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Veröffentlicht am 13.07.2024

Nur Dienstboten

Im Herzen des Sahel
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Die fünfzehnjährige Faidé verlässt ihr ärmliches Dorf in Nordkamerun, um in der Stadt Geld zu verdienen, damit sie ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister unterstützen kann. Schon bald merkt das junge ...

Die fünfzehnjährige Faidé verlässt ihr ärmliches Dorf in Nordkamerun, um in der Stadt Geld zu verdienen, damit sie ihre Mutter und ihre jüngeren Geschwister unterstützen kann. Schon bald merkt das junge Mädchen, dass man auf Menschen wie sie herabsieht, Dienstboten wie Menschen zweiter Klasse behandelt, junge Hausmädchen oft Freiwild für die Männer im Haus sind. Eine schwierige Phase in Faidés Leben beginnt, zumal sie sich noch in den falschen Mann verliebt.

Klimakrise, Boko Haram und eklatante Standesunterschiede baut Djaïli Amadou Amal in diesen sehr persönlichen Roman ein. Hauptsächlich geht es aber darum, wie ein junges Mädchen für sein Leben und Überleben sorgt und trotzdem immer wieder Prügel vor die Füße bekommt, weil in der Sahelzone andere Gesetzte gelten, keine Gleichberechtigung herrscht zwischen Arm und Reich, Christ und Muslim, Mann und Frau. Treffend beschreibt die Autorin Faidés Situation und führt dem Leser eine fremde Welt vor Augen. Trotz der sehr realistischen Szenen und der Tatsache, dass wahre Vorkommnisse Pate stehen für diese Geschichte, bleibt sie mir doch über weite Strecken fremd, kann mich das Schicksal der gut charakterisierten Figuren nicht wirklich berühren. Interessant und aufschlussreich ist sie aber allemal.

Ein ungewöhnlicher Roman über den Überlebenskampf in Kamerun, wenn man zu den Ärmsten der Armen gehört, eindrücklich und informativ erzählt.

Veröffentlicht am 11.07.2024

Kinderzeichnungen

Schlafenszeit – Albträume erwachen, wenn diese Tür sich schließt
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Mallory, eine ehemalige Drogensüchtige, wird für einen Sommer lang das Kindermädchen des fünfjährigen Teddy. Er malt gerne, aber immer öfter verstörende Bilder mit Mordszenen. Während Mallory alarmiert ...

Mallory, eine ehemalige Drogensüchtige, wird für einen Sommer lang das Kindermädchen des fünfjährigen Teddy. Er malt gerne, aber immer öfter verstörende Bilder mit Mordszenen. Während Mallory alarmiert ist, tun seine Eltern das als „Phase“ ab.

Eher ruhig beginnt dieser Thriller, im Laufe der Handlung kommt zwar Spannung auf, wirklich gruselige oder gar nervenzerreißende Szenen gibt es aber nicht. Trotzdem ist die verrückte Geschichte kurzweilig und unterhaltsam, gut in den Text eingeflochten sind die Kinderzeichnungen. Im gesamten Verlauf gibt es nur wenige Figuren, diese sind gut vorstellbar charakterisiert und geben zum Teil mit ihrem Verhalten bis zum Schluss Rätsel auf. Immer wieder gibt es Wendungen, mit denen man so nicht gerechnet hat. Legenden über Tote und übernatürliche Sequenzen passen gut in die mystisch angehauchte Grundidee, das Ende des Ganzen ist jedoch weniger glaubwürdig und ernüchternd. Der endgültige Abschluss in einer Art Briefform hingegen gefällt mir wiederum sehr gut.

Mit gemischten Gedanken blicke ich auf „Schlafenszeit“ zurück, der überwiegende Teil hat mich aber gut unterhalten. Nicht ganz so unheimlich, wie erwartet, durch die Figurenwahl aber durchwegs interessant, kann ich „Schlafenszeit“ auf jeden Fall empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 08.07.2024

Unterwegs

Reise nach Italien
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Von München bricht Heinrich Heine im Jahre 1828 nach Italien auf, um der – wie er es beschreibt – einengenden Tätigkeit im Cotta-Verlag zu entkommen. Mit den Augen des Signor Enrico (italienisch Herr Heinrich) ...

