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Veröffentlicht am 23.08.2020

Ein Preuße in München

Der falsche Preuße
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Hauptmann und Reserveoffizier der preußischen Armee, Wilhelm Freiherr von Gryszinski übersiedelt von Berlin ins urige München, um als Sonderermittler und Brigadekommandant des Königlich Bayerischen Gendarmeriekorps ...

Hauptmann und Reserveoffizier der preußischen Armee, Wilhelm Freiherr von Gryszinski übersiedelt von Berlin ins urige München, um als Sonderermittler und Brigadekommandant des Königlich Bayerischen Gendarmeriekorps neue Methoden einzuführen, die er bei Hans Groß in Graz erlernt hat. Endlich bahnt sich ein Ermittlungsfall an, bei dem Gryszinski sein Wissen unter Beweis stellen kann, Fingerspuren sichern, Abdrücke am Tatort untersuchen, Indizien zusammentragen, um schlussendlich nichts als die reine Wahrheit herauszufinden. In den Maximiliansanlagen wurde eine übel zugerichtete Leiche gefunden und eine damit verbundene Verschwörung nationalen Ausmaßes bringt Gryszinski schnell in ein Dilemma: was wiegt mehr: seine preußische Herkunft oder seine aktuelle bayerische Gendarmeriezugehörigkeit?

Einen ausgesprochen ansprechenden Schreibstil mit ordentlichen Haupt- und Nebensätzen und korrekter Grammatik verwendet Autorin Uta Seeburg, womit sie das Geschehen rund um Gryszinskis Ermittlungen zu einem wahren Lesevergnügen werden lässt. Beinahe in Vergessenheit geratene Wörter lassen ein München im ausklingenden 19. Jahrhundert wieder auferstehen, fügen detailreiche Bilder und Szenen von Pferdetrambahnen und ersten Automobilen, riesigen Bierpalästen und Markthallen mit allerlei Federvieh und köstlich zubereiteten Innereien an duftenden Verkaufsständen aneinander. Augenblicklich fühlt sich der geneigte Leser um mehr als hundert Jahre zurückversetzt und taucht ein in eine längst vergangene Zeit.

Jede einzelne Figur ist so lebendig wie nur möglich entworfen, viele Feinheiten charakterisieren Ermittler und mögliche Täter. Ein wenig Privates von Gryszinski fließt in die Handlung mit ein und rundet diese hervorragend ab. Mit viel Gespür, einem Interesse für Psychologie und natürlich den neuen kriminalistischen Methoden geht der Preuße systematisch ans Werk. Beobachten Kollegen seinen Koffer erst skeptisch, so stellt sich schnell heraus, dass sich darin wertvolle Dinge verbergen, die die Untersuchungen und Zeugenbefragungen erleichtern. Interessante Überlegungen und genaue Beobachtungen alltäglicher Abläufe führen schließlich zu einer unerwarteten Fährte, die der Berliner in München gerne weiterverfolgt. Wem wohl seine Loyalität am Ende gilt?

Wunderbar wird dieser in bizarre Kreise führende Mordfall in Szene gesetzt, die Verknüpfung der Tatortanalysen, der Nachforschungen zu verdächtigen Personen und des malerischen Münchens in einer Phase voller spannender Innovationen ist überaus stimmig, der Auftakt zu einer neuen Serie mehr als gelungen. Man darf sich freuen auf mehr von Uta Seeburg!

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Veröffentlicht am 21.08.2020

Freude nur am Rande

Wilde Freude
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Nach der Brustkrebsdiagnose für die Pariser Buchhändlerin Jeanne ist nichts mehr, wie es vorher war. Ihr Mann kann ihr Leid nicht ertragen, kann ihr keine Stütze sein und trennt sich von ihr – zumindest ...

Nach der Brustkrebsdiagnose für die Pariser Buchhändlerin Jeanne ist nichts mehr, wie es vorher war. Ihr Mann kann ihr Leid nicht ertragen, kann ihr keine Stütze sein und trennt sich von ihr – zumindest vorerst. Mit allen Sorgen und Fragen allein gelassen, vertraut Jeanne schließlich auf die Unterstützung dreier anderer vom Schicksal getroffener Frauen und lässt sich schlussendlich sogar von dem wilden Trio überzeugen, bei einem Überfall auf den größten Juwelier von Paris mit dabei zu sein.

