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Veröffentlicht am 03.03.2018

Unterhaltsame, ziemlich abgedrehte Familiengeschichte

Die erstaunliche Familie Telemachus
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INHALT
In den 1970ger Jahren war die „Erstaunliche Familie Telemachus“ im Fernsehen bei Talk und Late Night Shows mit ihren aufsehenerregenden, übernatürlichen Auftritten sehr gefragt. Nachdem bei einer ...

INHALT
In den 1970ger Jahren war die „Erstaunliche Familie Telemachus“ im Fernsehen bei Talk und Late Night Shows mit ihren aufsehenerregenden, übernatürlichen Auftritten sehr gefragt. Nachdem bei einer ihrer Darbietungen in der Mike Douglas-Show einiges schief gelaufen war und sie von ihrem Erzfeind vor laufender Kamera als Trickbetrüger entlarvt wurden, ging es mit ihrem Ruhm und ihrem Glück schlagartig bergab. Ihr mediales Debakel war ein einschneidendes Erlebnis für alle, aber nach dem plötzlichen Tod von Maureen haben sich sie mehr schlecht als recht durchs Leben geschlagen.
Matty, Enkel des großen Familienpatriarchs Teddy Telemachus, ist eigentlich ein ganz normaler vierzehnjähriger Junge mitten in der Pubertät, bis er die Entdeckung macht, dass er plötzlich recht ungewöhnliche Fähigkeiten besitzt. Voller Neugier beginnt er, mehr über die ihm völlig verheimlichte Vergangenheit seiner einst berühmten Familie in Erfahrung zu bringen. Besitzt seine so gewöhnliche Familie etwa doch wesentlich mehr Talente als er bisher für möglich gehalten hat. Könnte er diese vielleicht sogar geerbt haben?
MEINE MEINUNG
„Die erstaunliche Familie Telemachus“ des amerikanischen Autors Daryl Gregory ist ein komplex angelegter, etwas skurriler und unglaublich unterhaltsamer Roman. Mit seinen paranormalen Elementen, irrwitzigen Verwicklungen und skurrilen Figuren wird er allerdings nicht jedermanns Geschmack treffen.
In dieser wundervoll witzig geschriebenen, teilweise ziemlich abgedrehten Familiensaga geht es um die sehr außergewöhnliche Familie Telemachus, die alles andere als eine Vorzeigefamilie ist, sondern eher eine Ansammlung von sehr exzentrischen Charakteren und gescheiterten Existenzen.
Geschickt beginnt der Autor seine recht komplizierte, detailreiche Geschichte mit Einblicken in das eher tragische und bizarre Leben der Familie. Der Einstieg in die Geschichte ist jedoch nicht einfach, denn Gregorys Erzählweise wirkt trotz der Untergliederung in Kapitel zunächst chaotisch und scheint eher eine Auflistung von unzusammenhängenden Geschehnissen zu sein. Erzählt wird die im Jahr 1995 angesiedelte Haupthandlung abwechselnd aus der Sichtweise der verschiedenen Familienmitglieder. Zudem erfolgen immer wieder Zeitsprünge mit Rückblenden auf wichtige Ereignisse aus der Vergangenheit. Die ständigen Perspektivwechsel, in denen immer neue Aspekte kurz beleuchtet werden, Fragen aufwerfen und aber dann längere Zeit nicht mehr aufgegriffen werden, unterbrechen zunächst immer wieder den Lesefluss. Die eingestreuten Andeutungen auf zukünftige dramatische und sehr