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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.05.2020

Faszinierendes Leseerlebnis

Die Brüder Fournier
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Die Brüder Iason und Vincent Fournier wachsen in den 60er und 70er Jahren im fiktiven Brüsseler Vorort Envie als Söhne viel beschäftigter Eltern auf. Während Vincent, der jüngere, leichtfüßig seinen Weg ...

Die Brüder Iason und Vincent Fournier wachsen in den 60er und 70er Jahren im fiktiven Brüsseler Vorort Envie als Söhne viel beschäftigter Eltern auf. Während Vincent, der jüngere, leichtfüßig seinen Weg einschlägt, bringt sich Iason durch seine unbeherrschbare Impulsivität schon früh in Schwierigkeiten. Sein aufsässiges, unangepasstes Wesen fordert pädagogische, psychiatrische, medizinische und gesellschaftliche Kompetenzen seiner Zeit heraus.
Dass das Verfolgen seines Werdegang so überaus interessant ist, liegt vor allem an der Besonderheit des Schreibstils.
Matthias Wittekindt beschreibt sachlich, detailgetreu und scheinbar unbeteiligt Szenen, als ließe er ein Spotlight darüber gleiten. Lediglich die leise Ironie vermittelt einen Hauch von Beurteilung. Zwischen kurzen, scheinbar simplen Sätzen versteckt er tiefe Bedeutungen. Immer wieder gibt es Andeutungen, die in die Zukunft weisen, eine dunkle Bedrohung beschwören und Dinge vermuten lassen, die, wenn sie dann eintreffen, doch wieder ganz anders sind als erwartet.
So schafft er ein Spannungsfeld, in dem sich die Personen bewegen und in das sie die Leser mit hineinziehen.
Unschön und willkürlich erscheint der Klappentext, der ungewöhnlich weit in die Geschichte vorgreift. Da geht es offenbar darum, etwas Reißerisches zu offerieren, um Käufer zu ködern. Schade, denn genau hier liegt die Stärke des Buches nicht. Leser, die sich aufgrund dieser Informationen zum Erwerb entschieden haben, werden vermutlich enttäuscht sein.
Wie auch diejenigen, die der Genrezuordnung auf den Leim gegangen sind. Falls man hier wirklich über einen Kriminalroman sprechen möchte, dann zumindest über einen, der völlig anders ist. Ein traditionelles Verbrechen findet nicht statt, polizeiliche Ermittler erscheinen ganz am Rand, Schuldige, falls es denn welche gibt, werden kaum zur Rechenschaft gezogen.
Alles ist verwirrend und undurchsichtig, der Fokus wird so stark auf Iason gerichtet, dass alles andere verschwimmt und sich verliert.
So bleibt man am Ende mit vielen Fragen und der einzigen Gewissheit zurück, soeben ein faszinierendes, fesselndes Leseerlebnis gehabt zu haben.

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Veröffentlicht am 28.04.2020

Stimmungsvoller Caprikrimi

Mitten im August
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Agente Enrico Rizzi vom Polizeiposten Capri wird erstmalig in seiner Laufbahn mit einem Morddelikt konfrontiert: Vor der Küste bei Punta Carina wird in einem Boot treibend ein junger Mann entdeckt. Offensichtlich ...

Agente Enrico Rizzi vom Polizeiposten Capri wird erstmalig in seiner Laufbahn mit einem Morddelikt konfrontiert: Vor der Küste bei Punta Carina wird in einem Boot treibend ein junger Mann entdeckt. Offensichtlich wurde er erstochen.
Der Roman ist Luca Venturas Auftakt zu der Krimireihe um den italienischen Ermittler. Der ist noch recht unerfahren im Gegensatz zu seiner neuen Kollegin Antonia Cirillo, die aus unbekannten Gründen als Strafversetzte in seiner Dienststelle landet. Zwischen den beiden klaffen auch sonstige Differenzen, die auf Überwindung warten, die sich in diesem Band aber noch nicht so recht einstellen will.
Rizzi wird zunächst im familiären Umfeld präsentiert. Durch die tatkräftige Hilfe im elterlichen Garten erwirbt er auf Anhieb Sympathien und gewährt dem Leser Einblick in eine italienische Bilderbuchfamilie. Die großartigen Landschaftsbeschreibungen und Schilderungen des örtlichen Lebens helfen, Flair und Urlaubsfeeling zu transportieren. Als nette Zugabe unterstützen die Landkarten in den Umschlagseiten.
Dabei nimmt das Persönliche keineswegs zu viel Raum an. Das Verhältnis zur Krimihandlung ist recht ausgewogen und vermittelt mit dem flüssigen Schreibstil und der ruhigen, leichten Grundstimmung eine lockere Wohlfühlatmosphäre.
Mit der Identifizierung des Opfers als Sohn eines reichen Industriellen und im Naturschutz engagierten Studenten der Meeresbiologie gerät das Thema Umweltschutz in den Fokus, insbesondere die Sorge um die Versäuerung der Meere durch Kohlendioxid und der Szenarien, die sich daraus ergeben.
Motive für die Tat gibt es gleich mehrere. Samt der dazugehörigen Verdächtigen. Hieraus den oder die richtige herauszupicken, ist keineswegs ganz aussichtslos.
Kleinigkeiten wie durchbrochene Kontinuität einzelner Figuren oder winzige Ungereimtheiten schmälern den Lesegenuss dieses stimmungsvollen Romans kaum, echte Krimiliebhaber könnten indes eine kräftige Dosis Spannung und Nervenkitzel vermissen.

