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Veröffentlicht am 25.09.2024

Lass uns gehen

Sing, wilder Vogel, sing
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Im Jahre 1849 herrscht in Irland eine große Hungersnot. Die irischen Pachtbauern sind abhängig von englischen Gutsherren, erfahren aber von diesen keinerlei Unterstützung. Etliche Menschen verhungern, ...

Im Jahre 1849 herrscht in Irland eine große Hungersnot. Die irischen Pachtbauern sind abhängig von englischen Gutsherren, erfahren aber von diesen keinerlei Unterstützung. Etliche Menschen verhungern, einige wollen auswandern, überleben jedoch die Schiffspassage nach Amerika nicht, wenige bauen sich im fremden Land ein neues Leben auf. Stellvertretend für sie steht die junge Honora, die ganz allein und völlig auf sich gestellt die Reise in die Ferne antritt, aber auch dort die erhoffte Freiheit nicht so schnell findet. „Lass uns gehen“, wird zu ihrem Leitspruch.

In Amerika beginnt diese sehr berührende Geschichte über eine starke Frau, deren Mut und Ausdauer überaus bewundernswert ist. Anschließend an diesen kurzen Einstieg mittendrinnen kehren wir zu den Anfängen in Irland zurück. Nach dem frühen Tod ihrer Mutter und dem Aufwachsen bei einem gestrengen Vater ist Honora alsbald von ihrem Ehemann abhängig und steht nach der Hungerkatastrophe von Doolough mittellos da. Auf diesen sehr spannenden, aber auch bedrückenden Teil in Irland folgt ein zweiter Teil über Honoras Zeit in Amerika. Mittels elegantem Sprachstil und detaillierten historischen Fakten (siehe Nachbemerkungen und Interview mit Jacqueline O’Mahony) entführt uns die Autorin in eine düstere Zeit, wo man schon einen enormen Überlebenswillen gebraucht hat, um in einer Situation wie der Honoras noch Hoffnung und Zuversicht zu verspüren, zu grausam spielt ihr das Schicksal mit.

Auch wenn Honora eine fiktive Figur ist, verspürt der Leser sofort eine gewisse Nähe zu ihr, die Authentizität, mit welcher sie stets beschrieben wird, ist großartig, ihr Lebenskampf einzigartig. Die Autorin schafft an allen Orten eine sehr gut vorstellbare und realistische Atmosphäre, man kann nicht anders, als mit der jungen Frau mitzufühlen und Seite für Seite gespannt ihrem Weg zu folgen. Sie will frei sein, scheint aber stets vom bösen Omen des piseog (Rotkehlchen), das in der Nacht ihrer Geburt ins Haus geflogen ist, verfolgt zu werden. Lass uns gehen, überlegt sie immer wieder und wandert von einem Ort zum nächsten. Kann sie irgendwo ihr Glück finden?

Ein großartiger Roman über die schreckliche Hungersnot in Irland, verknüpft mit den Parallelen zu den indigenen Amerikanern. Honoras Reise nach Amerika und weiter bis in den Wilden Westen ist bewegend, berührend, zuweilen erschütternd. Wer an historisch belegten Fakten interessiert ist und eine willensstarke, zupackende Frau kennenlernen möchte, der liegt hier auf jeden Fall richtig. Ich empfehle „Sing, wilder Vogel, sing“ sehr gerne weiter!

Veröffentlicht am 24.09.2024

Brennpunkt

Tode, die wir sterben
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Im Brennpunktviertel Hermodsdal in Malmö wird ein 13jähriger erschossen. War Rashid tatsächlich das ausgewählte Ziel oder doch eher jemand in der Pizzeria, vor dessen Auslage der Bursche gerade gewesen ...

Im Brennpunktviertel Hermodsdal in Malmö wird ein 13jähriger erschossen. War Rashid tatsächlich das ausgewählte Ziel oder doch eher jemand in der Pizzeria, vor dessen Auslage der Bursche gerade gewesen ist? Ein neu zusammengewürfeltes Team, zwei selbst vom Leben gebeutelte Kriminalisten, Jon Nordh und Svea Karhuu, werden mit der Lösung des Falls betraut.

