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Veröffentlicht am 06.03.2024

Am Ende

Das späte Leben
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Martin Brehm ist sechsundsiebzig, verheiratet mit der sehr viel jüngeren Ulla und Vater des sechsjährigen David, als ihn die niederschmetternde Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erreicht und ihm nur noch ...

Martin Brehm ist sechsundsiebzig, verheiratet mit der sehr viel jüngeren Ulla und Vater des sechsjährigen David, als ihn die niederschmetternde Diagnose Bauchspeicheldrüsenkrebs erreicht und ihm nur noch wenige Wochen, maximal sechs Monate Lebenszeit bleiben. Was wird er damit anfangen, welche Ziele verfolgt er noch? Während er kommende Klimaänderungen und Katastrophen nicht mehr aushalten muss, wird er aber auch die künftigen Erlebnisse von Ulla und insbesondere von David, der erst kurz vor dem Schuleintritt steht, nicht mehr mit ansehen können.

In seiner eher nüchternen, sachlichen Art zu schreiben spiegelt Bernhard Schlink das Fühlen von Martin sehr gut wider. Anfangs betrachtet auch dieser sehr leidenschaftslos und klar die neue Situation, wägt ab, was er noch mit seiner kleinen Familie unternehmen möchte und was Ulla und David Freude bereiten könnte. Alles in allem jedoch versucht er, seine verbleibenden Tage möglichst normal zu gestalten, um seinen Sohn nicht zu verunsichern. Gekonnt skizziert Schlink die kleine Familie, wenige Figuren und ihre jeweilige Sicht der Dinge. Wie würde man selbst mit solch einer Diagnose umgehen, sei es, sie betrifft einen persönlich, sei es, sie betrifft einen sehr nahen Angehörigen? Mir gefallen die Überlegungen und Handlungsweisen der drei Hauptpersonen sehr gut, selbst in diesen wenigen Wochen kann man ihre Entwicklung deutlich mitverfolgen. Insbesondere Martins Reflexion darüber, was er David und Ulla quasi als Andenken hinterlassen könnte, finde ich berührend, das Ende dieses perfekt gerafften Romanes überaus gelungen.

Ein trauriges, aber dennoch sehr realistisches Thema – Krankheit und wie leben wir damit? – setzt Bernhard Schlink auf recht rationale, dennoch aber bewegende Art und Weise um. Ich empfehle dieses Buch daher gerne weiter!

Veröffentlicht am 05.03.2024

Rasiermessermuschel

Revanche
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Wie jeden Tag nimmt die Fähre über die Gironde frühmorgens die ersten Passagiere auf, um sie von Blaye nach Lamarque oder umgekehrt zu bringen. Diesmal aber ist etwas anders: in Blaye angekommen, blockiert ...

Wie jeden Tag nimmt die Fähre über die Gironde frühmorgens die ersten Passagiere auf, um sie von Blaye nach Lamarque oder umgekehrt zu bringen. Diesmal aber ist etwas anders: in Blaye angekommen, blockiert das Fahrzeug von Malermeister Benjamin Forestier die Ausfahrt, vom beliebten Mann aus Pauillac fehlt jede Spur. Hatte er irgendwo am Schiff einen Herzinfarkt oder ist er gar über Bord gefallen? Luc Verlain und Anouk Filipetti stehen vor einem Rätsel.

Atmosphärisch, mit einem phantastischen Tagesanbruch an Bord der Fähre Sébastien Vauban, beginnt dieser siebente Band der Krimireihe Luc Verlain in der Aquitaine: ein öliger, dunkler Fluss, die Lichter des Hafens, Stammkunden aus dem Médoc, bevor lärmende Touristen übersetzen wollen. Mitten in diese Idylle platzt die mysteriöse Leere im Fiat Fiorino von Benjamin Forestier. Die Passagiere der Fähre dürfen diese nicht verlassen und müssen sich einer nach dem anderen einer Befragung von Luc Verlain unterziehen, während Anouk die Ehefrau des Vermissten aufsucht. Es gibt keinerlei Anhaltspunkte, weshalb der sympathische Maler plötzlich wie vom Erdboden – oder gar vom Fluss? – verschluckt worden ist, bis er tot aufgefunden wird, markiert mit einer sogenannten Rasiermessermuschel. Ein ähnlicher Fall wird aus Paris bekannt, nach einem möglichen Zusammenhang wird fieberhaft gesucht. Flott geht es dahin mit Mutmaßungen und ersten Verdächtigen, neben den wunderbaren landschaftlichen Szenen in der Aquitaine geht es kurz auch nach Paris, wo wir Yacine wiedersehen, der auch sofort in die Ermittlungen mit einbezogen wird. Kurz wird Wesentliches wiederholt, sodass treue Leser ebenso wie Neueinsteiger rasch auf aktuellem Stand sind, ohne dass es zu irgendwelchen Verzögerungen kommt. Der Mix aus privaten Einblicken und einem spannenden, rätselhaften Fall ist wiederum sehr gut gelungen, sodass auch dieses Buch abermals kurzweilige Unterhaltung bietet.

