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Veröffentlicht am 31.01.2021

Eine Geschichte wie ein Kaleidoskop

Das Verschwinden der Erde
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An der Küste Kamtschatkas lassen sich Aljona und Sofia an einem sonnigen Nachmittag von einem Fremden überreden, in sein Auto zu steigen. Seitdem fehlt von den Schwestern jede Spur.
Julia Phillips entführt ...

An der Küste Kamtschatkas lassen sich Aljona und Sofia an einem sonnigen Nachmittag von einem Fremden überreden, in sein Auto zu steigen. Seitdem fehlt von den Schwestern jede Spur.
Julia Phillips entführt ihre Leser in eines der entlegensten Gebiete der ehemaligen Sowjetunion. Ureinwohner und Russen versuchen ein Miteinander, in dem Misstrauen und Vorurteile viel zu viel Raum einnehmen. Sprachen und Gebräuche, auch die Herausforderungen der Natur bereichern beiläufig und doch prägend das gesamte Geschehen.
Ausgehend vom August wird für ein ganzes Jahr Monat um Monat eine andere Person in den Fokus gerückt. Ganz dicht gerät man an die Menschen heran und spürt gleichzeitig eine unüberbrückbare Distanz. Zu sezierend ist der Blick.
Zunächst sucht man im Laufe der Begegnungen vergeblich nach dem Kontext, überlässt sich schließlich den eindringlichen Schilderungen unterschiedlichster Lebenssituationen. Meist sind es Frauen, die im Mittelpunkt stehen. Die sich im Geflecht ihrer Beziehungen verhalten und erklären. Gegen ihre Verzweiflung und um ihre Träume kämpfen, Stärken und Schwächen offenbaren. Dann, nachdem sich die Perspektive wieder einmal verschoben hat, erscheinen bereits bekannte Figuren in anderen Kontexten und zeigen neue Facetten, ohne ihre Glaubwürdigkeit zu verlieren.
Hier dreht sich ein gigantisches Kaleidoskop von bunten Geschichten um dieselben Betroffenen und die durchgängige Frage nach dem Schicksal der Mädchen und verursacht von Seite zu Seite großartige und überraschende Bilder.
Das Cover ist so schön wie verunsichernd: Die hochaufgetürmten blauen Berge, in die sich die Schwestern zu verlieren drohen, erinnern an aufgewühltes Meer. Das ist so wenig zufällig wie der scheinbar rätselhafte Titel.
Am Ende fügt sich alles zusammen. Genial konzipiert, mit Genuss zu lesen. Ganz sicher ist der Roman eine literarische Kostbarkeit. Ein Thriller jedoch, wie auf im Zitat auf der Rückseite angegeben wird, ist er nicht. Leser*innen, die hier mit falschen Erwartungen einsteigen, werden möglicherweise enttäuscht sein.

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Veröffentlicht am 16.11.2020

Kurzweilige und unterhaltsame Gedanken zum Thema Mode

Männer in Kamelhaarmänteln
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In diesem kleinen Band, den Elke Heidenreich vorlegt, geht es um Kleidung. Textile Stücke aller Art liefern das Stichwort oder die Grundlage zu den Gedanken oder Erinnerungen, die hier versammelt sind. ...

In diesem kleinen Band, den Elke Heidenreich vorlegt, geht es um Kleidung. Textile Stücke aller Art liefern das Stichwort oder die Grundlage zu den Gedanken oder Erinnerungen, die hier versammelt sind.
Unter den Kapitelüberschriften Rot, Gold, Grün, Schwarz, Weiß gibt es kurze Geschichten zu lesen, die mit viel Witz, ein wenig Nostalgie, Augenzwinkern, Selbstironie und ja, machmal auch mit etwas Sentimentalität weit über das Thema Mode hinausweisen. Nicht immer erschließen sich die Zuweisungen, aber das schmälert den Lesegenuss in keiner Weise.
Die Autorin gibt eine Menge Privates preis. Nichts scheint ihr heilig, nichts scheint ihr peinlich zu sein. Das Ergebnis sind erfrischend offene Texte, die neben der scheinbaren Leichtigkeit immer auch nachdenklich, aber nie moralisierend sind.
Da geht es beispielsweise um ein Papierkleid, wie es sie in den Sechzigern gab, und die unangenehme Situation, in welche ihre Trägerin gerät. Oder um die Bestattung des Lieblingstieres in angemessener Hülle. Um den Kamelhaarmantel, den kein Mann richtig zu tragen versteht, abgesehen vom Vater. Oder um eine kleine Überraschung bei dem Blick auf Karl Lagerfelds Socken.
Neben ihr treten also auch andere Personen auf, viele Prominente, deren Namen vor allem der älteren Generation, die an diesem Buch sicher viel Freude hat, geläufig sein dürften. Verschont werden wenige von ihnen, mal mehr mal weniger wohlwollend wird mit den übrigen verfahren.
Ab und an ist ein Foto eingefügt, meistens zeigt es die Autorin in zeittypischen Outfits, und unterstreicht den Eindruck des Persönlichen.
Besonders erwähnenswert, weil keineswegs mehr selbstverständlich, ist das Inhaltsverzeichnis, das auf den letzten Seiten einen Überblick gewährt und rasches Wiederfinden einzelner Episoden ermöglicht.
Im Großen und Ganzen eine vergnügliche und sehr kurzweilige Unterhaltung für Menschen, die gerne Lachen und Nachdenken verknüpfen.