Von München bricht Heinrich Heine im Jahre 1828 nach Italien auf, um der – wie er es beschreibt – einengenden Tätigkeit im Cotta-Verlag zu entkommen. Mit den Augen des Signor Enrico (italienisch Herr Heinrich) beschreibt er seine Eindrücke für die Daheimgebliebenen.

Erst ein wenig gewöhnungsbedürftig, bald aber durch ihre Poesie und Punktgenauigkeit beeindruckend, zieht Heines Sprachgewandtheit den Leser in den Bann. Über Trient geht es nach Verona und Mailand, Brescia, Genua und Lucca. Aus familiären Gründen muss er Rom, den gedachten Höhepunkt seiner Reise, auslassen und in seine Heimat zurückkehren. Mit einem Blick auf das reale Leben im schönen Italien, im Land der Sehnsucht der Deutschen, schildert Heinrich Heine die Obstfrau mit ihren saftigen, glänzenden Früchten, erzählt von Statuen, welche Abbild sinnlicher Damen sind und von der Liebe unter dem südlichen Sternenhimmel. In jeder Zeile spürt man, wie Heine seine Tage des Vergnügens genießt, die Vorzüge des fremden Landes zu nützen weiß. Aber auch Kritik lässt er nicht missen, so zum Beispiel an der Kirche oder an heuchlerischer Kunst. So wird aus diesen Reisememoiren ein ganz persönliches Werk, das auch heute, knapp zwei Jahrhunderte später, noch spannend zu lesen ist.

Bei diesem Büchlein handelt es sich um eine Zusammenstellung des Verlags aus Heines Buchreihe „Reisebilder“. Fast könnte man meinen, es sei ein Aperitif auf weitere Eindrücke von Heines Auslandsaufenthalten, welche man nun gerne noch weiter vertiefen möchte. Heines Detailgenauigkeit und Scharfsinnigkeit begeistert mich auch diesmal wieder, ebenso wie früher schon mit „Ich rede von der Cholera“.

Veröffentlicht am 06.07.2024

Lesen - Schreiben

Kafkas Werkstatt
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Wie entsteht Weltliteratur wie zum Beispiel das Werk von Franz Kafka? Mit den Hintergründen von Erzählungen und Romanen beschäftigt sich Andreas Kilcher in zwanzig Jahren akribischer Arbeit und legt die ...

Wie entsteht Weltliteratur wie zum Beispiel das Werk von Franz Kafka? Mit den Hintergründen von Erzählungen und Romanen beschäftigt sich Andreas Kilcher in zwanzig Jahren akribischer Arbeit und legt die Quintessenz in „Kafkas Werkstatt“ vor.

Übersichtlich gegliedert und in logische Kapitel eingeteilt geht Andreas Kilcher verschiedensten Fragen nach und beschreibt anschaulich, wie Franz Kafka sich durch Lesen von Büchern, Zeitschriften, Katalogen inspirieren lässt. Des Weiteren sind es Heimkehrer aus dem Ersten Weltkrieg, welche Ideen anstoßen und verschiedenste gesellschaftspolitische Themen, mit welchen sich der Schriftsteller befasst. Anhand der sonderbaren Figur Odradek aus der sehr kurzen Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ erklärt Andreas Kilcher eindrücklich, wie auch Sozialismus und Marxismus, Zionismus, die Psychoanalyse von Freud oder okkulte Gespenstergedanken in der Geschichte zu finden sind und auch in Kafkas anderen Texten aufscheinen. Interessant sind besonders die kurzen Tagebucheinträge Franz Kafkas und Begegnungen mit zeitgenössischen Persönlichkeiten.

