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Veröffentlicht am 30.10.2023

Angenehm unaufgeregt: ein scharfer, analytischer und ausgewogener Blick auf die aktuelle Weltlage

Welt in Aufruhr
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In einer aufgeregten und sich stetig zuspitzenden Weltlage kommen Münklers Analysen angenehm unaufgeregt daher, und das - und darin liegt allein schon ein großes Verdienst - unter Anerkennung der aktuellen ...

In einer aufgeregten und sich stetig zuspitzenden Weltlage kommen Münklers Analysen angenehm unaufgeregt daher, und das - und darin liegt allein schon ein großes Verdienst - unter Anerkennung der aktuellen Weltlage, die ihm bis zum Russischen Angriffskrieg in der Ukraine als Beispiel seiner Modellierungen und Analysen dient. Was jedoch Kommentatoren und Politiker in Aufruhr versetzt, ist für Münkler ein Analysegegenstand, der uns jeweils hilft die Welt ein Stück besser zu verstehen, Modelle bestätigt zu sehen, anzupassen, oder gar zu verwerfen, und auch damit Erkenntnis und dem Weltverstehen ein Stück näher zu kommen.

Mit Hilfe dessen, was Münkler Raum- und Zeitdehnung in seiner Perspektive nennt, wendet er den Blick in die Vergangenheit, zum Teil bis in die Antike, und jenseits eines eurozentristischen Weltbildes. So schafft er nicht nur zunächst Distanz zum aktuellen Weltgeschehen, es relativiert sich auch manche aufgeregte Einschätzung und Erzählung über den vermeintlich singulären Verfall der Weltordnung. Jede Raum- und Zeitdehnung koppelt Münkler schließlich wieder zurück in die Gegenwart, um diese dann mit den im Rückblick gewonnenen Erkenntnissen neu zu betrachten und zu bewerten. Dabei verfällt er nie ins Moralisieren, bewertet oder formuliert Wünsche. Nüchtern analysiert er beispielsweise wo Autokratien in ihrem Selbsterhalt im Vorteil sind, und wo demgegenüber Demokratien.

So gewinnt er unter anderem nicht nur erhellende Einblicke und mögliche Erklärungen für den Russischen Angriffskrieg, sondern skizziert zuletzt auch, wie eine neue Weltordnung, bei aller Irrtumswahrscheinlichkeit, aussehen könnte.

Aus dem Blick in die Vergangenheit, wird Analyse und Neubewertung der Gegenwart und entstehen letztlich Prognosen für die Zukunft im Bewusstsein aller Irrtumswahrscheinlichkeit. Diese Lektüre ist in jedem Sinne erhellend, mit einer klaren Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 10.10.2023

Bergwandern und Alltagsphilosophie in 10 Etappen

Gipfelrausch
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Gipfelrausch - so der Titel des Werks von Philipp Laage, beschreibt nur einen Ausschnitt dieses wundervollen Buchs. Ein Rausch kann es tatsächlich sein einen Gipfel zu erklimmen, doch ebenso frustrierend ...

Gipfelrausch - so der Titel des Werks von Philipp Laage, beschreibt nur einen Ausschnitt dieses wundervollen Buchs. Ein Rausch kann es tatsächlich sein einen Gipfel zu erklimmen, doch ebenso frustrierend wenn die Natur dem Menschen Grenzen aufzeigt und letztlich ist der Aufenthalt in den Bergen, die Auseinandersetzung in und mit der Natur so viel mehr als ein Rausch, oft das komplette Gegenteil, ein Innehalten, eine Einladung zum Nachdenken über die Welt, den Berg, sich selbst und die eigene Ortung in diesem Kosmos. All diese Facetten durchleben wir mit Philipp Laage in den zehn beschriebenen Gipfeltouren.

Das Buch ist wirklich wunderschön gebunden und auch das Kapitellayout mit dem Foto inkl. Höhenmetern des jeweiligen Bergs auf einer Doppelseite vor dem Bericht gefällt mir sehr gut. Das Buchformat erinnert an ein Tagebuch und so habe ich es auch gelesen, indem ich mir für jeden Berg Zeit genommen habe zum Lesen aber auch um danach das Gelesene wirken zu lassen.