unheilvolle Verwicklungen machen sehr neugierig auf den Fortgang der mysteriösen Geschichte. Das Auftauchen eines Agenten einer geheimen Regierungsorganisation und anderer vermeintlicher Widersacher sowie alte Kontakte zum Chicagoer Mob steigern ungemein die Spannung. Erst allmählich beginnt man die Zusammenhänge zwischen den vielen kleinen Puzzlestücken zu erkennen und lässt die geniale Konzeption dahinter erkennen. Zum Höhepunkt hin ergibt sich aus den vielen Details ein äußerst facettenreiches, aber stimmiges Gesamtbild. Gregory ist es gelungen, auf den verschiedenen Erzählebenen eine unglaublich abwechslungsreiche und grandios geplottete Gesamtstory zu schaffen. Sehr kunstvoll hat er ein feines Netz um seine Charaktere gesponnen und sie in die vielschichtige, wendungsreiche Handlung eingewoben.
Sehr gelungen sind dem Autor auch seine sehr unterschiedlichen Charaktere, die er äußerst facettenreich und lebendig ausgearbeitet hat. Im Laufe der Geschichte lernen wir die Familienmitglieder des Telemachus-Clans stückchenweise besser kennen. Die verschrobenen, teilweise wenig sympathischen aber mit all ihren Ecken und Kanten doch irgendwie interessanten Charaktere der Familie ziehen einen unweigerlich in ihren Bann. Teddy ist der etwas großspurige Patriarch der Familiensippe, ein genialer Trickbetrüger und früher sehr talentierter Falschspieler ohne jegliche übernatürliche Gabe. Seine viel zu früh verstorbene, über alles geliebte Frau Maureen, mit ihrem Talent zu Astralreisen, hat ihre paranormalen Fähigkeiten an ihre Kinder vererbt. Für sie stellen ihre paranormalen Fähigkeiten mehr Fluch als Segen dar und haben gelernt, auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrem Schicksal fertig zu werden. Irene, die Tochter, ist ein menschlicher Lügendetektor; Frankie, der älteste Sohn, hat große Probleme seine telekinetischen Fähigkeiten zu steuern und der jüngste, in sich gekehrte Sohn Buddy ist hellseherisch begabt. Sehr schön ist es mitzuerleben, wie der fast schon verloren gegangene Familienzusammenhalt angesichts ungeahnter Bedrohungen wiederbelebt wird, und die Telemachos sich zusammenraufen und ihre unsichtbaren Kräfte reaktivieren.
Zum Ende hin nimmt der Roman nochmals enorm an Fahrt auf und gipfelt in einem fesselnden, geradezu filmreifen Showdown. Als gelungenen Ausklang präsentiert uns Gregory noch einige äußerst überraschende Wendungen. Das sehr stimmige und in sich abgeschlossene Ende seiner Familien-Geschichte lässt dennoch Raum für einige Spekulationen.
Sehr gelungen ist auch der angenehm zu lesende Schreibstil, der mit vielen humorvollen, recht schrägen aber äußerst amüsanten Momenten angereichert ist, so dass man immer wieder einfach schmunzeln muss und sich bestens unterhalten fühlt.
FAZIT
„Die erstaunliche Familie Telemachus“ ist eine äußerst unterhaltsame, ziemlich abgedrehte Familiensaga voll irrwitziger Verwicklungen und skurriler Figuren! Ein ungewöhnliches, aber unglaublich fesselndes und amüsantes Leseerlebnis, das sich zu lesen lohnt!

