Das schwarze Band
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“Regeln lenken den weisen Mann. Der Dummkopf befolgt sie.” Dieses Zitat des wunderbaren Oscar Wilde ist dem Buch vorangestellt. Ja, ja, die lieben Regeln. August Emmerich ist zwar Kriminalkommissar beim ...

“Regeln lenken den weisen Mann. Der Dummkopf befolgt sie.” Dieses Zitat des wunderbaren Oscar Wilde ist dem Buch vorangestellt. Ja, ja, die lieben Regeln. August Emmerich ist zwar Kriminalkommissar beim Dezernat “Leib und Leben” in Wien, aber an polizeiliche Vorschriften oder Regeln im eigentlichen Sinne hält er sich nicht allzu gerne. Schon gar nicht wenn sie ihm “von oben herab” aufoktroyiert werden von irgendwelchen Anzugträgern ( “Lackaffen”).
Als er den neu gewählten Bundeskanzler und ehemaligen Polizeipräsidenten Schober in dessen Anwesenheit persönlich beleidigt, ziehen seine Vorgesetzten die Reißleine. Ihre Meinung: Emmerich müsse diszipliniert und für 10 Tage in der Schwarzenbergkaserne weggesperrt werden. Erst nach erfolgreicher Absolvierung des polizeiinternen “Bennimmkursus’” darf er wieder “auf der Straße” ermitteln, schafft er es nicht, droht ihm ewiger Innendienst. Und das, wo gerade ein brutaler Mord an zwei Nackttänzerinnen in der Brigittenau auf dem Ermittlungsplan steht. Ferdinand Winter, ehemals Freiherr von Winter, ist nun auf sich allein gestellt und muss, um die Ermittlungen nicht an den ungeliebten Kollegen Peter Brühl zu verlieren, alleine in die gnadenlos undurchsichtige Wiener Unterwelt abtauchen.

Nicht nur der Wiener Hochsommer 1921 ist heiß. Das chaotische Wien der Nachkriegszeit und jungen Republik Österreich ist ein mehr als heißes Pflaster. Aufgrund der zunehmenden Inflation und des Devisenhandels werden die Reichen immer reicher, die Armen immer ärmer. Und jeder versucht sein Glück in dieser Stadt. Hier geht es um Alles oder Nichts, Himmel oder Hölle. Wunderbar spielt Alex Beer die Paradies/Höllen/Sündenpfuhl-Thematik auf ihrer metaphorischen Klaviatur. Das drückend warme Wetter untermauert das Gefühl des Lesers, an einem unerträglich heißen, höllischen Ort gelandet zu sein. Unerbittlich zeigt sich der “Moloch Wien” im Juli 1921 also von seiner besonders unangenehmen, diabolischen Seite.

Der vierte Band in der “August-Emmerich-Reihe” ist durch und durch politisch, ein historischer Politthriller allererster Güte. Der ursprüngliche Mordfall an zwei Freudenhaus-Mädchen zieht weite Kreise und die Parallelhandlung rund um Emmerich in der Kaserne ist auch nicht ohne Belang für das große Ganze, wie sich zunehmend zeigt. Die Autorin bringt ganz viele gesellschaftliche Brennpunkte und politische Brandherde der jungen Republik Österreich in ihrem feurigen Plot zusammen. Inhaltlich ist die Übervorteilung des Devisen besitzenden Geldadels, der den “echten” Adel in Österreich seit dem Adelsaufhebungsgesetz inoffiziell abgelöst hat, nur eine der sozialen Ungereimtheiten, die im Roman angesprochen werden. Das titelgebende “schwarze Band” fungiert dabei als Falkenmotiv und zieht die Erzählstränge am Ende zusammen.