In jedem Kapitel wird von einer Bergbesteigung erzählt, jeweils eingebettet in Gedanken und Informationen zum jeweiligen Land, Mitreisenden, Reisebekanntschaften und dem Bergsteigen (und letztlich dem Leben) als solches. Nebenbei gibt es noch nützliche Tipps zum richtigen Umgang mit der Höhe und ein paar unfreiwillige Lektionen, was man vielleicht lieber unterlassen sollte, wie das Durchfeiern der Nacht vor dem Bergstieg.

Die Wanderungen fand ich wirklich sehr schön beschrieben, insbesondere die Gefühle, die das Wandern, der Kontakt zur Natur und nicht zuletzt die Verbindung zum Berg auslösen. Besonders hat mir das Sinnieren über die Motivation zum Bergsteigen gefallen. Ich glaube gerade in der Moderne ist es das absolut Zweckfreie dieser Unternehmung und der Natur, die den wohltuenden Kontrast zu einem rationalen, utilitaristischen Zeitgeist gibt. Mit dem Satz, zu hören „was der Berg einem zu sagen hat“, hat der Autor dies wundervoll auf den Punkt gebracht.

Emotional bin ich persönlich sehr nah beim Autor, für mich sind die Berge Magie, strahlen Ruhe aus, geben Kraft, ohne dass ich jedoch den Respekt vor ihnen verlieren würde.

Das Buch von Philipp Laage hat mir schöne Stunden in den Bergen und Gedanken zum Sinnieren beschert und ist unbedingt zu empfehlen - auch oder gerade weil es die Sehnsucht nach den Bergen und der Natur weckt!

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Veröffentlicht am 07.10.2023

Ein Leben erzählt in Begegnungen

Die Details
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Woran erinnern wir uns, wenn wir auf unser Leben zurückblicken? Wie werden wir zu der Person, die wir sind? Es sind die Menschen, denen wir begegnen und die Beziehungen zu diesen, oft lediglich Details, ...

Woran erinnern wir uns, wenn wir auf unser Leben zurückblicken? Wie werden wir zu der Person, die wir sind? Es sind die Menschen, denen wir begegnen und die Beziehungen zu diesen, oft lediglich Details, die jedoch zusammengesetzt ein Gesamtbild ergeben. In Die Details setzt die namenlose Ich-Erzählerin in einem Fiebertraum ein solches Bild aus vier Begegnungen mit wichtigen, für sie prägenden Menschen, ihres Lebens zusammen.

Die Sprache ist präzise und bildlich zugleich, jedes Wort sitzt da wo es hin soll, kein Wort zu wenig, keines zu viel.

Jede Erinnerung wirkt wie ein Psychogramm der Person, bis ins kleinste Detail beobachtet und deutet die Erzählerin die Person und die Beziehung aus, um die „Details jenseits der Oberfläche“, wie sie es nennt, aufzuspüren, auszuleuchten. Doch viel wichtiger als die vorgestellten Personen, ist das was sie mit der Erzählerin machen, wie sie ihr Leben, ihre Haltungen und ihre eigene Entwicklung geprägt haben. So beschreibt sie an einer Stelle das Ich als Spuren der Menschen, denen wir begegnen, und man gewinnt den Eindruck, dass es der Erzählerin genau darum geht, aufzuzeigen, dass und auf welche Weise soziale Beziehungen und andere Menschen uns prägen, uns zu uns selbst machen, wie wir unsere Identität im Wechselspiel zwischen Identifikation und Abgrenzung mit anderen ausbilden.

Ein wirklich besonderes Buch, dass mit seiner Sprache und dem aufmerksamen Blick auf die Details, die uns und unsere sozialen Beziehungen ausmachen, vollkommen überzeugt.