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Veröffentlicht am 11.11.2020

Von einem Versuch, traurig und verletzt das Leben fortzusetzen

Der Moment zwischen den Zeiten
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Paula Cids Leben ist aus den Fugen geraten. Ihr Lebenspartner wird durch einen Unfall aus dem Leben gerissen, unmittelbar nachdem er ihr eröffnet hat, sie wegen einer anderen verlassen zu wollen.
Die katalanische ...

Paula Cids Leben ist aus den Fugen geraten. Ihr Lebenspartner wird durch einen Unfall aus dem Leben gerissen, unmittelbar nachdem er ihr eröffnet hat, sie wegen einer anderen verlassen zu wollen.
Die katalanische Autorin Marta Orriols macht es sich nicht leicht mit dieser Geschichte. Dem Gefühl der Trauer wird das der Verletzung zur Seite gestellt. Immer wieder gewinnt eines der beiden die Oberhand, schwierig für die 42-jährige Neonatologin, hier Frieden zu schließen. Den findet sie eigentlich nur bei ihrer Arbeit im Krankenhaus, wo sie verbissen und bis zur Verausgabung um das Leben der Frühgeborenen kämpft.
Innerhalb dieser besonderen Konstellation entsteht das Spannungsfeld, in welchem die Ärztin um Orientierung ringt. Derart plötzlich gleich mit einem doppelten Schock konfrontiert, versucht sie, das Geschehene einzuordnen, den Geliebten loszulassen, der ohnehin für sie schon verloren war, und begibt sich gleichzeitig auf seine Spuren. Will verstehen, findet Hilfe bei Freunden, Trost bei ihrem Vater und versucht sich in erotischer Begegnung. Was immer sie tut, es steht unter dem Stern der beendeten Liebe. Wut, Resignation, Schuldgefühle, innere Dialoge mit einem Karussell von Fragen, die nach Antworten lechzen, verzehren sie. Konfrontationen mit Belanglosigkeiten strengen sie ebenso an wie die Begegnung mit der jungen und schönen Carla, für die sich Mauro entschieden hatte.
Wie unausweichlich gefangen sie ist, zeigt sich auch daran, dass die Ich-Erzählerin sich immer wieder an das Du, an Mauro wendet.
Teilweise gelingt die Darstellung Paulas innerer Welt authentisch, poetisch und mit philosophischer Tiefe, um an anderen Stellen beinahe ins Triviale abzurutschen. Sensibel und eigenwillig geht sie ihren schweren Weg und beweist, was der Abschied von einem nahen Menschen ist: ein individueller Prozess, der sich immer unterscheidet von denen anderer Betroffener.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Sebi erzählt Geschichte(n)

Der Halbbart
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1313: Sebi lebt mit seiner Mutter und zwei älteren Brüdern in einem kleinen Ort in der Talschaft Schwyz. Er berichtet von allem, was geschieht, auch von dem ungewöhnlichen Fremden mit dem entstellten Gesicht, ...

