Besonderes Buch
Die LügeDie Lüge ist ein aufrüttelndes Buch. Eins, das zeigt, wie viel noch zu tun ist und wie wichtig Familie sein kann - aber auch, mit was für einer Verantwortung sie einhergehen kann.
Der introvertierte, ...
Die Lüge ist ein aufrüttelndes Buch. Eins, das zeigt, wie viel noch zu tun ist und wie wichtig Familie sein kann - aber auch, mit was für einer Verantwortung sie einhergehen kann.
Der introvertierte, ruhige Mikita wächst in Russland auf. Ein Land, in dem Beleidigungen gegen Homosexuelle weniger bestraft werden, als Homosexuell zu sein. Als seine Mutter stirbt, adoptiert dessen Bruder sie. Mit dem liebevollen Slawa und seinem perfektionistischem Freund genießt Mikita eine schöne Kindheit. Bis es dann zur Einschulung geht.
Plötzlich lernt Mikita, dass es wohl nicht okay ist, sich öffentlich Homosexuell zu zeigen, obwohl er doch bisher nie ein Problem darin gesehen hat. Die Überforderung kommt schnell, denn das Versteckspiel ist aufwühlend und fordert viel. Aufsätze in der Schule müssen mit größter Vorsicht geschrieben werden, in Gesprächen mit Freund*innen muss auf jedes Wort geachtet werden und Besuch ist selten möglich, vorher müssen außerdem alle Regenbogenflaggen versteckt werden.
Irgendwann fühlt Mikita nur noch Leere, die nur von dieser rasenden Wut abgelöst wird. Wut, über die er mit niemandem sprechen kann. Und dann merkt er, dass auch er kein wirkliches Interesse an Mädchen hat, was seinen Selbsthass noch mehr pusht. Es dauert einige Zeit, bis er das akzeptieren kann.
„Damals verstand ich den Ernst der Lage noch nicht ganz. Mir war nicht vollkommen klar, warum es so wichtig war, uns nicht zu outen. Ich verhandelte ständig mit meinem Gewissen, nach dem Motto: Wenn ich nur jedem erzähle, wie cool sie sind, wird schon alles gutgehen.“
Was für eine krasse Geschichte. Mikita tat mir auf jeder Seite so unendlich leid. Mich hat es sehr bewegt, so eine Geschichte mal aus der Sicht eines Kindes zu erleben. Ein Kind, das nie gelernt hat, dass Homosexualität etwas verkehrtes ist und das einfach nur in Ruhe leben möchte. Natürlich musste er in dieser Situation viel zu schnell erwachsen werden. Seine kindlichen Gedanken sind aber häufig eingeflossen und haben die ganze Situation noch packender für mich gemacht.
„Die Kindheit ist so schön und herzlos zugleich“
Mikitas Gefühle sind dabei so eindrücklich beschrieben, so greifbar. Seine Depressionen, sowieso seine Aggressionen sind durchgängig spürbar und tun fast schon weh. Seid also ein bisschen vorsichtig beim Lesen, das Buch ist keine leichte Kost.
„Nach einer langen Pause sagte Slawa etwas, das mir für immer im Gedächtnis geblieben ist: »Ich bin diese verfluchte russische Wahl zwischen Gewalt und Gewalt so leid. Hier bleibt selbst den Kindern nichts, als sich ihre Henker auszusuchen.“
Natürlich kommen auch Slawa und Lew nicht zu kurz. Ihre Beziehung hat mich total begeistert, auch wenn man immer nur Momente von ihnen mitbekommt. Vor allem die Stärke, die sie zum Teil wohl auch für Mikita aufbringen, hat mich berührt. Slawa und Lew nehmen Vaterrollen an, natürlich kann Mikita in der Öffentlichkeit nicht beide so nennen. Während Slawa sehr liebevoll, oft auch zu locker und gerade zu Beginn eher wie ein großer Bruder mit Mikita umgeht, greift Lew schnell hart durch. Der Arzt hat hohe Ansprüche und die Situation Zuhause eskaliert nicht nur einmal.
„Damals spürte ich zum ersten Mal, dass Erwachsene nicht immer ein Garant für Sicherheit sind. Dass sie nicht allmächtig und weise sind. Und dass sie, wenn sie es nicht für nötig halten, dich kleines Wesen vor überhaupt nichts schützen.“
Der Schreibstil von Mikita Franko gefällt mir sehr gut. Schnörkellos, aber genau ins Herz. Ich mag diese direkte Art einfach und bin nur so durch die Seiten geflogen (Solange ich durch den Tränenschleier lesen konnte)
Von mir eine große Empfehlung, ich habe das Buch in kürzester Zeit verschlungen und dann erstmal einige Leute vollgequatscht. Dieses Buch löst so viel aus und öffnet interessante Diskussionen.