Ich habe das Buch als Hörbuch gehört. Die Stimme ist sehr angenehm. Trotzdem würde ich das nächste Mal eher zum Buch greifen. Da sowohl der Inhalt als auch der Stil der Autorin mit vielen klugen Gedanken, zum Innehalten und Nachdenken anregt, was für mich bei einem Buch besser funktioniert. In dem Fall keine Kritik, sondern im Gegenteil, ein Buch, dass man einfach im Regal haben sollte, um immer wieder in den Gedanken darin zu verweilen.

Für Die Details und Ia Genberg eine ganz klare Empfehlung von mir!

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Veröffentlicht am 06.10.2023

Wie kann etwas ein Zuhause sein, wo nicht richtig gekocht wird?

Der berühmte Tiefpunkt
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Dies fragt sich Marieke, als sie die vakuumverpackten Beutel mit undefinierbarem und ungenießbarem Mittagessen im Pflegeheim betrachtet, in dem sie arbeitet. Doch nicht nur dort, auch mit ihrem Freund ...

Dies fragt sich Marieke, als sie die vakuumverpackten Beutel mit undefinierbarem und ungenießbarem Mittagessen im Pflegeheim betrachtet, in dem sie arbeitet. Doch nicht nur dort, auch mit ihrem Freund Blok und in ihrer Familie wurde ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht (mehr) gekocht. Das Zuhause(Gefühl), es fehlt nicht nur im Pflegeheim, auch in Mariekes Privatleben.

Marieke identifiziert sich mit den Seniorinnen, träumt vom Vergessen, Nichts tun, das Leben, Erinnerungen sammeln, möchte sie hinter sich haben, denn offensichtlich spürt sie schon lange, dass die Richtung in die ihr Leben sich entwickelt hat, sie nicht glücklich macht, sie womöglich sogar zerstört. Ihre Partnerschaft, ihre Beziehung zu Mutter, Schwestern und Vater, die katastrophalen Zustände im Pflegeheim, auf all diesen Ebenen hat sie immer nachgegeben, sich angepasst, und sich dabei allmählich selbst verloren oder nie die Chance gehabt sich selbst zu entdecken. Wie es zu dem berühmten Tiefpunkt gekommen ist und wie Marieke sich daraus herauszuarbeiten versucht, beschreibt Amarylis de Gryse in kurzen Kapiteln im Wechsel von Gegenwart, Rückblicken und Träumen. Ihre Sprache ist dabei unglaublich sensibel, nie zu viel oder zu wenig, manchmal traurig, manchmal traurigkomisch, und manchmal entlockt sie ein Lächeln.

Die Beschreibung von Gerichten und ihrer Zubereitung lassen eintauchen in Genuss- und immer parallel auch Gefühlswelten, Lebenswelten und Gemütszustände. Nahrung, Kochen ist Leben in diesem Buch und spiegelt ganz selbstverständlich Glück und Zufriedenheit ebenso wie Traurigkeit und Verlust wider.

Die Einbettung von Pflegealltag und Thematisierung von Rationalisierung der Pflege und Pflegenotstand und seinen Konsequenzen für Personal und Senior*innen finde ich sehr gelungen, und ich kenne bisher keinen Roman, der sich diesem, in unserer Gesellschaft allgegenwärtigen Thema, annimmt. Alleine dieser Aspekt, wäre für sich schon ein Grund das Buch zu lesen. Und es gibt noch so viele Gründe mehr!

Für mich ist dies die schwerste Rezension, die ich bisher geschrieben habe. Weil das Buch so besonders ist, so viele Aspekte und Themen, so klug umsetzt, und man es einfach selbst gelesen haben muss! Ein wunderbares, besonderes Buch!

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Veröffentlicht am 06.10.2023

Ist Überleben schlimmer als der Tod?

Gebranntes Kind sucht das Feuer
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Um nicht weniger kreisen die Gedanken von Cordelia Edvardson in ihrem Erinnerungsroman. Die unvorstellbaren Grauen des NS-Regimes, sie werden in diesem Buch deutlich, nüchtern benannt. Und dies nicht als ...