Der Einstieg passt perfekt zum Klappentext, doch schnell ändert sich der Schauplatz. Über viele Seiten muss sich der Leser mit Jeannes Krankheit auseinandersetzen. In quälenden Details schildert der Autor die schrecklichen Stunden, Tage und Wochen von der Untersuchung über die Diagnose bis hin zur zermürbenden Behandlung. Dem nicht genug, rücken nach etlichen Kapiteln die anderen Frauen eine nach der anderen in den Vordergrund, wobei auch hier schreckliche Dramen aufgezeigt werden, denen Brigitte, Assia und Melody ausgesetzt waren, sodass sich eine recht deprimierende Stimmung über das Geschehen legt. Erst als man kaum noch rechnet damit, rückt der Tag für das wahnwitzige Vorhaben der vier Frauen näher und bringt ein wenig Witz und Esprit in all die vorangegangene Tristesse.

Der Schreibstil von Sorj Chalandon ist angenehm und flüssig zu lesen, viele Einzelheiten werden genau beleuchtet, wodurch Jeannes Gefühle und auch die der anderen mehr als deutlich zu spüren sind. Das Hadern mit der Diagnose steht im Kontrast zu Zuversicht und Hoffnung, Höhen und Tiefen wechseln wie auf einer Hochschaubahn.

Leider überschatten zu viele schwermütige und deprimierende Passagen jenen Abschnitt, den man vom Klappentext erwartet. Die Vorgeschichten aller vier Frauen sind natürlich nicht unwesentlich, nehmen aber für meinen Geschmack zu viel Raum ein und drängen Ausgelassenheit und Freude eher an den Rand.

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Veröffentlicht am 15.08.2020

Ein Dorf schweigt

Kalte Nacht
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Tine ist in einem stinkenden Erdloch gefangen, verzweifelt wartet sie auf Hilfe. Am Ende des kleinen Dorfes Hultsjö ereignet sich ein Verkehrsunfall, die Insassen sind Deutsche, die erst kürzlich ein Häuschen ...

Tine ist in einem stinkenden Erdloch gefangen, verzweifelt wartet sie auf Hilfe. Am Ende des kleinen Dorfes Hultsjö ereignet sich ein Verkehrsunfall, die Insassen sind Deutsche, die erst kürzlich ein Häuschen in idyllischer Ruhe erworben haben, um sich den lang gehegten Wunsch vor allem von Vater Jochen Nowak endlich zu erfüllen.

»›Hilfe! Hilfe, hört mich denn keiner? Bitte, ich will hier raus!‹ Keuchend lässt Tina den Kopf auf den Boden sinken. Der Geruch nach Erde ist überwältigend. Eine erste Erinnerung streift sie. Doch sie will die Bilder nicht sehen. Nicht jetzt, nicht morgen, niemals. Sie wartet auf die Erlösung - des Schlafes, der Ohnmacht, des Todes. Egal, was. Es ist zu furchtbar. Sie wendet sich hin und her, will mit Gewalt verhindern, dass alles zu ihr zurückkommt. All ihre Fehler. Ihr Versagen.
Ein leises Knacken lässt sie aufschrecken. Mit aufgerissenen Augen lauscht sie in die Dunkelheit.
›Ist da jemand?‹«
Wenn sich der langgehegte Traum vom Ferienhaus in Schweden als Albtraum entpuppt …
Ein neuer Fall für Tom Skagen von der Sondereinheit Skanpol - zuständig für grenzüberschreitende Verbrechensbekämpfung zwischen Skandinavien und Deutschland. (Text vom Einband)

Die Kurzbeschreibung weckt Interesse, gibt aber nichts vom Inhalt preis und greift der Handlung nicht vor – diesen Umstand schätze ich sehr!

Da Tom Skagen von Skanpol nicht nur Deutsch und Schwedisch spricht, sondern auch Kommissarin Maja Lövgren aus Schultagen kennt, fühlt er sich der Aufklärung des mysteriösen Verkehrsunfalls verpflichtet und reist kurzerhand an den Unfallort. Schneller als geplant steckt er auch schon mitten im Geschehen.