Damit wären wir auch schon bei unserem “Antihelden-Ermittler”. Was August Emmerich angelangt, so macht er sich keine Illusionen über die gesellschaftlichen Zustände. Aus seiner Perspektive ist “das Leben, dieses elende Verräterschwein”, eine ungerechte Ausweglosigkeit. Um die Vergangenheit des ehemaligen Waisenkindes Emmerich besser zu verstehen, sollte man wohl die Vorgänger-Bände gelesen haben (auch ich werde und will das unbedingt nachholen). Es geht in diesem Band um seine private Situation als alleinerziehender Stiefvater dreier Kinder, der über seine Herkunft nur spekulieren kann. Schon lange habe ich keine literarische Figur mehr so “echt” und attraktiv gefunden wie Emmerich. Seine Figur ist einmal mehr Beweis dafür, dass Frauen glaubwürdige und anziehende männliche Protagonisten schreiben können.

Wenn es nicht so furchtbar kitschig klingen würde, würde ich sagen: Ich bin wie atemlos durch die Seiten geflogen. Aber irgendwie beschreibt es mein Leseerlebnis am besten. Ich war an einer Stelle richtig erschrocken, als ich plötzlich bei der Hälfte des Buches angekommen war.

Das Buch endet mit einem sehr fiesen Cliffhanger und ich kann nur hoffen, dass Alex Beer in der nächsten Zeit ganz viel Zeit zum Schreiben findet! Top - unbedingt lesen!


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Veröffentlicht am 24.06.2020

Enigmatisch, empirisch, elitär

Die Oxford-Morde
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Da ich Universitätsromane sehr mag und auch klassische Krimis, hat "Die Oxford-Morde" mein Interesse geweckt. Der Kriminalroman erschien im Original bereits im Jahr 2003 und 2006 auch als Übersetzung im ...

Da ich Universitätsromane sehr mag und auch klassische Krimis, hat "Die Oxford-Morde" mein Interesse geweckt. Der Kriminalroman erschien im Original bereits im Jahr 2003 und 2006 auch als Übersetzung im Eichborn-Verlag unter dem Titel "Die Pythagoras-Morde". 2008 wurde er als "Die Oxford-Morde" für Hollywood verfilmt. Er stammt von Guillermo Martínez, einem argentinischen Mathematiker, der in Oxford studierte und ist damit zum Teil autobiographischen Einflüssen geschuldet. Im Roman geht es eben auch um einen jungen argentinischen Mathematikstudenten (der namenlose Ich-Erzähler), der für einige Zeit nach Oxford geht. Die Handlung und die Morde, die passieren, sind rein fiktiv.

Der Roman ist ein typischer Vertreter des Genres Universitätsroman, engl. "campus novel", denn er spielt in der bekanntesten Universitätsstadt der Welt: Oxford. Es geht um Wissenschaft - hier ist es hauptsächlich die Mathematik - und die beiden Hauptfiguren sind dementsprechend ein Professor und ein Doktorand, wir bekommen aber auch Einblicke ins nicht-akademische Milieu der Stadt. Der echte ermittelnde Polizist Petersen ist eher eine Nebenfigur, der die Denkweise von Oxfords geistiger Elite eher kurios anmutet. Seldom und der Doktorand sind sozusagen wissenschaftliche Berater der Polizei.

Die renommierte englische "Times" schrieb zum Erscheinen des Originals, dass der Krimi selbst für Leser "mit wenig Sinn für Mathematik ein Hochgenuss" sei. Ich persönlich kann jedenfalls nicht behaupten, dass ich alle wissenschaftlichen Gedankengänge der Protagonisten nachvollziehen konnte bzw. mit brennendem Interesse verfolgt habe. Theoreme und Axiome sowie abstrakte Probleme der Logik sind gedanklich einfach nicht meine Welt. Es gibt einige Stellen, an denen über solche mathematischen Gedankenspiele philosophiert wird. Oftmals liest sich der Krimi deshalb wie Auszüge aus einer eklektizistischen Überblicksvorlesung über mathematische Hypothesen. Auf ca. 200 Seiten werden viele Themen angeschnitten, aber nur eine geistige Bewegung wird etwas näher beleuchtet und die führt dann auch zum Schlüssel des Verbrechens.

