Welschtirol zwischen den Fronten
Gefangene der FestungPalera, ein kleines Bergdorf in der Provinz Trient (Trentino), gehört 1907 noch zu Österreich. Die Bewohner leben ärmlich aber mehrheitlich zufrieden in ihrer abgeschiedenen Heimat – bis das Fort Martinella ...
Palera, ein kleines Bergdorf in der Provinz Trient (Trentino), gehört 1907 noch zu Österreich. Die Bewohner leben ärmlich aber mehrheitlich zufrieden in ihrer abgeschiedenen Heimat – bis das Fort Martinella an der italienischen Grenze errichtet wird.
Nun ziehen Wohlstand, aber auch Neid und Missgunst bei den Siedlern ein. Insbesondere als ein Arbeiter kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs spurlos von der Baustelle verschwindet, wird man vorsichtig mit laut ausgesprochenen Spekulationen. Fehlenden Plänen zufolge könnte er als Spion zum Feind übergelaufen sein, aber auch ein Verbrechen ist nicht auszuschließen. Aufgrund von unterschiedlichen Nationalitäten und Sprachproblemen gestaltet sich das Leben im Fort während der Kriegsjahre nicht ganz unkompliziert, dennoch scheinen die Soldaten „Glück“ zu haben – es gibt nicht allzu viele Tote zu beklagen. Und auch der nächste Krieg lässt nicht lange auf sich warten, das verlassene Fort gerät wieder in den Mittelpunkt des militärischen Interesses, Nachforschungen zu einigen früheren Ungereimtheiten werden wieder aufgenommen und in den 1960er-Jahren graben zwei Hobbyhistoriker in den verstaubten Archiven.
Rolf Hentzschels Roman spielt zur Zeit der beiden Weltkriege und später, stellt diese jedoch nicht ins Zentrum des Geschehens, sondern richtet sein Augenmerk auf die Schicksale der Menschen auf dieser entlegenen Hochebene, beschreibt eindrucksvoll ihren Alltag und ihre Routine, die plötzlich aus dem Gleichgewicht gerät. Fragen tauchen auf, ob man Österreicher oder Italiener ist, welche Sprache die „richtige“ ist - Deutsch oder Italienisch - und ob dem Kaiser oder dem Duce die Treue zu halten ist. Magere Kriegsjahre, Flucht und Sorge um das Schicksal der Männer an der Front prägen das Leben der Frauen, Kinder und Alten.
In eindrucksvoller Schreibweise bringt der Autor dem Leser das Los der Bewohner Paleras näher, bewegend und einfühlsam werden die Szenen gezeichnet ohne aber jemals gefühlsduselig oder gar kitschig zu wirken. Durch ausgezeichnete und detaillierte Recherchen fließen viele Sachinformationen in die Geschichte mit ein und so verschmelzen Realität und Dichtung fließend zu einem großen Ganzen. Spannend an diesem historischen Roman ist die Auswahl einzelner Ereignisse, die teilweise auch Monate oder gar Jahre auseinander liegen, wodurch gekonnt wesentliche Abschnitte beleuchtet werden und keine unnötigen Längen entstehen.
Als Abrundung findet der Leser Zusatzinformationen in Form von einer Landkarte, übersichtlichem Personenregister, einer Zeittafel und einer Auflistung zeitgenössischer Begriffe.
Wer gut recherchierte und realitätsnahe historische Romane liebt, die ohne groß inszenierte Liebesgeschichten auskommen, der sollte zu „Gefangene der Festung“ greifen!