Ein namenloses Leiden an einem namenlosen Ort - nirgendwo und überall
Übung in GehorsamÜbung in Gehorsam - das ist es, was die Ich-Erzählerin in Sarah Bernsteins Roman seit ihrer frühesten Kindheit erlebt. Als jüngstes Kind unter vielen Geschwistern wird sie von kleinauf zur Befriedigung ...
Übung in Gehorsam - das ist es, was die Ich-Erzählerin in Sarah Bernsteins Roman seit ihrer frühesten Kindheit erlebt. Als jüngstes Kind unter vielen Geschwistern wird sie von kleinauf zur Befriedigung der Bedürfnisse der Älteren herangezogen, eine Abhängigkeit, die sich bis ins Erwachsenenalter zieht, als ihr Bruder sie nach dem Verlassen von Frau und Kindern, bittet bei ihm Einzuziehen, um sich um Haus und Hof zu kümmern. Natürlich kommt die Ich-Erzählerin dem nach und berichtet aus dieser Position heraus von dem neuen Leben, dass sie bei ihrem Bruder, dem Ort der Vertreibung ihrer Vorfahren vorfindet, dabei rekurriert sie auch immer wieder auf die Vergangenheit, ihre eigene und im transgenerationalen Sinne, die ihrer Vorfahren.
Während zunächst die Beziehung zum Bruder in der Erzählung dominiert, verschiebt sich der Fokus im Laufe des Reports der Ich-Erzählerin hin zu nicht weniger als der Geschichte einer jüdischen Identität, die sicher nicht zufällig als weibliche im Roman gewählt ist, in all ihrer Schwere und Traumata - die Ich-Erzählerin und ihr Erleben dabei gleichsam als Symbol für die diversen (auch transgenerationalen) Traumata und auf gesellschaftlicher Ebene der Umgang mit Schuld und Verantwortung, sowie die Persistenz von Antisemitismus bis in die Gegenwart. Die gesellschaftliche Ebene wird dabei durch die Gemeinschaft des Städtchens repräsentiert, die der Ich-Erzählerin mit Skepsis, Vorbehalten bis hin zu offener Ablehnung begegnet. Im Fokus der Erzählung dabei immer das Bestreben der Ich-Erzählerin eine Erklärung, einen Sinn und einen berechtigten Grund in der Ablehnung ihrer Person zu finden.
Der Roman wiegt obgleich der wenigen Seiten unheimlich schwer. Jedes Wort, jede Zeile und jeder Raum dazwischen füllt sich beim Lesen mit Bedeutung, die nicht immer leicht zugänglich ist, es vielleicht auch nicht immer sein soll, gerade um sie in der Varianz der Interpretation noch einmal zu vervielfachen. Die Zugänglichkeit wird zudem durch die zahlreichen, klug konstruierten und platzierten religiösen und religionsgeschichtlichen, soziologischen, philosophischen und sozialpsychologischen Verweise erschwert. Der Text lädt aus meiner Sicht so vielmehr zum Entschlüsseln, statt dem klassischen Lesen ein. Wer sich darauf einlässt, wird mit einem sprachlich ausgereiften, intelligent konstruierten Roman belohnt, der zum Nachdenken und Wiederlesen einlädt!