Die Handlung - es passieren im Umfeld Arthur Seldoms Morde, die mit kryptischen Symbolen versehen sind - erinnert an die Robert-Langdon-Romane von Dan Brown. Wer hier allerdings einen actiongeladenen Symbolismus-Thriller erwartet, ist fehl am Platz. Eine rasante Schnitzeljagd findet nicht wirklich statt - nach jedem Mord erfolgt erstmal ein ausgiebiges "Brainstorming" des unfreiwilligen Ermittler-Duos. Sie gehen an den Fall wie an ein mathematisches Problem heran und versuchen den Mörder mit ihrer empirischen Denkweise zu überführen. Zum Ende hin schlägt die Handlung Kapriolen. Es gibt eine überraschende Wendung nach der nächsten und man fragt sich: wer ist jetzt hier der Mörder?

Ich fand diesen Roman interessant und relativ kurzweilig und kann ihn für Leser von Büchern, die im Universitätsmilieu spielen, empfehlen und auch solchen, die sich gerne mit abstrakten Denkmustern beschäftigen und klassische Krimis bevorzugen.

Fazit: Ein intellektueller Whodunit, gelegentlich etwas verkopft, aber durchaus gut konstruiert und mit einer überraschenden Auflösung.

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Veröffentlicht am 24.06.2020

Zwei Mathematiker im Wunderland - Metatextualität und dunkle Geheimnisse

Der Fall Alice im Wunderland
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Während ich "Die Oxford-Morde" mit anerkennendem, aber auch etwas distanziertem Interesse gelesen habe, hat mich dieser zweite Oxford-Kriminalroman aus der Feder von Guillermo Martínez vollends überzeugen ...

Während ich "Die Oxford-Morde" mit anerkennendem, aber auch etwas distanziertem Interesse gelesen habe, hat mich dieser zweite Oxford-Kriminalroman aus der Feder von Guillermo Martínez vollends überzeugen und begeistern können. “Der Fall Alice im Wunderland” ist erstmals im Jahr 2019 erschienen, im Gegensatz zum Vorgängerband, der bereits 2003 publiziert wurde. Man merkt, dass sich der Autor in dieser Zeit literarisch extrem weiterentwickelt hat.

Die Handlung des Romans ist im Jahr 1994 angesiedelt. Für den Ich-Erzähler, der mit seinem Autor den Anfangsbuchstaben des Vornamens (G.) teilt, beginnt sein zweites Studienjahr in Oxford. Nachdem er und Logik-Professor Seldom im vorigen Jahr die "Oxford-Morde" lösten, sollte es für den Doktoranden nun etwas ruhiger zugehen. Seldom aber nimmt den Argentinier mit zu einer Sitzung der Lewis-Carroll-Bruderschaft, einem Verein von Wissenschaftlern, die sich der Erforschung von Leben und Werk des Erfinders von "Alice im Wunderland" verschrieben haben. Eine junge Doktorandin soll eine Entdeckung gemacht haben, die die Tagebücher Lewis Carrolls betrifft, die sie bei der Sitzung vorstellen möchte. Leider kommt es nicht dazu und der der Bruderschaft angehörende Seldom und sein Austauschstudent müssen mal wieder kriminalistisch denken, um einem tödlichen Rätsel auf die Spur zu kommen.

Mir ging es wie dem namenlosen Ich-Erzähler: Ich wusste kaum etwas über die Biographie von Lewis Carroll, schon gar nicht, dass er Mathematiker in Oxford war und eigentlich Charles Lutwidge Dodgson hieß. Umso mehr überrascht haben mich die ganzen Fakten und Enthüllungen, die im Roman über ihn gemacht werden. Martínez hält sich wohl an die tatsächlichen Forschungsergebnisse, die über Carroll existieren bzw. an Debatten über gewisse Vorlieben des viktorianischen Schriftstellers, die umstritten sind. Fiktiv ist die Bruderschaft und ihre Mitglieder, auch Oxford ist keine 1:1-Abbildung der realen Universitätsstadt, wie der Autor im Nachwort schreibt.

