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Veröffentlicht am 11.11.2020

Gelungenes Jugendbuch mit einigen Schwächen

Secret Academy - Gefährliche Liebe (Band 2)
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Liebe Daisy,
heute melde ich mich zu einem Buch, dessen Erscheinung wir wohl beide entgegengefiebert haben: Secret Academy. Verborgene Gefühle von Valentina Fast, das 2020 bei One erschienen ist.

Die ...

Liebe Daisy,
heute melde ich mich zu einem Buch, dessen Erscheinung wir wohl beide entgegengefiebert haben: Secret Academy. Verborgene Gefühle von Valentina Fast, das 2020 bei One erschienen ist.

Die Geschichte folgt Alexis. Nach dem unerwarteten Ableben ihrer Eltern, sind sie und ihre Schwester im Waisenhaus gelandet. Eine Adoption scheint schwierig, da die beiden um jeden Preis zusammenbleiben wollen. Doch dann bekommt Alexis auf einmal einen Platz an der London Secret Academy angeboten, an der sie zur Agentin des geheimen MI20 ausgebildet werden soll. Wild entschlossen, für eine bessere Zukunft für sich und ihre geliebte Schwester zu kämpfen, nimmt sie an. Doch die Ausbildung fordert ihr alles ab und noch bevor sie diese beendet hat, merkt sie, dass ihr Beruf nicht nur ihr eigenes Leben gefährdet. Sie ist gezwungen alles zu hinterfragen – selbst die Loyalität ihrer KommilitonInnen.

Wie bin ich auf das Buch gekommen?
Vor langer, langer Zeit (na gut, Anfang 2017), habe ich die Royal Serie von Valentina Fast entdeckt. Und verschlungen. Und sie dir zum Lesen gegeben. Und sie selbst nochmal gelesen. Und dann Stunden damit zugebracht, mit dir darüber zu diskutieren. Das waren noch Zeiten…

Zurück zum Punkt jedenfalls: Seit damals wollte ich für eine vergleichende Analyse ein weiteres Buch von Valentina Fast lesen. Bloß, dass sich das nie ergeben hat. Bis jetzt. Obwohl ich mit SuperheldInnen eigentlich nicht so viel anfangen kann, klang das Buch vielversprechend und ich wollte ihm auf jeden Fall eine Chance geben.

Erzählstil
Das Buch ist eine Erste-Personen Erzählung im Perfekt. Wir erleben die Geschichte somit unmittelbar durch die Augen der Protagonistin Alexis. Obwohl es einige Zeit her ist, dass ich Royal gelesen habe, würde ich sagen, dass sich der Stil der Autorin nicht groß verändert hat. Er lässt sich mehrheitlich flüssig lesen. Es gab jedoch einige Aspekte, die mich stutzig gemacht haben.
Es gab etwa einige grammatikalische Ungereimtheiten, die meinen Lesefluss unterbrochen haben. Teilweise waren es lediglich uneindeutige Personalpronomen, die dazu geführt haben, dass ich einen Abschnitt (insbesondere S. 100f.) mehrfach lesen musste, um zu verstehen, wie viele Leute überhaupt anwesend sind und welches Personalpronomen sich auf wen bezieht; andernorts waren die Personalpronomen schlichtweg falsch gewählt z.B.: „Vielleicht war die Person [...] auch schon so geübt, seine [sic] Gefühle zu verbergen […]“ (S. 225). An wieder anderen Stellen sind dem Lektorat Fehler im Satzbau entgangen, z.B.: […] erwiderte er auf meinen genervten Tonfall sanft […]“ (S. 230).
Des weiteren stimmen einige Anschlüsse der Sätze einfach nicht: [D]ie Explosion hat viel Schaden angerichtet. Außer ein paar Schrammen haben die Zivilisten nichts abbekommen.“ (S. 330) und manchmal ist das Subjekt einfach nicht klar, z.B.: „[…] ein Lächeln entfuhr mir und lächelte noch immer als [...]“ (S. 365). Ich muss auch sagen, dass mir der Schreibstil stellenweise etwas zu salopp bzw. umgangssprachlich in den Erzählpassagen war z.B.: „Bam. Auf den Platz verwiesen.“ (S. 277). Zudem haben doppelte Verneinungen wie z.B.: „[..] warum er weder geöffnet war, noch nirgendwo erwähnt wurde […]“ (S. 302) den Text unnötig verkompliziert. Hier hätte ich mir ein aufmerksameres Lektorat gewünscht.