Nach dem ersten Band rund um Tom Skagen habe ich mich gewöhnt ans Präsens als durchgängige Erzählzeit, obwohl ich es als Stilmittel kurzer, besonders spannender Passagen inmitten eines Thrillers im Präteritum immer noch bevorzuge.

Diesmal spielt die Handlung in Skagens Heimat Schweden. Die Atmosphäre im kleinen Dorf Hultsjö ist gekonnt eingefangen. Dunkler Wald, einsame versteckte Seen, absolute Ruhe und sogar eine Schar von Trollen beherrschen die Schwedenwelt, die keine idyllische ist. Denn während Familie Nowak erholsame Wochen im neu gekauften Haus sucht, entpuppen sich die meisten der Dorfbewohner als zugeknöpft und wollen nichts von Ausländern, Touristen und Fortschritt wissen.

Einwohner und Ermittler charakterisiert Anna Nordby sehr lebendig, von den Nowaks erfährt man viele Details in Rückblenden, die Stück für Stück deren Leben und Tagesablauf beleuchten. Somit bleibt dem Leser kaum eine Figur fremd, alle haben ihre Eigenheiten, Stärken und Schwächen und erfüllen dadurch die Handlung mit Lebendigkeit und der einen oder anderen Überraschung. Auch wenn nicht alles ganz glaubwürdig erscheint, so gibt es doch viele spannende Szenen. In Summe ist das Buch gut gelungen und sorgt für einige Stunden guter Unterhaltung.

Aufgrund der Atmosphäre, der verarbeiteten Themen und der sehr abwechslungsreichen Ermittlergruppe vergebe ich gerne eine Leseempfehlung und warte neugierig auf einen weiteren Fall für Tom Skagen.

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Veröffentlicht am 10.08.2020

Zwei Mal 72 Stunden

Geburtstagskind (Ewert Grens ermittelt 1)
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„Hochsollsieleben, hochsollsieleben“, in Dauerschleife, ebenso das Kinderprogramm im Fernsehen – erbost ruft ein Nachbar die Polizei. Aber was Ewert Grens erwartet, raubt dem erfahrenen Kriminalkommissar ...

„Hochsollsieleben, hochsollsieleben“, in Dauerschleife, ebenso das Kinderprogramm im Fernsehen – erbost ruft ein Nachbar die Polizei. Aber was Ewert Grens erwartet, raubt dem erfahrenen Kriminalkommissar fast den Atem. Fünf Jahre und ein paar Tage ist Zana nun alt, ein paar Tage Verwesung überdecken den Duft von fünf Kerzen und Geburtstagskuchen.

17 Jahre später wird in dieselbe Wohnung eingebrochen und Grens weiß, jetzt wird es mehr als gefährlich. Der Fall von damals ist noch nicht zu Ende.

Mit einem Prolog, der dem Leser beinahe das Herz zum Stolpern bringt, eröffnet Anders Roslund diesen fulminanten Kriminalroman. Die kleine Zana steht im Mittelpunkt des Geschehens, das Grens und Hoffmann noch Jahre später lebensgefährlich werden wird.

Fesselnd und mitreißend im Stil, spannend durch wechselnde Schauplätze und Sichtweisen wird die Geschichte aufgerollt – größtenteils aus der Perspektive des neutralen Erzählers, vereinzelt aber auch in Ich-Form erzeugt der Autor einen Sog, dem man sich nicht mehr entziehen kann.

Von Anfang an werden alle wichtigen Figuren sehr treffend charakterisiert, so stellt sich zum Beispiel Grens als sehr erfahrener Kommissar dar, der kurz vor seiner Pensionierung gar nicht weiß, was er denn sonst noch alles treibt, außer Verbrecher zu jagen oder Straftaten von vornherein zu verhindern. Unterstützt wird er von seiner geradlinigen und äußerst hartnäckigen Kollegin Mariana Hermansson, die ihn an eine nie geborene Tochter erinnert. Aber nicht nur die Personen, nein, auch die Stimmung ist hervorragend ausgearbeitet, liebevolle Menschen wie knisternde Spannung, aufkeimendes Misstrauen und hinterhältiger Verrat inmitten des Polizeigebäudes füllen Seite um Seite und lassen ein Kapitel nach dem anderen dahinfliegen. Immer weitere Kreise ziehen mafiöse Machenschaften, immer knapper wird das Zeitfenster, das den Ermittlern zur Verfügung steht. Bis zuletzt ist unklar, wer und was sich hinter allem verbirgt, selbst Grens durchschaut das miese Spiel erst (zu?) spät.