Wir haben es mit einem klassischen Krimi à la Arthur Conan Doyle zu tun. Seldom gelangt mithilfe seiner intellektuellen Betätigung (als Professor für Logik/Mathematik) zu Schlüssen, von denen ihn einer zur Aufklärung der rätselhaften Mordserie führt. Unterstützt von seinem Doktoranden G., der ihm assistiert und ihm gelegentlich die notwendigen Denkanstöße verleiht, bzw. ihm manchmal sogar einen gedanklichen Schritt voraus ist. Das Paar erinnert schon etwas an das berühmteste Ermittlerpaar der Krimiliteratur: Sherlock Holmes und Dr. Watson. Petersen, der eigentliche Kriminalpolizist, ist mal wieder der, der bei der Aufklärung des Verbrechens den Kürzeren zieht und staunend mit ansehen darf, wie die Mathematiker den komplexen Fall lösen - ganz wie Inspector Lestrade bei Conan Doyle. Im Gegensatz zum ersten Band ist, wie in einem Agatha-Christie-Krimi, ein geschlossener Personenkreis beteiligt, aus dem jeder der Täter sein könnte. Das macht diesmal besonders Spaß, zumal die “Verdächtigen” alle verschrobene Wissenschaftler (leider wird nicht bei allen klar, aus welcher Disziplin sie stammen) sind, die alle Bücher über Lewis-Carroll geschrieben haben und sich locker den “Fall Alice im Wunderland” ausgedacht haben könnten.

Ich liebe Krimis, die sich mit verschollenen Dokumenten, dunklen Geheimnissen und literarischen Vorlagen befassen. “Der Fall Alice im Wunderland” hat mich in dieser Hinsicht komplett überzeugt, denn hier strotz alles vor Metafiktionalität und literarischen Referenzen.
Das Buch ist wunderbar geplotted worden und viel gefälliger geschrieben als der erste Teil, der mathematisch und philosophisch "abgehobener" daherkommt.

Fazit: Ein wunderbar konstruierter literarischer Metakrimi, der den Leser auf viele spannende Irrwege “ins Wunderland” führt und gleichzeitig wunderbar unterhält.

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Veröffentlicht am 22.06.2020

Humboldt’sche Ideale

Unter den Linden 6
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Die Berliner Alma Mater, die wir heute unter dem Namen Humboldt-Universität kennen, hieß Anfang des 20. Jahrhunderts noch Friedrich-Wilhelms-Universität "Unter den Linden". Zu dieser Zeit spielt der Debütroman ...