Fazit: ein flüssiger Schreibstil, gut skizzierte Charaktere und ein bizarrer, aber logisch durchdachter Kriminalfall vor traumhafter Urlaubskulisse begeistert wohl jeden Freund von guten Regiokrimis. Ich empfehle diese Reihe sehr gerne weiter und freue mich schon auf weitere Fälle.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.02.2024

Flutnacht

Als der Sturm kam
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Am 16. Februar 1962 braut sich über Hamburg ein Sturm zusammen, gleichzeitig steigt das Wasser im Elbstrom immer weiter an. Obwohl Stürme und kabbelige See hier nichts Ungewöhnliches sind, schlagen die ...

Am 16. Februar 1962 braut sich über Hamburg ein Sturm zusammen, gleichzeitig steigt das Wasser im Elbstrom immer weiter an. Obwohl Stürme und kabbelige See hier nichts Ungewöhnliches sind, schlagen die Einsatzkräfte Alarm – und tatsächlich brechen mitten in der Nacht die ersten Dämme. Realitätsnah und erschütternd erzählt Anja Marschall, was sich bei der größten Katastrophe im Hamburg der Nachkriegszeit zugetragen hat oder so ähnlich geschehen sein könnte.

Beklemmende Szenen auf einem Feuerschiff stimmen den Leser auf unheilvolle Lesestunden ein, denn diese Geschichte basiert auf einer wahren Begebenheit. Viele Figuren sind erdacht, aber auch historische Personen finden Eingang in das blendend erzählte Szenario. Alles beginnt mit dem 16. Februar 1962, man lernt verschiedene Figuren kennen, Bewohner einer Laubensiedlung, einen ehrgeizigen Piloten, Hafenarbeiter, kunterbunt gemischt darf man einen Blicken werfen auf deren ganz normales Leben, aus dem sie in der folgenden Nacht abrupt herausgerissen werden. Aufgrund detaillierter Recherchen kann Marschall die Ereignisse extrem realistisch und glaubwürdig darstellen, das Leid, wenn ein geliebter Mensch einfach von den Fluten mitgerissen wird, die Freude, wenn der Hubschrauber auf das Dach zuhält, auf das man sich geflüchtet hat und einen in waghalsigen Manövern an Bord hieven kann. Egal, ob Mann oder Frau, alt oder jung, das reißende, kalte Wasser stürzt über alle herein, nimmt Bäume und Autos mit, lässt Wohnungen in den Laubenkolonien zusammenknicken wie Streichhölzer. Dramatische Rettungsszenen darf man als Leser mitverfolgen, nicht immer nehmen diese einen glücklichen Ausgang, hat doch auch in der Realität die Flut dreihundertfünfzehn Todesopfer gefordert. Schwierigkeiten bei der Befehligung der Einsatzkräfte (politische Hintergründe sowie andere wissenswerte Informationen sind im Anhang detailliert erklärt) werden ebenso angesprochen wie die Seuchengefahr aufgrund der toten Tiere im überfluteten Gebiet. Familien werden auseinandergerissen, Menschen stehen von einem Moment auf den anderen ohne Hab und Gut da, die Hilfsbereitschaft ist zum Glück groß.

Bewegend, beklemmend, aber absolut lesenswert, denn es gibt durchaus auch freudige Momente - so wird mir dieses großartige Buch noch lange in Erinnerung bleiben.

Veröffentlicht am 29.02.2024

Dem Herzen folgen

Nordseesterne
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Luisa ist brav und angepasst, um ihrer alleinerziehenden Mutter zu gefallen. Allerdings ist sie inzwischen erwachsen und hat ihr BWL-Studium abgeschlossen, um bald die Geschicke der Kosmetikfirma zu übernehmen, ...