Dieser Krimi beeindruckt einfach auf ganzer Linie – Schreibstil, Spannung, Stoff der Handlung – alles passt perfekt zusammen, alles fügt sich zu einem logischen Ende und lässt den Leser schließlich berührt und aufgewühlt zurück. Großartig!

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Veröffentlicht am 08.08.2020

Absolutes Gehör und eine große Portion Ehrgeiz

Die Dirigentin
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Willy lebt mit ihren Eltern in New York. Die 23jährige Holländerin steht kurz vor der Einbürgerung und bestreitet zwei Jobs: tagsüber als Sekretärin, abends als Platzanweiserin. Fast das gesamte Geld übergibt ...

Willy lebt mit ihren Eltern in New York. Die 23jährige Holländerin steht kurz vor der Einbürgerung und bestreitet zwei Jobs: tagsüber als Sekretärin, abends als Platzanweiserin. Fast das gesamte Geld übergibt sie brav an ihre strenge Mutter, nur einen geringen Betrag spart sie heimlich. Mit vielen kleinen Diensten im Haushalt und artigem Benehmen darf sie sich ihre heißgeliebten Stunden am Klavier „erkaufen“, das ihr Vater als Müllmann auf der Straße gefunden hat. Allerdings stellt sie sich ihr Leben ganz anders vor: sie möchte Dirigentin werden, hört sich Konzerte von draußen an - im Saal sind Bedienstete nicht erlaubt – und liest so viel wie möglich über berühmte Komponisten, Dirigenten, Musiker im Allgemeinen – und immer sind es Männer, die im Rampenlicht stehen. Als Frau wird sie im Jahre 1926 einfach nicht ernst genommen.


Maria Peters schildert diese bewegende Romanbiografie im Präsens. Viele Kapitel erzählen Willys Geschichte, die eigentlich Antonia Brico heißt, aus der Sicht der ehrgeizigen jungen Dame in der Ich-Form. Dazwischen kommen andere wichtige Personen zu Wort - auch hier wählt die Autorin interessanterweise die Ich-Perspektive. Dadurch entsteht eine ganz besondere Lebendigkeit, eine unmittelbare Begegnung zwischen den einzelnen Figuren untereinander, aber auch eine große Nähe zum Leser, der sich so ganz in Antonias Leben hineinversetzen kann, hautnah ihre Gefühle nachempfinden kann und spürt, wie viel Kraft, wie viel Anstrengung sie unternimmt, um ihren Traum wahr werden zu lassen. Etliche Prügel werden dieser konsequent und hart arbeitenden Musikerin vor die Füße geworfen, eine Frau solle besser Kinder bekommen als die Hochschule anzustreben und Männer im Orchester würden sich bestimmt niemals von einer Frau etwas vorschreiben lassen.


So zeichnet Peters den steinigen Weg von Antonia Brico nach, begleitet sie auf beschwerlichen und entbehrungsreichen Wegen von Amerika zu ihren europäischen Wurzeln und wieder zurück, beschreibt in einer angenehm melodischen Sprache, wie Musik verzaubern kann, welche Kraft die junge Künstlerin aus den Stücken von Beethoven, Liszt und vielen anderen Komponisten schöpft, wie sie aufblüht beim Erklingen der ersten Orchestertöne, sie jedes einzelne Instrument heraushört und mitfiebert, wenn die Klänge die Konzerthalle durchfluten.


Mit diesem Buch wird eine große Künstlerin gewürdigt, wobei auch im Nachwort noch interessante Details erläutert werden (zum Beispiel die spätere enge Freundschaft zu Albert Schweitzer) und ein ausführliches Quellenverzeichnis die Romanbiografie ergänzt.


Fazit: Die Dirigentin ist ein spannendes und zugleich unterhaltsames Buch über die ehrgeizige Antonia Brico, die sich ihren Platz in einer strikt verteidigten Männerdomäne sucht. Der Kinostart für die Buchverfilmung ist für September 2020 angekündigt.

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