Zuweilen ist Andreas Kilchers Blick auf Kafkas Werk mit zu vielen Fachbegriffen aus der Literaturwissenschaft gespickt, sodass der Laie sich mitunter schwer tut, den komplizierten Gedankengengen zu folgen. Dann wieder wird die Betrachtung zugänglicher, wenn Vergleiche gebracht werden, zum Beispiel, wie Odradek mit Gespenstern und Dachböden von Synagogen in Zusammenhang gebracht werden kann. Die zahlreichen Illustrationen und Abbildungen runden den Text entsprechend ab, vieles wird noch besser vorstellbar.

Vom Lesen zum Schreiben, vom Ereignis zum Text, mit Leib und Seele ein Literat, ohne Literatur kann er nicht sein – Andreas Kilcher hat eine hochwertige und interessante Dokumentation verfasst über die unterschiedlichsten Einflüsse auf Franz Kafka und sein Werk. Wenngleich die Lektüre mitunter herausfordernd und anstrengend ist, so ist sie doch empfehlenswert, wenn man sich für Literaturgeschichte interessiert. Möglicherweise geben sich Schriftsteller aber gar nicht so vielen Gedankengängen hin während sie schreiben, wie Jahre und Jahrzehnte später von Wissenschaftlern unterstellt wird? Egal, ich werde schon bald wieder eine Erzählung Kafkas aus dem Regal nehmen und mich einfach am Text erfreuen.

Veröffentlicht am 02.07.2024

Mit den Augen eines Kindes

Radio Sarajevo
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Mit den Augen eines Kindes erzählt Tijan Sila vom Krieg, mit seinen Augen, die im zarten Alter von nur zehn Jahren das Verbrechen gesehen haben. Plötzlich herrscht in Bosnien Krieg, Sarajevo wird bombardiert, ...

Mit den Augen eines Kindes erzählt Tijan Sila vom Krieg, mit seinen Augen, die im zarten Alter von nur zehn Jahren das Verbrechen gesehen haben. Plötzlich herrscht in Bosnien Krieg, Sarajevo wird bombardiert, während man gerade noch genüsslich sein Ohr am Radio hatte und Bon Jovi lauschte. Eindringlich beschreibt der Autor, wie es ihm damals ergangen ist und wie man sich automatisch angepasst hat an die schreckliche Situation.

Dieses Buch spiegelt keine Szenen am Schlachtfeld wider, zeigt keine typischen Kampfhandlungen, nein, dieses Buch erzählt von einem Zehnjährigen, den der Geruch von Sprengstoff ebenso überrascht wie seine Eltern und Nachbarn, den der ohrenbetäubende Lärm ebenso in Aufruhr versetzt wie seine Freunde. Aber – er lernt damit zu leben, lernt, durch Tauschhandel an Essen zu gelangen, lernt, seine Tränen zurückzuhalten, fast fünfundzwanzig Jahre lang, denn der Krieg in einem drinnen, der hört nicht einfach auf, nur weil man nach Deutschland flieht. Sehr authentisch, wenn auch immer wieder eher sachlich und distanziert, lässt uns Tijan Sila teilhaben an seiner Freundschaft mit Sead und Rafik, Burschen, die im selben Grätzel wohnen und daher wie selbstverständlich einer gemeinsamen Bande angehören. Aber der Leser trifft auch auf väterliche Gewalt und schnelles Erwachsenwerden mit der Bürde, den kleinen Bruder zu hüten und sich in Krisenzeiten seinen Platz zu sichern. Traurig und bewundernswert zugleich, welche Strategien zum Zug kommen, wie man das Unvermeidliche zu akzeptieren sucht und zwischendrin noch Platz hat für Humor.

Ein Roman des Verarbeitens, ein Roman zum Erinnern, ein Roman zum Aufrütteln. Kindliche Naivität trifft hier auf ganz plötzlich veränderte Anforderungen, denen man sich stellen muss. Ein erschütterndes Bild aus der Sicht eines Kindes, das viel zu schnell erwachsen wird – lesenswert.