Luisa ist brav und angepasst, um ihrer alleinerziehenden Mutter zu gefallen. Allerdings ist sie inzwischen erwachsen und hat ihr BWL-Studium abgeschlossen, um bald die Geschicke der Kosmetikfirma zu übernehmen, allein, ihr Herz hängt voller Leidenschaft am Kochen, was wiederum der Mutter sehr missfällt. Als diese eine niederschmetternde Diagnose erhält, packt sie sofort das Nötigste zusammen und fährt mit Luisa Richtung Ostfriesland. Was sie dort wohl vorhat?

Es dauert geraume Zeit, bis sich die Handlung von Hamburg, witzigen Kochvideos und der Naturkosmetikfirma von Marianne Steinbeck Richtung Greestsiel verlagert. So kann man Luisa und ihre Mutter erst einmal gut kennenlernen, nach und nach werden mittels Einträgen in ein „Buch der Erinnerungen“ auch weitere Geheimnisse gelüftet, und man kann als Leser gut nachvollziehen, wie sich die Figuren entwickeln. Wunderbar fängt Marie Merburg die Atmosphäre in diesem ostfriesischen Dorf ein mit reetgedeckten Häuschen und pittoresken Windmühlen, frischen Krabbenbrötchen und Queller, einer Art Meeresspargel. Dazu gesellen sich muntere Figuren, die meist gar nicht so griesgrämig und in sich gekehrt sind, wie man es den Ostfriesen nachsagt. Wunderbar erzählt Merburg über die ostfriesische Teezeremonie, man hat fast das Gefühl, die Kluntjes am Tassenboden klimpern zu hören, mit dem Löffel umzurühren ist aber völlig verpönt! Ein Knistern spürt man auch zwischen Luise und Holger, als sich eine sanfte Liebesgeschichte entspinnt, die ganz und gar ohne detaillierte Bettszenen auskommt. Die Autorin versteht es auf raffinierte Art und Weise, Lebendigkeit und Freiheit am Meer zu vermitteln, ohne jemals plump zu werden.

Die Zutaten sind perfekt für einen gelungenen Roman, der unterhaltsame Stunden bietet und ganz unaufdringlich auch schwierigere Themen behandelt. Ein ausgezeichneter Mix, der mir überaus gut gefallen hat, sodass ich Nordseesterne sehr gerne weiterempfehle.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 29.02.2024

1972

Pfirsichbowlen-Tage
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Mittlerweile leitet Inga Heinthal die Koch- und Restaurantschule, in der jetzt pro Jahrgang jeweils vier junge Damen und Herren aufgenommen werden. Mit neuen Schwerpunkten und Perspektiven ist das Institut ...

Mittlerweile leitet Inga Heinthal die Koch- und Restaurantschule, in der jetzt pro Jahrgang jeweils vier junge Damen und Herren aufgenommen werden. Mit neuen Schwerpunkten und Perspektiven ist das Institut nach wie vor angesehen und beliebt. Interessante Charaktere wie die junge Witwe Eva oder der Restauranterbe Paul ziehen diesmal ins Internat. Eine spannende Zeit kann beginnen.

Wer die Vorgängerbände bereits kennt, wird schnell merken, dass sich vieles geändert hat in der renommierten Kochschule, dass weniger Strenge herrscht und alles ein bisschen lockerer abläuft als unter Direktorin Edith Waltz, Ingas Mutter. Beschwingt treffen acht neue junge Leute aufeinander, es geht wieder etwas lebhafter zu als bei den Zitronensorbet-Stunden. Lea Benthins Schreibstil fließt angenehm leicht dahin, bildhafte Szenen und typische Details aus den frühen 1970er-Jahren (Schlaghosen, Musik von Deep Purple oder den Beach Boys,…) lassen die passende Atmosphäre entstehen. Dazwischen duftet es aus Küche und Backstube mit praktischen Zubereitungstipps, ohne aber jemals an ein fades Kochbuch zu erinnern. Nicht immer gern gesehene Liebschaften und unerhörte Skandale bringen frischen Wind zwischen die Zeilen, sodass die Autorin auch diesmal kurzweilige Unterhaltung bietet.

Nicht ganz so gut wie Band Eins, aber besser als Teil Zwei der Kochschule empfinde ich „Pfirsichbowlen-Tage“. Am besten als gesamte Reihe, gut aber auch einzeln lesbar sind die drei Bücher. Das jeweils passende Ambiente entführt den Leser Band für Band in die Jahre 1955, 1963 und diesmal eben 1972. Mode, Musik, Weltanschauung allgemein und ganz viele kulinarische Genüsse sowie persönliche Schicksale laden ein, mit sehr realistischen Figuren durch die Zeiten zu bummeln und Abstand zu nehmen vom Alltag.