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Charaktere
  • Geschichte
  • Humor
  • Fantasie
Veröffentlicht am 13.02.2018

Überzeugendes Krimidebüt

Der weiße Affe
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INHALT
Berlin in den Goldenen Zwanzigern. Der junge Kommissar Ariel Spiro frisch aus dem Provinznest Wittenberge zur Kriminalpolizei nach Berlin gewechselt. Gleich sein erster Fall gibt viele Rätsel auf. ...

INHALT
Berlin in den Goldenen Zwanzigern. Der junge Kommissar Ariel Spiro frisch aus dem Provinznest Wittenberge zur Kriminalpolizei nach Berlin gewechselt. Gleich sein erster Fall gibt viele Rätsel auf. In einem ziemlich runtergekommenen Wohnviertel wurde der jüdische Bankier Eduard Fromm mit eingeschlagenem Schädel vor der Wohnung seiner blonden Geliebten aufgefunden. Verdächtige gibt es einige, so der Verlobte mit seinem zwielichtigen Kumpel, der Stellvertreter im Bankhaus bis hin zu den etwas exzentrischen Mitgliedern der gutsituierten Familie des Mordopfers, der Ehefrau Charlotte und den erwachsenen Kindern Nike und Ambros. Auch ein politisches Motiv ist zunächst nicht auszuschließen. Während der junge Spiro schon bald Bekanntschaft mit dem wilden, zügellosen Berliner Nachtleben macht, scheinen seine Ermittlungen immer mehr auf der Stelle zu treten. Wird ihm der Fall nach einer großen Blamage endgültig entgleiten?
MEINE MEINUNG
Der fesselnde, historische Kriminalroman »Der weiße Affe« ist das äußerst gelungene Debüt der deutschen Autorin Kerstin Ehmer.
Hierin entführt sie uns ins Berlin der Goldenen 1920er Jahre, eine pulsierende Metropole im Wandel der Zeiten und voller Kontraste zwischen Luxus, Reichtum, Existenzkampf, Kriminalität und Armut. Gekonnt und atmosphärisch dicht portraitiert Ehmer das facettenreiche Alltagsleben in der damaligen Hauptstadt der Weimarer Republik. Sie lässt uns am Schicksal der Menschen teilhaben, vermittelt ein sehr stimmiges, authentisches Bild der damaligen Zeit und gibt uns sogar Einblick in die kriminalistische Ermittlungsarbeit.
Der Krimi lebt neben den unglaublich lebendig geschilderten Schauplätzen vor allem von seinen interessanten, vielschichtig angelegten Figuren. Hervorragend gefallen hat mir der sympathische „Neuling“ Spiro als Protagonist, der sehr gebildet und eloquent ist, manchmal gerne mit verdeckten Karten spielt, aber in einigen Situationen auch sehr unbedarft wirkt. Gemeinsam mit dem aus der Provinz ganz frisch nach Berlin gekommenen Kommissar Ariel Spiro tauchen wir ein in diese faszinierende Welt und begleiten ihn bei seiner rastlosen Ermittlungsarbeit zu seinem komplizierten Mordfall, bei dem sich trotz zahlreicher Verdächtiger keine heiße Spur auftun will. Mit ihm lernen wir das schillernde, dekadente Nachtleben kennen, in dem die Reichen sich amüsieren und nach Alkohol- und Drogenkonsum ungehemmt ihre sexuellen Neigungen ausleben. Doch Spiros Ermittlungen führen uns auch zu den vielen dunklen Seiten der Gesellschaft, dorthin wo Elend, Armut, Alkoholismus und Verbrechen allgegenwärtig sind, lassen uns bei Gesprächen den aufkommenden Antisemitismus spüren und konfrontieren uns schließlich bei der Aufklärung des Falls mit den Abgründen der menschlichen Existenz.
Zunächst verwirrend, aber sehr spannend sind die eingeschobenen, kursiv gedruckten Passagen, die uns einen zweiten Handlungsstrang aus einer völlig anderen, eindringlichen und recht bizarren Perspektive erleben lassen. Erst allmählich wird die Bedeutung dieser verstörenden Passagen immer klarer, wodurch die Geschichte eine besonders fesselnde Note und überraschende Wendung erhält.
Sehr gelungen ist auch Ehmers außergewöhnlicher und zugleich anspruchsvoller Erzählstil, der eine ganz eigenwillige, pointiert eingesetzte Sprache verwendet, wodurch man sich auch sprachlich in die damalige Zeit zurückversetzt fühlt.
Ich würde mich sehr freuen, wenn es bald einen neuen Fall für Kommissar Spiro gäbe.
FAZIT
Ein fesselnder, atmosphärisch dichter historischer Kriminalroman mit interessanten Charakteren, der uns gekonnt ins quirlige Berlin der 20er Jahre abtauchen lässt. Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 12.02.2018

Ein äußerst fesselndes, einfallsreiches Jugendbuch

Der Schein
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INHALT
Die 16-jährige Alina aus Berlin ist nicht gerade begeistert, als sie von ihrem alleinerziehenden Vater erfährt, dass er beruflich nach Amerika muss, und sie für ein halbes Jahr auf das noble Internat ...