Um nicht weniger kreisen die Gedanken von Cordelia Edvardson in ihrem Erinnerungsroman. Die unvorstellbaren Grauen des NS-Regimes, sie werden in diesem Buch deutlich, nüchtern benannt. Und dies nicht als abstrakter geschichtlicher Abriss, sondern in den Erinnerungen einer Zeitzeugin, die als Jugendliche in Auschwitz inhaftiert war. Edvardson schreibt in einer Eindringlichkeit, die beim Lesen erschaudern lässt. Dabei gelingt ihr sich nicht nur mit dem auszudrücken, was sie schreibt, sondern sagt in manchen Passagen ebenso viel, wenn nicht noch mehr zwischen den Zeilen. Die Sprachlosigkeit und Gefühllosigkeit angesichts des Erlebten, man spürt sie in jeder Zeile, zwischen den Zeilen, sie hängt förmlich bleischwer zwischen den Buchstaben. Es ist als ob ein Teil von ihr sterben musste, um zu überleben, um das Erlebte überhaupt ertragen zu können.

Damit unterscheidet sich die Erinnerung in der Form ihrer Umsetzung, deutlich von Imre Kertész Roman eines Schicksallosen, Kertész wie Edvardson 1929 geboren und auch zeitweise in Auschwitz inhaftiert. Wie beschreibt man, das Unbeschreibliche? Die Altersgenossen eint, eine Antwort darauf gefunden zu haben. Beide suchen in ihrem Ausdruck eine Form der Distanz. Bei Kertész ist dies der unbedarfte Blick eines Kindes, der es ermöglicht das Unvorstellbare niederzuschreiben. Edvardson wählt die dritte Person, schreibt über „das Mädchen“, zu unbegreiflich bleibt, dass dies ihr Leben, ihre Erfahrung ist. Mengele, Magdl, die Tötungsmaschinerie im Lager werden, wie im Anschlag einer Schreibmaschine Wort für Wort dokumentiert, selten nur erlaubt sich das Mädchen wirkliche Emotion, darf sie sich nicht erlauben, wenn sie überleben will.

Das Überleben, es ist für mich das größte Geschenk in der Wiederentdeckung des Erinnerungsromans von Cordelia Edvardson. Denn das „Weiterleben“ ist etwas, was ich bisher in noch keinem Zeitzeugenbericht so eindringlich beschrieben oder überhaupt thematisiert gefunden habe. Wie gehen wir als Gesellschaft mit den Überlebenden um? Cordelia Edvardson begegnet einem gesellschaftlichen Verdrängen, einem Weitermachen, nach vorn blicken. Doch Verdrängen funktioniert nur für die, die nicht gesehen, die nicht erlebt haben - Edvardson nennt sie die Lebenden. Was macht die gesellschaftliche Verdrängung als kollektive Vergangenheitsbewältigung mit denen, die überlebt haben und nun weiterleben müssen? Nimmt man den Überlebenden damit nach der Entmenschlichung des Lagers ein zweites Mal ihre Identität, oder zumindest einen Teil davon, indem man das Erlebte ignoriert, negiert, nicht hören will?

Auch diese Fragen machen den Erinnerungsroman heute noch genauso aktuell wie bei seiner Ersterscheinung.

Die schwierige Beziehung zur Mutter bleibt lange nicht wirklich greifbar. Es schadet sicher nicht vor der Lektüre zu Elisabeth Langgässer einen kurzen Überblick zu haben. Spätestens im Nachwort kann hiermit jedoch auch Daniel Kehlmann dienen.

Es ist sicher kein leichtes und auch kein schönes Buch, im herkömmlichen Sinne, aber dafür um so mehr ein wichtiges Stück Erinnerung und Zeitgeschichte, an dem Cordelia Edvardson uns teilhaben lässt.

Die Zeilen von Cordelia Edvardson werden mich noch lange beschäftigen. Und das ist das Beste, was man von einem Buch erwarten kann.

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