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Veröffentlicht am 17.10.2022

Die Wirklichkeit, die niemals eingetroffen ist

Verbrenn all meine Briefe
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Autor Alex fragt sich, woher seine Wut kommt, warum seine drei Kinder Angst vor ihm haben. Er beginnt nachzuforschen und entdeckt eine Linie dieser Wut in der Geschichte seiner Familie. Und er stößt in ...

Autor Alex fragt sich, woher seine Wut kommt, warum seine drei Kinder Angst vor ihm haben. Er beginnt nachzuforschen und entdeckt eine Linie dieser Wut in der Geschichte seiner Familie. Und er stößt in der Vergangenheit auf die unglückliche Liebesgeschichte von Karin, die mit dem berühmten Schriftsteller Sven verheiratet ist, sich aber eines Tages in Olof verliebt.
Das Cover ist beherrscht vom Buchtitel und dem Namen des Autors, das untere Viertel zeigt das Schwarz-Weiß-Foto eines Paares auf einer Wiese liegend. Der Roman wird auf drei Zeitebenen erzählt: als Ich-Erzähler begibt sich Alex in der Gegenwart auf Spurensuche und blickt außerdem auf seine Kindheit zurück; im dritten Erzählstrang erfährt man die Geschehnisse aus Karins Leben.
Der Ich-Erzähler nähert sich der Lösung des Familiengeheimnisses sehr behutsam, denn er weiß, dass es sich schon immer auch direkt seinen eigenen Charakter ausgewirkt hat. Der Autor erfüllt dabei die gesamte Geschichte mit einer derartigen Lebendigkeit, dass die Gefühle und Begebenheiten direkt für den Leser spürbar werden. Die Sprache ist den Situationen angepasst, in den gefundenen Briefen sehr bildhaft und in allen Kapiteln durchgehende sehr berührend. Man spürt die Charaktere förmlich, verfolgt gespannt ihrem Erlebten; genauso trifft einen auch die Ausweglosigkeit der Protagonisten, ihr Schweigen und ihr Eingesperrt-Sein in ihre Handlungen, ihre Versuche, mit Situationen und Ängsten klarzukommen. In allem schwingt zwar eine drückende Grundstimmung mit, dennoch hinterlässt der Roman keine Schwere, denn der Protagonist ist seinem Problem auf den Grund gegangen und vermittelt so auch Hoffnung – für alle Beteiligten.
Dieser Roman ist absolut lesenswert; er ist intensiv, er berührt und macht betroffen. Ein Glück, dass es Autoren gibt, die diese Intensität in Worte fassen können, und Übersetzer, die diese Intensität auch in andere Sprachen zu übertragen imstande sind.

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Veröffentlicht am 08.10.2022

Zum Sparverein mit Zwischengas

Kalamitäten im Sparverein
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Der beschauliche Ort Gramakirchen hat alle, was eine Dorfgemeinschaft braucht: Wirtshaus, Kirchenchor, Tennisclub und einen Sparverein. Mit der Ruhe ist es allerdings zu Ende, als der eingeheiratete Schwiegersohn ...

Der beschauliche Ort Gramakirchen hat alle, was eine Dorfgemeinschaft braucht: Wirtshaus, Kirchenchor, Tennisclub und einen Sparverein. Mit der Ruhe ist es allerdings zu Ende, als der eingeheiratete Schwiegersohn des verstorbenen Altbürgermeisters Kassier des Sparvereins wird; und plötzlich sogar mit der Sparvereinskasse und dem alten Tanklöschfahrzeug der freiwilligen Feuerwehr verschwindet ...
Kleine, nummerierte Fächer mit Schlitzen für den Geldeinwurf des Sparvereins greifen auf dem Cover bereits das Thema dieser amüsanten Geschichte auf. Der Sprachstil ist locker und die Dialoge sehr lebensnah. Auch die Charaktere der wichtigsten Persönlichkeiten des Ortes sind recht detailreich beschrieben. Etwas überspitzt zwar; aber jeder der solche Dorfgemeinschaften kennt, wird sicher den ein oder anderen Chorleiter, Feuerwehrler, Bau- oder Bürgermeister darin wiederfinden. Dem Autor gelingt mit dieser Geschichte ein humorvoller Querschnitt derartiger Persönlichkeiten.
Die Geschichte ist sicher weniger als Krimi zu sehen, sondern vielmehr eine teils vorhersehbare Gaunerei mit humorvollen Einblicken. Das Buch gipfelt in einem Roadtrip, der in überschaubarem Tempo vor sich geht, dem es aber dennoch nicht an Spannung fehlt. Und das überschaubare Tempo sollte man durchaus auch beim Lesen anwenden. Ansonsten könnte man die wunderbaren kleinen Anspielungen und Spitzen versäumen, die das Buch zu einer runden Geschichte machen. Alles in allem bescheren diese Kalamitäten eine schöne Ablenkung vom Alltag und ereignisreiche Lesestunden.