Aus unterschiedlichen Blickwinkeln wird das Geschehen beleuchtet, sodass der Leser stets einen guten Überblick erhält. Der flotte Schreibstil des Autorenduos lässt die Handlung authentisch und spannend werden. Jon und Svea müssen einander erst kennen und vertrauen lernen, das ist beim privaten und beruflichen Hintergrund der beiden Ermittler allerdings nicht ganz so einfach. Die Themen Brennpunktstadtteil, Bandenkriminalität und Drogen sind sehr gut dargestellt, die Atmosphäre mit dem Gestank von Abgasen, Möwen in der Luft und einem Himmel mit der Farbe von Klärschlamm (siehe kindle, Pos. 2759) bildhaft eingefangen. Während mir die persönlichen Details zu Svea und Jon sehr gut gefallen – auch wenn die zwei manchmal vielleicht schon zu bizarr daherkommen -, so wird es irgendwann etwas zu politisch und unübersichtlich mit den zahlreichen osteuropäischen Namen. Aber auch wenn die Richtung, welche der Krimi einschlägt, nicht zu hundert Prozent meinen Interessen entspricht, so hat mich dieser Krimi aus Malmö sehr gut unterhalten.

Zwei ganz spezielle, auf ihre Weise kaputte Ermittler, eine interessante Handlung in einem Viertel mit hoher Kriminalitätsrate und Verknüpfungen in den Osten – ich möchte Svea und Jon gerne ein weiteres Mal begleiten.

Veröffentlicht am 20.09.2024

Inspirationen

Soul Talk
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„Die Kunst des klugen Fragens“ ist der Untertitel zu Lilia Vogelsangs überaus hübsch gestaltetem Ratgeber zum Thema Fragen stellen, Menschen (näher) kennenlernen. Der Klappentext hat meine Neugierde geweckt, ...

„Die Kunst des klugen Fragens“ ist der Untertitel zu Lilia Vogelsangs überaus hübsch gestaltetem Ratgeber zum Thema Fragen stellen, Menschen (näher) kennenlernen. Der Klappentext hat meine Neugierde geweckt, werde ich nach der Lektüre sympathischer und lockerer kommunizieren können?

Abgesehen von den wirren Kreisen im Inhaltsverzeichnis und rund um die Kapitelüberschriften ist das Buch sehr übersichtlich gestaltet und angenehm strukturiert. Der Schreibstil Lilia Vogelsangs ist angenehm, der Text verständlich und weder oberlehrerhaft noch besserwisserisch, lediglich manche Genderstruktur (Mediatorinnen, wo wohl beide Geschlechter gemeint sind) oder Mitarbeitende anstelle von Mitarbeitern hätte ich persönlich nicht gebraucht. Während mir die umformulierten Fragen für „Wie geht’s dir?“ und andere typische Plaudereien zu Beginn eher gekünstelt erscheinen, ergeben sich in späteren Kapiteln durchaus interessante und probierenswerte Vorschläge, welche ich im Hinterkopf behalten möchte. Insbesondere die Themen und Ideen zu Eltern, Geschwistern, Autofahren und Partnerschaft finde ich spannend und lebensnah. Die Anregungen können hier jedenfalls dazu beitragen, die betreffenden Personen noch besser und intensiver kennenzulernen.

Besonders gut gefällt mir die Fragensammlung am Ende, welche nach der kurzweilig aufbereiteten Lektüre nochmals alles schön zusammenfasst und sich insbesondere für schnelles Nachschlagen gut eignet.

Alles in allem ein informatives und sinnvolles Buch, das Aspekte anführt, welche man in Gesprächen womöglich bisher noch nicht berücksichtigt hat. Ich denke, es enthält für jeden neue Impulse und Inspirationen, die man gut im Alltag umsetzen kann und vergebe somit gerne vier Sterne.

Veröffentlicht am 19.09.2024

Babyleiche

Die perfekte Mutter
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Molly Sanderson braucht nach einer Totgeburt Abstand und einen Neubeginn. Da ihr Ehemann Justin eine Professorenstelle an der Universität in Ridgedale erhält, übersiedelt das Paar mit Töchterchen Ella ...

Molly Sanderson braucht nach einer Totgeburt Abstand und einen Neubeginn. Da ihr Ehemann Justin eine Professorenstelle an der Universität in Ridgedale erhält, übersiedelt das Paar mit Töchterchen Ella kurzerhand dorthin und Molly arbeitet als freie Journalistin für die lokale Zeitung. Als sie überraschend im Fall einer Babyleiche am Fluss recherchieren soll, befürchtet Justin, dass alte Wunden wieder aufreißen, aber Molly nimmt die Herausforderung entschlossen an.