INHALT
Die 16-jährige Alina aus Berlin ist nicht gerade begeistert, als sie von ihrem alleinerziehenden Vater erfährt, dass er beruflich nach Amerika muss, und sie für ein halbes Jahr auf das noble Internat Hoge Zand auf der kleinen Ostseeinsel Griffiun gehen soll. Genervt sitzt sie nun auf der öden Insel fest - ohne ihre Freunde Lukas und Pinar, ohne Handynetz und dafür mit jeder Menge zickiger oder verschrobener Internatsschüler. Doch so schlimm wie befürchtet ist es gar nicht: immerhin gibt es die sympathische „Klette“ Cara und die vier „Lonelies“, die schon bald zu ihrer neuen Freundes-Clique werden. Als Alina eines Nachts ein dunkles Schiff am Horizont und seltsame Blitze am Himmel sieht, beschließt sie den mysteriösen Erscheinungen auf den Grund zu gehen. Schon bald überschlagen sich die Ereignisse und Alina macht eine abenteuerliche Entdeckung, die ihr Leben völlig auf den Kopf stellen wird …
MEINE MEINUNG
„Der Schein“ ist ein äußerst fesselnder, einfallsreicher Jugendroman aus der Feder der beiden deutschen Autorinnen Antje Wagner und Tania Witte, die das Buch unter dem offenen Pseudonym Ella Blix veröffentlicht haben. Es handelt sich bei dem Roman um eine gelungene Mischung aus Internatsgeschichte und einem Mystery-Thriller mit interessanten übernatürlichen Elementen, die mich sehr begeistert und bestens unterhalten hat. Zugleich ist es aber auch eine berührende Geschichte über Freundschaft, Solidarität, Verlust, Trauerbewältigung und der Suche nach der eigenen Identität.
Erzählt wird die vielschichtig angelegte Geschichte hautsächlich aus Alinas Sicht in der ersten Person. Zudem sind in die Handlung kursiv hervorgehobene Tagebucheinträge von Alina eingeschoben, die sie witziger Weise an ein fiktives DU richtet. Die spannenden Rückblenden auf Alinas Kindheit und Jugend geben schrittweise Einblick in ihr Seelenleben aber auch in die näheren Umstände des rätselhaften Verschwindens ihrer Mutter. Der Anfang ist wie eine typische Internatsgeschichte gestaltet mit Alinas Ankunft, dem Kennenlernen der Örtlichkeiten und der verschiedenen Charaktere sowie ersten Anpassungsprobleme mit dem neuen Umfeld. Doch in die Normalität des Internatslebens schleichen sich zunehmend rätselhafter werdende Ereignisse, so dass man schon bald zu Spekulieren beginnt, in welche Richtung sich die geheimnisvollen Geschehnisse bewegen werden. Durch das Auftauchen des ominösen „Dunklen Schiffs“ aus den uralten Legenden nimmt die mitreißende Handlung rasch einen völlig unerwarteten, sehr mysteriösen Verlauf und hat mich vollkommen in ihren Bann gezogen.