Zusätzlich fanden sich unzählige Wiederholungen einiger Motive, die für mich leider sehr dem Wink mit dem Zaunpfahl glichen, z.B.: wenn Alexis nervös ist und andauernd schaut, ob eine neue Nachricht angekommen ist (S. 251 (2x), S. 252 (2x), S. 253, S. 254, S. 265.). Auch der Gedanke, dass sie eine Geisel retten muss, wiederholt sich ab einem gewissen Punkt etwas zu oft (z.B.: S. 292) dafür, dass sie keine entsprechenden Handlungen setzt. Ich muss auch sagen, dass sich manche Dialoge extrem unnatürlich und gemacht angefühlt haben (z.B.: S. 392f.).

Ein weiterer Aspekt, den ich vorbringen möchte, ist der Spannungsbogen, der für mich nicht unbedingt Sinn ergeben hat. Das Buch kommt schnell ins Rollen und schafft es, in kurzer Zeit einen spannenden Konflikt zu etablieren. Ich hatte viel Spaß daran, mit Alexis in ihren neuen Lebensabschnitt zu starten. Und wie nicht anders zu erwarten, spitzt sich die Lage zunehmend zu und es kommt zu einem Höhepunkt. Der kommt jedoch schon relativ früh in der Geschichte, sodass man danach noch einen beachtlichen Teil des Buches vor sich hat, in dem gefühlt nichts passiert. Ich hatte große Schwierigkeiten, mich durch diese Längen zu kämpfen, auch wenn ich zugeben muss, dass die Geschichte auf den letzten paar Seiten noch einmal Fahrt aufnimmt. Vielleicht hätte es hier geholfen, sich mehr an der Spannungsbogenstruktur klassischer HeldInnenerzählungen zu orientieren.

Ich möchte im Folgenden im Detail auf einige weitere Aspekte eingehen. Das schaffe ich leider nicht, ohne zu spoilern. Falls du das Buch also noch nicht gelesen haben solltest, klicke jetzt am besten weg.

Alexis
Der erste Punkt, auf den ich detaillierter eingehen möchte, ist die Protagonistin Alexis. Mit ihren 19 Jahren ist sie im letzten von fünf Ausbildungsjahren (S. 47) an der London Secret Academy, um Agentin des MI20 zu werden.
Doch obwohl ihre Loyalität zu ihrer Schwester ehrenwert und ihr Ehrgeiz bewundernswert ist, hatte ich einige Probleme mit der Figur. Ich hatte das Gefühl, dass Valentina Fast sehr darum bemüht war, hier eine starke, kämpferische Frauenfigur zu entwickeln. Das ist ihr in vielerlei Hinsicht auch gelungen. Doch in manchen Aspekten ist sie über ihr Ziel hinausgeschossen. Insbesondere wenn es um physische Gewalt geht, wie etwa auf S. 196, wo Alexis‘ Gewaltproblem offensichtlich wird. Das ist leider kein Einzelfall: Etwas später (S. 282) kann sie nicht mit ihren Gefühlen umgehen und geht zum Boxtraining, um Dampf abzulassen. Dabei spürt sie, dass sich ein Kommilitone von hinten nähert und schlägt auf ihn ein, ohne auch nur zu schauen, um wen es sich handelt: „Mit einer fließenden Bewegung drehte ich mich um und schlug blind zu.“ (S. 282). Ich sage nicht, dass eine derartige Ausbildung keine psychische Belastung darstellt; doch sicherlich müsste ein solches Institut psychologische Unterstützung für die Auszubildenden zur Verfügung stellen? Das Verhalten, das Alexis an den Tag legt, das an keiner Stelle kritisch hinterfragt wird, ist jedenfalls ganz und gar nicht zu unterstützen und sollte keinesfalls als Vorbild fungieren.