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Veröffentlicht am 01.10.2022

Sorge oder Sorglosigkeit

halbtote schmetterlinge
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Ambühl ist noch nicht ganz fünfzig, als er die Diagnose Prostatakrebs erhält. Sein Fall wird als unheilbar eingestuft und bringt dadurch sein gesamtes Leben durcheinander. Nicht nur der Körper, auch seine ...

Ambühl ist noch nicht ganz fünfzig, als er die Diagnose Prostatakrebs erhält. Sein Fall wird als unheilbar eingestuft und bringt dadurch sein gesamtes Leben durcheinander. Nicht nur der Körper, auch seine Psyche wird vor Herausforderungen gestellt. Und natürlich erstrecken sich die Auswirkungen der Krankheit auch auf sein Privat- und Berufsleben.
Das Cover ist in auffälligem Rot und Gelb gehalten, schemenhaft erkennt man in der unteren Hälfte drei Personen am Strand. Eine von ihnen mag der Protagonist Ambühl sein, dessen Leben in diesem Buch aus der Perspektive eines Erzählers wiedergegeben wird. Der Sprachstil ist nüchtern, erscheint teils wie ein Bericht und vermittelt unerwartet ein hohes Maß an Gefühl. Die Sätze sind oft lang und verschachtelt, sind aber überaus verständlich, was die Wortwahl und auch den Sinn des Geschriebenen betrifft.
Der Einstieg ins Buch ist recht stark und macht betroffen. Eine rasante Fahrt im Ferrari endet für einen Mann tödlich und der Leser erkennt darin den Suizid eines Verzweifelten. Die Geschichte um Ambühl selbst gibt einen Rückblick auf seine Kindheit, seine Beziehungen zu Frauen, seinen Beruf und vor allem auch auf seine Perspektiven nach der Krebsdiagnose. Es ist ein Nachdenken über Sein und Schein, über Sorgen und Sorglosigkeit. Das Ende der Geschichte überrascht.
Dieses Buch ist keine leichte Kost, aber dennoch nicht schwermütig. Es macht betroffen und hinterlässt im Leser doch kein Gefühl der Schwere. Es vermittelt die Gedanken und Gefühle des Protagonisten auf eindrückliche Weise, ohne ihn selber direkt zu Wort kommen zu lassen.

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Veröffentlicht am 26.09.2022

Die Kunst und ihr Preis

Das neunte Gemälde
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Kunsthistoriker Lennard Lomberg erhält einen rätselhaften Anruf vom einem Mann namens Dupret. Dieser fordert Lomberg auf, die Rückgabe eines verschollenen Gemäldes zu organisieren, wird aber kurz darauf ...