Sehr gut gefallen hat mir die vielschichtige, äußerst sympathische Hauptfigur Alina, die sehr einfühlsam und liebevoll ausgearbeitet ist, so dass sie mit ihren Eigenarten und Verletzlichkeiten sehr lebendig und lebensnah wirkt. Im Laufe der Geschichte muss sie so manches Mal ihr „Schubladen-Denken“ über Bord werfen, sich der Vergangenheit stellen und über ihren Schatten springen.
Aber auch viele der interessanten Nebenfiguren bereichern die Geschichte und sind rundum gelungen: Vor allem die vier sehr außergewöhnlichen und facettenreichen Charaktere der Lonelies und die so überaus patente Cara, aber auch die faszinierende Fremde Tinka, die mit ihrer exotischen Spezialausrüstung im Naturschutzgebiert campiert und eine besondere Beziehung zu Alina besitzt oder schließlich der seltsame Herr Mühstetter, der mit seinem Zylinder und Monokel etwas aus der Zeit gefallen zu sein scheint und für einige Gruseleffekte sorgte.
Mit vielen einfallsreichen Details gelingt es den Autorinnen mühelos, die ganz spezielle Atmosphäre im Internat zum Leben zu erwecken aber auch die toll beschriebenen Schauplätze der Insel wie beispielsweise das unheimliche Naturschutzgebiet mit seiner aggressiven Herde von Urwildrindern. Mit der zunehmend temporeich verlaufenden Handlung und immer neuen rätselhaften Entwicklungen wird schrittweise eine enorme Spannung aufgebaut, so dass ich der Auflösung richtig entgegen gefiebert habe. Die Geschichte endet mit einem äußerst fesselnden Finale voller Überraschungen und Dramatik, das in sich schlüssig war und mich mit keinen offenen Fragen zurückgelassen hat. Insgesamt haben die Autorinnen ein sehr passendes und zufriedenstellendes Ende für ihre tolle, gut durchdachte Story gefunden.
Neben ihrem sehr lebendigen, jugendsprachlich geprägten Schreibstil konnten die Autorinnen mich auch mit wundervoll bildreichen, poetischen Formulierungen überzeugen. Sehr gelungen sind auch die vielen amüsanten, humorvollen Passagen, die dem Roman eine besondere Würze verleihen und für beste Unterhaltung sorgen.
FAZIT
Ein äußerst fesselndes und einfallsreiches Jugendbuch, mit tollen Charakteren, witzig und locker-flockig geschrieben und insgesamt sehr unterhaltsam!
Sehr lesenswert!