Die Berliner Alma Mater, die wir heute unter dem Namen Humboldt-Universität kennen, hieß Anfang des 20. Jahrhunderts noch Friedrich-Wilhelms-Universität "Unter den Linden". Zu dieser Zeit spielt der Debütroman von Ann-Sophie Kaiser "Unter den Linden 6" (die heutige Adresse der Universität). Die Autorin verknüpft in ihrem Roman die Schicksale dreier Frauen, die für ihr Menschenrecht auf Bildung hart kämpfen müssen. Dabei wählt sie für ihre Darstellung eine historische Figur aus, die Physikerin Lise Meitner (1878-1968) und zwei fiktive Frauen: Hedwig (eine privilegierte Tochter eines Industriellen und später Studentin) und Anni (ein Dienstmädchen, das nach Bildung und Wissen strebt). Alle drei Hauptfiguren, aus deren Sicht abwechselnd erzählt wird, werden von fiktiven und historischen (Otto Hahn, Max Planck, etc.) Nebenfiguren flankiert - eine gängige Praxis in historischen Romanen.
Die erzählte Zeit umfasst die Jahre 1907 bis 1915. Es sind Jahre des Aufbruchs für die deutschen Frauen - im Laufe dieser Jahre dürfen sie sich erstmals als Studentinnen immatrikulieren (davor war nur Gasthörerschaft mit Ausnahmeregelung erlaubt), Studentinnenverbindungen gründen und wissenschaftliche Stellen an den Unis anstreben. Trotz allem werden ihnen von vielen rückständig denkenden Männern nach wie vor Steine in den Weg gelegt, ihre wissenschaftliche Arbeit weniger anerkannt. Frau sein war ein Handicap in der Wissenschaft (und ist es leider oft noch heutzutage). Von all diesen Entwicklungen erzählt die Autorin in ihrem gut zu lesenden historischen Roman.
Die Geschichte von Lise (Meitner) war für mich mit Abstand die spannendste. Immerhin hat sie bahnbrechende Erfolge auf ihrem Forschungsgebiet zu verzeichnen und war die erste deutsche Professorin. Auch kommt sie im Roman sehr sympathisch, zurückhaltend und freundlich rüber. Leider wurden ihre Erfolge nicht so anerkannt, wie die ihrer männlichen Kollegen.
Hedwig war mir als Figur weniger sympathisch, ich kann gar nicht sagen, woran es genau liegt. Sie ist kämpferisch, ehrgeizig und hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsempfinden, aber irgendwie hat sie mich nicht so mitreißen und überzeugen können als literarische Figur.
Bei Anni hätte ich mir gerne mehr Auseinandersetzung mit der Lektüre gewünscht. Es wird zwar gesagt, dass sie gerne Romane liest und in ihrer Geschichte werden auch zeitgenössische Autoren genannt (Thomas Mann, Alfred Döblin, Hermann Hesse, etc.), aber so richtig lesen bzw. über das Gelesene reflektieren sehen wir sie nicht. Während die Studieninhalte von Lise (Physik) und Helene (Geschichte) auch inhaltlich im Roman zum Tragen kommen, wird Annis Leidenschaft für die Literatur nur oberflächlich vermittelt. Das fand ich etwas schade.
Nichtsdestotrotz hat Ann-Sophie Kaiser hier einen sehr lesenswerten Roman mit einem wichtigen Thema geschrieben. Die Geschichte weiblicher Bildung und die erstmalige Öffnung der Universitäten für Frauen zum Inhalt eines belletristischen Werkes zu machen, ist aller Ehren wert. Ein gut recherchierter historischer Debütroman, mit ganz kleinen Abzügen in der B-Note. Das ausführliche Nachwort der Autorin ist ebenfalls sehr informativ.

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Veröffentlicht am 18.06.2020

Sozialkritischer Histo-Krimi mit Berliner Schnauze

Fräulein Gold: Schatten und Licht
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Historische Hebammenromane gibt es ja zuhauf, ist doch die Hebamme eine archetypische weibliche Figur in der Literatur: Der erste Mensch, mit dem ein neuer Mensch Kontakt hat - die “Auf-die-Welt-Holerin” ...

Historische Hebammenromane gibt es ja zuhauf, ist doch die Hebamme eine archetypische weibliche Figur in der Literatur: Der erste Mensch, mit dem ein neuer Mensch Kontakt hat - die “Auf-die-Welt-Holerin” schlechthin. Muss man also unbedingt den “zigten” Hebammenroman lesen, gar noch eine Reihe? Man muss nicht, aber wenn man “Fräulein Gold” nicht gelesen hat, entgeht einem zumindest sehr viel historisches Berliner Flair der 1920er Jahre.

Der Roman spielt im Frühsommer des Jahres 1922 in Berlin. Der Krieg ist seit wenigen Jahren vorbei, aber seine Verletzungen sind überall sichtbar. Viele Menschen leben in Armut in der jungen Republik, sind physisch oder psychisch versehrt. Das rigide Moralkonstrukt des Wilhelminischen Kaiserreichs lebt noch in vielen Köpfen weiter. Dass Schwangerschaft und Geburt als natürliche Vorgänge behandelt werden, dafür kämpft die junge, fortschrittlich denkende Hebamme Hulda Gold. Als ledige Frau von 26 Jahren wird sie von der Gesellschaft bereits als "spätes Mädchen" abgestempelt. Ihre Beziehung zum Cafébesitzer Felix Winter ging vor Jahren in die Brüche. Seitdem schlägt sie sich als “Fräulein” alleine durch, denn auch ihre Familie ist quasi nicht mehr vorhanden.