Ich muss auch sagen, dass ich mir allgemein nicht so sicher bin, wie viel sie von ihrer Ausbildung mitgenommen hat. Einer Ausbildung, die angeblich die beste für GeheimagentInnen im gesamten Vereinigten Königreich ist. Wie bereits erwähnt, steht Alexis kurz vor ihrer Abschlussprüfung dieser Ausbildung. Doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich entsprechend verhalten hat. Etwa wenn sie erpresst wird und sich nicht anders zu helfen weiß, als klein bei zu geben und die Sache für sich zu behalten (S. 222). Oder wenn sie sich bei einem Einbruch von einem Kommilitonen erwischen lässt, weil sie zu unvorsichtig und unaufmerksam ist (S. 269). Es sind Momente wie diese, in denen ich mich gefragt habe, was sie die vergangenen 4 ½ Jahre an dieser Ausbildungsstätte gelernt hat. Diese Frage stellt sich mir auch später, wenn sie die Erkenntnis hat, dass ihr Schweigen über die Erpressung als Verrat gesehen wird (S. 405) und ihr einzig logischer Schluss ist, es weiter zu verschweigen, anstatt sich an eine Vertrauensperson zu wenden, um die TäterInnen zur Rechenschaft zu ziehen. Es ist auch nicht so, dass sie nicht wüsste, dass sie eben das tun sollte – das weiß sie (S. 411). Aber sie schiebt ihr Geständnis immer weiter vor sich her – über 50 Seiten lang. Irgendwann verliert dieser Bogen leider auch den Spannungsfaktor, da er einfach nur von ihrer Feigheit zeugt.

Etwas fragwürdig fand ich zudem Alexis‘ Urteilsvermögen bzw. Taktgefühl. Etwa, wenn sie ganz entspannt mit einem anderen Agenten über dessen Ausbildung quatscht – Sekunden nachdem sich ein Selbstmordattentäter neben ihr in die Luft gesprengt hat (S. 318). Wenig später steht eine dringliche Rettungsmission an – der perfekte Augenblick, so findet Alexis, um sich ihren lustvollen Gefühlen hinzugeben und sich ganz auf die Reaktionen ihres Gegenübers zu konzentrieren: „Er knurrte und seufzte zugleich.“ (S. 336).

Ich verstehe aber auch nicht ganz, wieso sie sich dazu befähigt fühlt, einem Mann vorzuwerfen, dass sie ihm zu wenig bedeutet, nachdem sie gerade selbst fremdgeknutscht hat (S. 391). Wobei sie zu besagtem Mann ohnehin ein eigenwilliges Verhältnis hat: „[W]eil ich dich mag! Ich habe dir ein verdammtes Messer an die Kehle gehalten, [sic] und du hast mich nicht umgebracht, sondern wolltest mir die ganze Zeit helfen. [...] Wir sind verdammt nochmal Freunde!“ (S. 392). Kurz darauf spricht sie dann davon, dass er wie ein Bruder für sie ist (S. 392). Ein Bruder, für den sie offenbar romantische Gefühle hegt; den sie zugunsten eines anderen jungen Mannes abblitzen lässt, bloß um kurz darauf zu sagen, dass sie nicht möchte, dass er die Academy – und damit sie – verlässt (S. 392). Ich kann mir nicht helfen, diese ganze Szene ist merkwürdig. Das selbstmittleidige Verhalten von eben jenem jungen Mann macht das Ganze leider kein Stück besser (insb. S. 391).
Ich muss also leider sagen, dass ich mit Alexis nicht sehr viel anfangen konnte. Besonders gegen Ende hin fand ich ihr Verhalten zunehmend unnachvollziehbar. Somit habe ich weder besonders mit ihr mitgefiebert noch mitgelitten, wodurch das letzte Drittel des Buches deutliche Längen für mich hatte.