Veröffentlicht am 09.02.2018

Lesenswerter Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte

Der Reisende
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INHALT
Während der Novemberpogrome 1938 muss der wohlhabende jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus seiner Berliner Wohnung fliehen und überhastet seine Frau und sein Geschäft zurücklassen. Aus Angst vor ...

INHALT
Während der Novemberpogrome 1938 muss der wohlhabende jüdische Kaufmann Otto Silbermann aus seiner Berliner Wohnung fliehen und überhastet seine Frau und sein Geschäft zurücklassen. Aus Angst vor einer Verhaftung durch die Nazi-Schergen begibt er sich auf eine ziellose Reise mit der Reichsbahn quer durch Deutschland. Nachdem sein Fluchtversuch ins Ausland misslungen ist, irrt Silbermann gehetzt und ohne vernünftigen Plan von Stadt zu Stadt. Schließlich hat er kaum noch Hoffnung, eine sichere Zuflucht zu finden, und verliert immer mehr seinen Verstand.
MEINE MEINUNG
Mit dem Roman „Der Reisende“ hat Ulrich Alexander Boschwitz ein wichtiges literarisches Zeitdokument hinterlassen, das nun erstmalig auf dem deutschen Markt erscheint. Der bereits 1935, nach Verkündung der Nürnberger Rassengesetze aus Deutschland emigrierte Boschwitz hat seinen Roman 1939 in nur wenigen Wochen verfasst, um die schrecklichen Ereignisse der Novemberpogrome und den Beginn der Judenverfolgung in Deutschland zu verarbeiten. Dass Boschwitz viele eigene Erlebnisse und die seiner Familie mit in seinen Roman hat einfließen lassen, trägt zur besonderen Authentizität und Intensität des Romans bei.
In seiner Geschichte um den gutsituierten, jüdischen Kaufmann Otto Silbermann portraitiert der Autor exemplarisch das Schicksal der jüdischen Deutschen, die als ehemals angesehene Bürger plötzlich Willkür, Demütigungen und Gewalt ausgesetzt waren, und denen nur noch die meist vergebliche Flucht ins Ungewisse blieb.
Sehr einfühlsam und eindringlich gelingt es dem Autor, dem Leser die anfänglich noch ungläubige, pragmatische Betrachtungsweise der Hauptfigur nahe zu bringen, die sich aber während seiner Flucht zunehmend in Aktionismus und panische Verzweiflung angesichts seiner Situation wandelt. Die Geschichte mit ihrer bedrückenden Atmosphäre und der Schilderung von Silbermanns planloser, gehetzter Irrfahrt durch das Land hat mich immer mehr in ihren Bann gezogen.
Auf seinen immer schneller wechselnden Etappen begegnet die Hauptfigur einer Menge Menschen, so dass man durch die geführten Gespräche sehr aufschlussreiche und beklemmende Einblicke in die Haltung und Gedankenwelt der damaligen Gesellschaft in Deutschland erhält. Die Bandbreite an Nebencharakteren reicht von überzeugten Nazis, dumpfen Mitläufern, unwissenden, passiven wie auch wohlwollenden Deutschen bis hin zu zahllosen flüchtenden Leidensgenossen. Man kategorisiert die Mitbürger nur noch in zwei Klassen: Arier oder Juden. Schockierend ist zum einen die Gleichgültigkeit und Unwissenheit vieler Mitmenschen, zum anderen aber auch die plötzliche Feindseligkeit, ja sogar Skrupellosigkeit vieler arischer Freunde, Geschäftspartner und Verwandter. Hervorragend hat der Autor vor allem den charakterlichen Wandel und seelischen Ausnahmezustand Silbermanns angesichts der Ausweglosigkeit seiner Flucht und der permanenten Gefahr, von den Nazis aufgegriffen zu werden, herausgearbeitet. Sein anfängliches Schwanken zwischen Selbstaufgabe und Kampfeswillen weicht immer mehr einem völlig irrationalen Verhalten und einer fortschreitenden Fahrigkeit, Zerrissenheit und Mutlosigkeit – all dies wird vom Autor sehr realistisch eingefangen und äußerst anschaulich umgesetzt. Man erlebt im Laufe der Handlung einen getriebenen Menschen, der schließlich seine Selbstachtung, sogar seinen Verstand verliert und sich willenlos in sein Unheil fügt.
Ein auch in der heutigen Zeit lesenswerter, wichtiger Roman gegen das Vergessen und ein Appell für mehr Toleranz und Menschlichkeit!
FAZIT
Ein sehr bewegender Roman über ein dunkles Kapitel der deutschen Geschichte, der mit seinen beeindruckend authentischen Schilderungen, die Geschehnisse jener Zeit dokumentiert.

Veröffentlicht am 05.02.2018

Gelungenes Krimidebut

Stumme Wut
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INHALT
Für DCI Matilda Darke, die Leiterin der Mordkommission in Sheffield, ist vor 9 Monaten eine Welt zusammengebrochen: Nach dem Tod ihres geliebten Mannes und einer gescheiterten Lösegeldübergabe fiel ...