Mollys Blickwinkel in der Ich-Form und weitere Sichtweisen der wesentlichen Protagonisten werden klug ergänzt durch Zeitungsartikel und Kommentare im Internet. Das Auftauchen des toten Neugeborenen löst Aufregung aus im kleinen Städtchen, die Polizeiarbeit geht nur stockend voran. Nicht nur Journalistin Molly tappt im Dunklen, auch der Leser hat wenige Anhaltspunkte, wie die einzelnen Handlungsstränge zusammenhängen und was es mit den Informationen aus dem Jahre 1994 auf sich hat. Ein recht sachlicher Schreibstil führt durch die Handlung, die für einen Thriller allerdings mehr Spannung vertragen hätte. Die Figuren sind gut vorstellbar ausgearbeitet und dennoch liegt ein Nebelschleier über allem, der sich erst spät lichtet, aber dann sogar noch im Epilog für Überraschungen sorgt.

Ein Buch mit ungeahnten Verstrickungen und Zusammenhängen, welche sehr lange im Verborgenen bleiben und gleichzeitig den Leser mit den unterschiedlichsten Facetten des Mutterseins konfrontiert. Vier Sterne!

Veröffentlicht am 18.09.2024

Aus den Dolomiten

Bella Famiglia
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Aus Val di Zoldo, mitten in den Dolomiten, stammt der Eissalonbesitzer Lorenzo, der hier in München für jeweils sechs Monate köstliche Kreationen von Gefrorenem serviert, bevor er über den Winter wieder ...

Aus Val di Zoldo, mitten in den Dolomiten, stammt der Eissalonbesitzer Lorenzo, der hier in München für jeweils sechs Monate köstliche Kreationen von Gefrorenem serviert, bevor er über den Winter wieder zurückkehrt in die Heimat seiner Eltern und Großeltern. Sofia, eine junge Kindergärtnerin, sitzt jeden Freitag unter der knorrigen Kastanie und bestellt Erdbeereis. Beide sind sehr ruhig und zurückhaltend, dennoch spüren sie eine ganz besondere Verbindung zueinander. Da Sofia einmal Venedig sehen möchte und das Meer, nimmt Lorenzo sie im Herbst mit nach Italien und erzählt ihr die Geschichte seiner Familie.

Die Rahmenhandlung im Jahre 1966 umfängt frühere Geschehnisse von 1900 weg über zwei Weltkriege bis 1963. Abwechslungsreich schildert Nico Mahler die Ereignisse in unterschiedlichen Zeitebenen und zeigt, wie malerisch es in den Dolomiten aussieht, aber auch, wie karg und hart das Leben dort früher war. Durch moderne Maschinen und stete neue Erfindungen besteht immer weniger Nachfrage nach Holzkohle oder handgeschmiedeten Erzeugnissen, das (Über)Leben wird immer schwieriger. So kommt es, dass Speiseeis die Welt erobert und seinen Weg nach Österreich, Deutschland, Frankreich, ja bis in die Niederlande oder nach England findet. Herausfordernde Schicksalsschläge bestimmen das Leben der Familie Battaglia, dennoch lassen sie sich, Stehaufmännchen gleich, nicht unterkriegen. Überaus lebendige und sehr gut vorstellbare Schauplätze vom Zoldotal über Transsilvanien (Rumänien) und Wien bis nach München beherrschen die Handlung, die Figuren sind realistisch und glaubwürdig angelegt. Viel Historisches fließt wie nebenbei mit ein in die Geschichte, sodass man etliche interessante Dinge liest, ohne das Gefühl zu haben, belehrt zu werden. Der Spagat zwischen wissenswerten Tatsachen und fiktiver Handlung ist jedenfalls sehr gut gelungen. Dass am Ende der Zufall vielleicht ein bisschen zu präsent ist, tut dem Ganzen keinen Abbruch.

Unterhaltsame Stunden, Spannendes über das Zoldotal und die Eisherstellung, dazu noch sehr persönliche Schicksale, die einem beim Lesen nahegehen – so verdient ein Roman seine fünf Sterne!