Hulda ist eine vielschichtige, sympathische Protagonistin mit viel Potenzial und einigen Ecken und Kanten. Sie ist empathisch, hat aber auch eine schwierige Vergangenheit und einen ungefestigten Charakter. Ich kann mir sehr gut vorstellen, ihre Geschichte, die als Trilogie angelegt ist, noch über zwei weitere Bände zu verfolgen. Ihr Gegenpart, Kommissar Karl North, ist ebenfalls kein eindimensionaler Charakter. Er ist ein sehr verletzlicher Mensch, der sich durch eigene Kraft aus einer niedrigen Herkunft heraus eine Beamtenexistenz aufgebaut hat.
Auch die anderen Figuren sind sehr schön ausgearbeitet worden. Wir bekommen sogar die Sicht von "Nebenfiguren" wie der Hausmeisterin, der Pensionswirtin, etc., präsentiert, was dem erzählerischen Konstrukt zusätzliches Leben einhaucht.

Die Autorin ist sehr gut darin, Zwischentöne durch ihre dichte, atmosphärische Prosa lebendig werden zu lassen. Für mich wirkt der Roman manchmal wie eine historische Milieustudie: Die Berliner Welt der "einfachen Leute" wird überaus anschaulich beschrieben und auch die gesellschaftlichen Randbereiche dieser Welt der Ottonormalbürger (Nervenheilanstalt, Künstler und Nachtleben, Prostituierte, Straßenkinder, kriminelle Unterwelt, etc.) werden aufgefangen.

Mir persönlich waren es inhaltlich dann aber doch etwas zu viel Düsternis und eine Anhäufung von schlimmen, tragischen Schicksalen. Hin und wieder hätte ich mir ein wenig mehr Leichtigkeit gewünscht. Fast jede handelnde Figur hat eine tragische Vergangenheit im Gepäck, fast alle kommen aus dysfunktionalen Familien. Selbst der Zeitungsverkäufer, der alles etwas aufzulockern schien, kommt später mit einer weniger schönen Story um die Ecke. Ich sehe schon den Sinn dahinter, die Autorin will sozialkritisch das Elend der kleinen Leute damals spürbar machen, aber heutzutage muss man fast schon eine “Triggerwarnung” an dieses Buch heften. Mit Not und Elend wird nicht gespart und Themen wie Suizid, Euthanasie, psychische Krankheiten, Missbrauch, Abtreibung, etc., sind so geballt wie hier für manche Leser in einem Unterhaltungsroman sicher nur schwer zu ertragen.

Meine Kritik an der Krimihandlung ist, dass sie stark von Zufällen bestimmt wird. Hulda ist immer genau dort, wo ihr Informationen zugeführt werden, die zur Aufklärung des Verbrechens führen. Natürlich gelangt sie auch durch Eigeninitiative an Infos, aber die Zufälle sind doch in der Überzahl. Hier ist Berlin dann tatsächlich ein sehr kleines Dorf.

Was mir sehr gefallen hat, ist, dass Huldas Kiez erzählerisch sehr schön “abgegangen” wird. Durch die Karte in der vorderen Klappe können wir als Leser ihren Radius mitverfolgen und die Topographie Berlins besser kennenlernen.

Trotz der vielen düsteren Stellen habe ich den Roman insgesamt sehr gerne gelesen. Er ist ein stimmiger, atmosphärischer Auftakt zu einer historischen Krimi-Trilogie.

Fun fact: Ich habe schon lange (wenn überhaupt) keinen Roman mehr gelesen, in dem so viel geraucht wird wie in diesem hier.

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