Kunsthistoriker Lennard Lomberg erhält einen rätselhaften Anruf vom einem Mann namens Dupret. Dieser fordert Lomberg auf, die Rückgabe eines verschollenen Gemäldes zu organisieren, wird aber kurz darauf ermordet. Kriminalrätin Sina Röhm ermittelt daher auch gegen Lomberg und findet heraus, dass sein Vater in Zusammenhang mit einem von den Nazis geraubten Gemäldes steht. Lomberg senior war schließlich Leutnant für Kunstschutz im besetzten Paris der 1940er Jahre. Sein Sohn beschließt daraufhin selber zu ermitteln und das Gemälde zu finden. Dabei dringt er nicht nur immer tiefer in die Geschichte seiner Familie ein, sondern wird sogar selbst zur Zielscheibe.
Das Cover zeigt einen Mann allein am Bahnsteig, das Bild ist einfarbig in Orangetönen gehalten, die Lettern des Titels scheinen durch ihre unterschiedliche Größe auf dem Umschlag zu tanzen. Die vordere Klappenbroschur beinhaltet einen Pariser Stadtplan von 1943, die hintere einen Plan von Ceret aus dem Jahr 2016, in dem die Geschichte beginnt. Sie wird in zwei Erzählsträngen wiedergegeben. In der Handlung von 2016 sind Lennard Lombergs Erlebnisse festgehalten; der zweite Erzählstrang vermittelt Ernst Lombergs Leben. Zur Unterstreichung der Glaubwürdigkeit sind in beiden Geschichten jeweils Wochentag und Datum der Geschehnisse vermerkt.
Lennard Lomberg und sein Umkreis sind sympathische Charaktere, sehr lebensnah gezeichnet, die neugierig auf weitere Geschichten rund um den Kunsthistoriker machen. Der Roman bildet eine sehr gut recherchierte Sicht auf die Zeit des Zweiten Weltkriegs und seiner Altlasten. Der Autor verwebt historische Gegebenheiten und kunsthistorische Themen, und schafft daraus eine packende und lebhaft geschilderte Handlung. Immer wieder tauchen kleine Episoden auf, deren Sinn sich oft erst im Verlauf der Handlung erschließt.
Andreas Storm ist mit diesem Buch ein lesenswertes Debüt gelungen. Mit Hintergrundwissen und großem Sprachgefühl erschafft er aus vielen Teilchen eine runde Geschichte, auf die man sich gern einlässt und in der man von etlichen Aha-Effekten überrascht wird.

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Veröffentlicht am 26.09.2022

Aus dem Tagebuch der Mutter

Schlangen im Garten
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Nach Johannes Tod wird ihre Familie verdächtigt, die Trauerarbeit zu verschleppen. Nicht nur das Traueramt, auch die Nachbarn sind sich darüber einig. Nur die Familie selbst, Vater Adam, Tochter Linne ...

Nach Johannes Tod wird ihre Familie verdächtigt, die Trauerarbeit zu verschleppen. Nicht nur das Traueramt, auch die Nachbarn sind sich darüber einig. Nur die Familie selbst, Vater Adam, Tochter Linne und die Söhne Steve und Micha möchten ihr Leben nicht einfach so fortsetzen. Sie wollen Johanne in wahren – und auch erfundenen - Geschichten bei sich behalten.
Das unverkennbare Diogenes-Cover zeigt das Bild einer Frau. Die Frau, die in dieser Geschichte schon gar nicht mehr lebt; die Frau, die auch gleich im starken ersten Satz des Buches auftaucht. Vor Schultes Sprachstil ist sehr beeindruckend, sie schafft es selbst Alltäglichem mit ihren genauen Beschreibungen Wichtigkeit und vor allem Poesie zu verleihen.
Jede Person geht anders mit Trauer um, und doch meint das Umfeld oft besser zu wissen, wie man mit dem Verlust eines geliebten Menschen umzugehen hat. Die Autorin erschafft dazu sogar ein eigenes Traueramt, dessen Beamte die Beobachtungen über die Hinterbliebenen in ihren Berichten festhalten. Die Charaktere sind sympathisch und in ihren Eigenheiten dennoch sehr realistisch gezeichnet, selbst das Verhalten des Trauerbeamten wird nicht nur hinterfragt, sondern schlüssig erklärt.
Vor Schulte beschreibt die Trauer und die Auswirkungen auf das Leben der Hinterbliebenen auf grandiose Weise. Wohin mit der Verzweiflung, der Wut, dem Verloren-Sein? Wie umgehen mit der Unfähigkeit zu handeln, mit den verpassten Möglichkeiten? Jeder Mensch, der schon einmal getrauert hat, wird sich in dieser Geschichte wiederfinden. Menschen, denen dieses Gefühl bisher noch erspart geblieben ist, werden einen Schimmer davon bekommen, wie es ist, wenn einem der Boden unter den Füßen plötzlich weggerissen wird.
Und doch ist es kein trauriges Buch, sondern vielmehr eine wunderschöne Geschichte, die von Hoffnung und Liebe erzählt. Ich habe noch kein vergleichbares Buch gelesen, dass mit Trauerbewältigung besser umgegangen wäre als dieser Roman. Schade, dass fünf Sterne das Maximum an Bewertung sind. Diese Geschichte verdient mindestens zehn davon.

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