INHALT
Für DCI Matilda Darke, die Leiterin der Mordkommission in Sheffield, ist vor 9 Monaten eine Welt zusammengebrochen: Nach dem Tod ihres geliebten Mannes und einer gescheiterten Lösegeldübergabe fiel sie in eine tiefes Loch und musste sie eine Zwangsbeurlaubung hinnehmen. Ihre Rückkehr in den Dienst hatte sie sich jedoch anders vorgestellt, denn sie soll einen 20 Jahre alten, unaufgeklärten Doppelmord, das legendäre Harkness-Massaker, erneut untersuchen. Bei der Bluttat damals wurde das Ehepaar Harkness im eigenen Haus brutal erstochen, verwertbare Spuren fehlten und der einzige Zeuge, ihr elfjähriger Sohn Jonathan, war derart traumatisiert, dass er nicht mehr sprach. Für Matilda also eher ein Abstellgleis als eine wirkliche Chance sich bei ihrer skeptischen Vorgesetzten und ihren Kollegen beweisen zu können. Als eine übel zugerichtete Leiche aufgefunden wird, kommt es zu einer plötzlichen Wende, denn die Ermittlungen weisen auf Verbindungen zu Matildas Fall hin. Könnte es sein, dass der Täter von damals zurückgekehrt ist?
MEINE MEINUNG
Mit dem Krimi „Stumme Wut“ ist dem englischen Autor Michael Wood ein tiefgründiger, unglaublich packender Page Turner gelungen, den ich nach einigen Kapiteln einfach nicht mehr aus der Hand legen konnte. Zugleich ist es der Auftakt einer sehr interessanten neuen Krimi-Reihe rund um die sympathische DCI Matilda Darke, eine faszinierende und sehr authentisch ausgearbeitete Protagonistin mit Ecken und Kanten. Durch seinen mitreißenden Schreibstil und die sehr differenzierte Charakterisierung seiner Hauptfigur gelingt es dem Autor den Leser von Beginn an zu fesseln.
Die Mordkommission in Sheffield empfängt die psychisch angeschlagene Matilda nach ihrer längeren Zwangspause wirklich nicht mit offenen Armen. Auch ihre Vorgesetzte, ihre ehemaligen Kollegen und allen voran ihr Stellvertreter Ben Hales, der ihr Büro in Beschlag genommen hat, scheinen nicht so recht daran zu glauben, dass sie je wieder fit genug für den taffen Job als Leiterin der Mordkommission ist und begegnen ihr mit Ignoranz, offener Feindseligkeit oder Skepsis. Sehr einfühlsam und glaubwürdig beschreibt der Autor die psychische Verfassung seiner Hauptfigur. Hervorragend kann man sich in ihr Innenleben herein versetzen und verfolgt gefesselt ihre charakterliche Entwicklung – unglücklich und labil kämpft sie sich trotz einiger Rückschläge beharrlich aus ihrer Depression, Alkoholabstürzen und Panikattacken wieder ins Arbeitsleben zurück. So gewinnt sie schließlich wieder ihr Selbstbewusstsein und ihre alte Stärke als umsichtige, verantwortungsvolle Leiterin des Ermittlerteams zurück. Der Krimi lebt zudem auch von seinen zahlreichen interessanten Nebenfiguren, die ebenfalls sehr vielschichtig und lebendig gezeichnet sind und mit ihren Entwicklungen im Laufe der Handlung für so manche Überraschung sorgen.
Am Beispiel von Jonathan, Zeuge der Harkness-Morde, und seinem älteren Bruder Mathew gibt der Autor spannende Einblicke in die Abgründe der menschlichen Psyche. Zugleich verdeutlicht er sehr eindringlich und mit viel psychologischem Hintergrundwissen, welche Qualen, Zerrissenheit und Traumata Opfer auch noch als Erwachsene durchleben müssen und wie ihr Verhalten durch die Umwelt geprägt wurde.
Wood versteht es hervorragend den Spannungsbogen mit einigen überraschenden Wendungen bis zum fesselnden Ende immer weiter zu spannen. Auch wenn er uns einige Male während der Ermittlungen sehr geschickt auf falsche Fährten lockt, lädt dieser Krimi zum Miträtseln ein. Mehrfach muss man seine Verdachtsmomente, wer denn nun der Täter ist, revidieren. Die Auflösung des komplexen Falls ist aber in sich schlüssig und weitgehend nachvollziehbar.
Ich bin schon sehr gespannt auf den Folgeband mit einem neuen Fall für Mathilda.
FAZIT
Ein fesselnder Auftakt einer viel versprechenden neuen Krimi-Reihe in Sheffield rund um die labile, aber sehr sympathische DCI Matilda Darke. Empfehlenswert!