1313: Sebi lebt mit seiner Mutter und zwei älteren Brüdern in einem kleinen Ort in der Talschaft Schwyz. Er berichtet von allem, was geschieht, auch von dem ungewöhnlichen Fremden mit dem entstellten Gesicht, der eines Tages auftaucht.
Charles Lewinsky hat mit dem jungen Ich-Erzähler Sebi, der eigentlich Eusebius heißt, eine ganz besondere, ebenso reflektierte wie kindliche Stimme erschaffen. Wie genau der Junge hinschaut, wie verständig er aus seiner Sicht heraus die Dinge angeht, wie kritisch er auch manches hinterfragt, das macht ihn einzigartig und liebenswert. Und obwohl er viele Umwege geht, ehe er zum Kern kommt, und die Helvetismen seiner Sprache den Leser ziemlich herausfordern, vermag er in Bann zu ziehen und zum Lauschen zu verführen.
Historische Gegebenheiten, Gebräuche und regionale Besonderheiten bilden einen Rahmen, innerhalb dessen mit großem Selbstverständnis mittelalterliches Dorfleben stattfindet. Große wie kleine Ereignisse werden auf persönliche Schicksale herunter gebrochen und rücken damit sehr nah. Die Menschen, die ihren Veranlagungen und Träumen entsprechen wollen, werden durch Schicksalsschläge immer wieder aus ihren Bahnen geworfen. Es entstehen Freundschaften und Bindungen, auch die ständigem Wandel unterworfen.
In starkem Gegensatz zu einigen ausführlichen Schilderungen extremer Grausamkeiten steht der Humor, der untergründig beständig durchscheint.
Gemeinsam mit den nur scheinbar naiven Reflektionen Sebis und dessen Aufrichtigkeit und Herzensgüte vermittelt er ein angenehmes und vertrauensvolles Lesegefühl.
Doch Vorsicht: Wer sich von diesem warmen, zuversichtlichen Ton einlullen lässt, wird schon bald erfahren, dass nicht das Sich-Wohlfühlen der Leser Ziel des Romans ist. Und dass keine Rücksicht genommen wird auf deren Erwartungen. Wie im wahren Leben bleiben Fragen offen, gerät vieles aus dem Auge, werden Fäden abgeschnitten und Enttäuschungen zugefügt. Was bleibt, sind Geschichten, und wie schön oder entsetzlich, wie wahr oder unwahr sie sind, wird am Ende nicht darüber entscheiden, ob sie weitergetragen werden oder nicht.

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Veröffentlicht am 05.10.2020

Spannend, atmosphärisch, geheimnisvoll

Das verborgene Zimmer
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Als Sylvie Durand erfährt, dass es in dem Familiensitz in der Provence einen Brand gab, macht sie sich mit ihrer 14-jährigen Tochter Emma auf den Weg in ihre alte Heimat, die sie vor zehn Jahren verlassen ...

Als Sylvie Durand erfährt, dass es in dem Familiensitz in der Provence einen Brand gab, macht sie sich mit ihrer 14-jährigen Tochter Emma auf den Weg in ihre alte Heimat, die sie vor zehn Jahren verlassen hat. Doch während sie den Verkauf des Hauses in die Wege leitet, ersteht neben dem romantischen Flair ein unsichtbares Grauen, das in der Vergangenheit wurzelt.
Von der ersten Seite an gelingt es Kate Riordan, ihre sicherlich überwiegend weibliche Leserschaft in Bann zu ziehen. Dir Zutaten sind geradezu klassisch: ein altes, lange verlassenes Herrenhaus, die landschaftliche und klimatische Verlockung Südfrankreichs, Familiengeheimnisse und eine latente, aber deutlich wahrnehmbare Bedrohung.
Im Wesentlichen geht es um drei Personen, die durch eine besondere Technik äußerst unterscheidbar sind: Sylvie erzählt aus der Ich-Perspektive heraus ihre Geschichte Emma, die also direkt angesprochen wird, während die erstgeborene Tochter Élodie in der dritten Person Erwähnung findet. Dieser Trick, der gut lesbare Schreibstil und die fortwährende Spannung lassen die Geschichte nur so vorüberfliegen.
Über Élodie erfahren wir zunächst nur, dass sie an einer Krankheit litt, deretwegen sie in einer Klinik behandelt wurde und an der sie schließlich starb. All die Fragen, die Emma stellt, werden abgewehrt oder ausweichend beantwortet. Ihre Neugierde überträgt sich rasch auf die Leserin: Was genau fehlte ihrer großen Schwester? Wer war sie wirklich? Warum verließen die Eltern ihre Heimat und trennten sich? Und weshalb spricht man nicht über das, was damals geschehen ist?
Als Mutter agiert Sylvie zwar liebevoll, gleichzeitig überbeschützend, bevormundend, deutlich angstgesteuert wie nach einer nicht überwundenen traumatischen Erfahrung. Emma zeigt sich als verständige, wenig aufmüpfige, anpassungsbereite Tochter. Das Band zwischen beiden scheint sehr eng. Doch im Laufe der Geschichte wird auch diese Beziehung auf eine harte Probe gestellt.
Ein wichtiges dramaturgisches Element spielt das Feuer, das in unterschiedlichen Situationen in Erscheinung tritt. Unter anderem versinnbildlichen die Waldbrände, die in dem heißen und trockenen Zeitraum ständig im Hintergrund lodern und permanent Rauchschwaden und Brandgeruch über das Land legen, die Allgegenwärtigkeit einer drohenden Gefahr.
Der kann man sich ebensowenig entziehen wie dem Zwang, hier ganz schnell Seite um Seite bis zum nervenzerreißenden Showdown zu verschlingen.

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