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Veröffentlicht am 23.04.2020

Unterhaltsam und nützlich

»Gestatten, ich bin ein Arschloch.«
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Sympathisch und attraktiv sieht er aus, der Mann auf dem Cover, Pablo Hagemeyer. Muss er auch. Schließlich ist er Narzisst, also einer jener Menschen, die den Zugang zu ihrem authentischen, emphatischen ...

Sympathisch und attraktiv sieht er aus, der Mann auf dem Cover, Pablo Hagemeyer. Muss er auch. Schließlich ist er Narzisst, also einer jener Menschen, die den Zugang zu ihrem authentischen, emphatischen Selbst verloren haben, um anstatt dessen ihrer Selbsterhöhung zu frönen und damit ihre Umgebung drangsalieren, etwa so wie der derzeitige US-amerikanische Präsident. Damit das bestmöglich gelingt, ist Außenwirkung existenziell. Zudem ist er Psychiater. Und in dieser Funktion will er all jenen, die unter solchen wie ihm, Narzissten also, leiden, erklären, was es mit denen auf sich hat und wie man mit ihnen umgehen soll.
Der solchermaßen doppelt qualifizierte Autor weiß viel zu erzählen. Kreist um das Thema, schweift auch mal ab. Plaudert, meist leicht und unterhaltsam, mal sachlich, selten wissenschaftlich. Dabei verzettelt er sich gerne.
Theoretische Erkenntnisse werden anhand des Paares Tim und Tina mit Beispielen unterlegt, dann gibt es noch die gestrichelt umrandeten Kästen mit Tipps und die anderen mit Infos, außerdem Erinnerungsausflüge in seine Kindheit, Erlebnisse aus der Praxis, einige veranschaulichende Illustrationen und zwischendurch die pfiffigen und höchst selbstironischen Dialoge mit Ehefrau Carlota. Der fachliche Anspruch schwankt, weitgehend wird in leicht verständlichem Umgangston geschrieben, um dann unvermittelt in psychiatrische Diskurse umzuschwenken mit Schlussfolgerungen, die manchmal kaum nachzuvollziehen sind. So ganz leicht haben es die Leser also nicht immer.
Doch in der zweiten Hälfte wird es konkreter. Wer wissen möchte, was die Störung bedeutet, wie sie sich äußert, ob man selbst betroffen ist, welche Differenzierungen es gibt und ganz besonders: wie man mit einem Narzissten umgeht, der einen gerade zur Verzweiflung bringt, erhält hier Antworten. Fundierte, hilfreiche, erhellende und praxistaugliche Antworten, die Verständnis und Erkenntnis und in der Folge mehr Gelassenheit und Stärke bewirken und darüberhinaus Lösungen anbieten. Sogar mehr als Lösungen: Hier erfolgt ein Appell, ungute Zustände zu ändern. Das nötige Know-How wird mitgeliefert.

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Veröffentlicht am 17.04.2020

Poetischer und berührender Beitrag zum Thema Resozialisierung

Ich an meiner Seite
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Der 23-jährige Arthur soll nach einem Gefängnisaufenthalt in einem Resozialisierungsprojekt auf sein neues Leben vorbereitet werden. Doch das Fußfassen ist schwierig.
Nicht nur ihrem Helden, auch dem ...

Der 23-jährige Arthur soll nach einem Gefängnisaufenthalt in einem Resozialisierungsprojekt auf sein neues Leben vorbereitet werden. Doch das Fußfassen ist schwierig.
Nicht nur ihrem Helden, auch dem Leser gewährt Bachmannpreisträgerin Birgit Birnbacher keinen leichten Einstieg. Zunächst muss man ein wenig hinein lesen in die Geschichte. Erst nach und nach rücken die Protagonisten näher. Nichts wird erklärt, Szene reiht sich an Szene.
Wir begegnen Arthur in der Mensa, wo er jetzt gerade steht und sich einen Kaffee ziehen möchte. Dann vor anderthalb Jahren bei seinem Therapeuten. Und erst mit Hilfe der Rückblenden, beginnend bei seiner Geburt, dürfen wir uns Stück für Stück aus Fragmenten ein Bild des jungen Mannes zusammensetzen. Das zeigt einen freundlichen, harmonieliebenden Charakter, sensibel, nachdenklich, ohne feste Ziele als das, möglichst wenig aufzufallen. Immer verwunderter stellt man sich die Frage, wie er wohl den Weg in die Kriminalität gefunden haben mag.
Sein Therapeut Vogl taugt als Held noch weniger. Unangepasst bis störrisch, problembehaftet, dem Alkohol zugeneigt, steht er selbst seinem Erfolg am meisten im Weg.
Ungewöhnlich sind sie alle, die Personen, die Arthur in seinem Leben begegnen. Die Interaktionen, auch die fehlenden und gerade dadurch nicht minder ausdrucksstarken, und die originellen Dialoge sorgen mit dem anspruchsvollen Schreibstil und der warmherzigen Ironie für ein besonderes Lesevergnügen, gelegentlich gekrönt von wunderbar poetischen Gedanken.
Die Themen Strafvollzug und Resozialisierung werden kritisch und derart exemplarisch angegangen, dass es nicht wundert, am Ende den Dank gegenüber der „realen Vorlage“ zu lesen. Da ist durchaus ein Anliegen spürbar: Hinter der individuellen Geschichte eines Gestrauchelten verbirgt sich der Appell, offen zu bleiben, Hilfen zu gewähren, menschlich zu handeln.

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Veröffentlicht am 03.04.2020

Einfühlsame Beschreibung einer Verlusterfahrung

Bis die Zeit verschwimmt
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Bei einem Amoklauf in ihrer Schule muss die fünfzehnjährige Helene mit ansehen, wie ihre beste Freundin Cassie erschossen wird. Von jetzt auf gleich gerät ihre Welt aus den Fugen.
Svenja K. Buchner ist ...

Bei einem Amoklauf in ihrer Schule muss die fünfzehnjährige Helene mit ansehen, wie ihre beste Freundin Cassie erschossen wird. Von jetzt auf gleich gerät ihre Welt aus den Fugen.
Svenja K. Buchner ist offenbar dicht dran an Menschen mit Trauererfahrung. In ihrem ersten Jugendroman lässt sie mit Helene eine starke, trotzige Heldin zu Wort kommen, die mit dem brutalen Ende einer innigen und liebevollen Freundschaft konfrontiert ist. Wie die damit umgeht, ist deutlich jenseits des Klischees. Maßlose Wut auf andere, Schuldgefühle, Aktionismus und Depression - viele Facetten der Trauer lebt sie, allerdings auf eine ureigene, individuelle Art. Nicht immer kann man einverstanden sein mit ihr, manchmal verstört ihr Verhalten. Doch genau das macht sie glaubhaft und bringt sie sehr nah.
Auch die anderen Personen, Cassie, der gemeinsame Freund Erik, ihr Bruder Jens, etliche Erwachsene, sind präzise skizziert, folgerichtig laufen Interaktionen und Dialoge lebendig und spannend ab.
In die aktuelle Handlung sind immer wieder Rückblenden eingebaut, in denen es um die Freundschaft der beiden Mädchen geht. Obgleich zur besseren Orientierung mit zwei Zeiten gearbeitet wird, verwischen sich die Ebenen manchmal und schaffen somit stilistisch eine Entsprechung zur inneren Befindlichkeit Helenes. Denn gerade durch den Tod erhält Cassie eine intensive Präsenz.
Lange hat nichts anderes Platz in ihrem Leben. Auf der verzweifelten Suche nach einem Grund für das Geschehen sucht sie die Begegnung mit anderen Betroffenen.
Nach und nach findet Helene zurück, lässt wieder Alltag zu. Sogar romantische Gefühle gegenüber Erik, der ihr mit Geduld und Verständnis auf ihrem schweren Weg zur Seite steht.
So ist sogar ein Ende möglich, das die Leser im Guten entlässt. Das geht nicht ohne Tribut: Das Seichte, Erwartete übernimmt die Regie. Doch in Anbetracht eines Zielleserschaft ab dreizehn Jahre mag das angebracht sein.

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