Geschlechterdarstellung
Das bringt mich direkt zu meinem nächsten Punkt: der Geschlechterdarstellung. An sich habe ich es positiv gewertet, dass an der Academy Frauen und Männer zugelassen sind. Obgleich die Relation von drei Frauen zu fünf Männern in Alexis‘ Jahrgang leider noch immer in die falsche Richtung unausgewogen ist. Aber sei es drum. Das wäre etwas, über das ich hinwegsehen könnte. Auch darüber, dass der Schulleiter natürlich ein Mann ist. Ebenso wie der Antagonist. Auch dass eine von Alexis‘ Kommilitoninnen lediglich ein Modepüppchen ist und all die Leute, die sie im Zuge von Aufträgen beschützen oder retten müssen, Frauen sind.
Aber spätestens bei Sprüchen wie „[Das ist] eine Frauensache.“ (S.273), die verwendet werden, um vom Thema abzulenken, auf die die männliche Figur dann „Bitte rede nicht weiter“ (S. 273) antwortet, fühlte ich mich wirklich in das Patriarchat des Mittelalters zurückversetzt. Inklusive aller dazu passenden Tabuthemen. Entsprechend dazu werden Themen wie Menstruation natürlich auch nicht angesprochen.

Dazu passend wird das Mysterium der Jungfräulichkeit bzw. der Bedeutsamkeit, eben jene zu verlieren, in diesem Buch sehr, sehr, SEHR großgeschrieben. Natürlich nur im Bezug auf Frauen, wie es sich für eine patriarchale Gesellschaft gehört. Dies wird deutlich, wenn etwa einer der Männer meint: „Jungfrau? […] Das erklärt so einiges.“ (S. 215). Als würde das Durchführen des sexuellen Aktes eine Frau von Grund auf verändern. Auch die Damen dieser Geschichte scheinen diese Auffassung zu vertreten (z.B.: S. 402). Wobei sexuelle Handlungen für Alexis schnell mit schlechtem Gewissen verbunden zu sein scheinen: „Ich fühlte mich wie ein Miststück“ (S. 397); im Gegensatz dazu, wird sehr früh klar gemacht, dass die Herren damit kein Problem zu haben scheinen: „War es mal wieder eine von deinen Wochenendfreundinnen?“ (S. 33).

Positiv hervorzuheben finde ich Alexis‘ Verliebtheit. Es ist nachvollziehbar, dass sie die Annäherungsversuche des jungen Mannes, der sie ins Auge gefasst hat, kritisch sieht (z.B.: S. 283) und ihm anfangs nicht traut; besonders charmant fand ich zudem ihre Unsicherheit im Umgang mit ihm, als sie merkt, dass vielleicht mehr entstehen könnte (z.B.: S. 305). Fraglich fand ich dafür leider wieder, und hier schließt sich der Bogen zur Sexualität, dass sie ihm etwas Wesentliches über ihre nahe Zukunft verschweigt, und ihn somit dazu bringen möchte, mit ihr zu schlafen (S. 414ff.).

Die Secret Academy und das MI20
Das MI20 ist ein hoch ominöser Verein. Ohne gefragt zu werden, bekommt Alexis nach einem Unfall ein Serum injiziert, das ihr übermenschliche Fähigkeiten verleiht (S. 16ff.). Erst danach wird sie gefragt, ob sie überhaupt eine Ausbildung an der Secret Academy machen möchte (S. 19ff.). Wenn das mal kein guter Start ist.

Was ich an der Secret Academy mochte, war, dass Valentina Fast gezeigt hat, wie vielfältig der Unterricht war. Immer wieder waren verschiedenste Lehrstunden, von körperlichem Training, über Sprachen, zu Informatik, in die Erzählung eingeflochten. Das hat Authentizität geschaffen. Und ich muss ja gestehen, dass ich beim Lesen starke Assoziationen zu Dem Geheimen Club der Zweitgeborenen Royals (Disney, 2020) hatte – faszinierend, wie zwei so ähnliche Geschichten quasi zeitgleich erscheinen können.

Ich war etwas verwirrt, was die Anzahl der SchülerInnen an der Academy anging. Alexis vermittelt die Information, dass sich in ihrem Jahrgang acht SchülerInnen befinden, was laut ihr eher wenig sei. Es seien immer zwischen 5 und 15 SchülerInnen pro Jahrgang. Von ihren Informationen ausgehend müssten in den anderen Jahrgängen mindestens gleichviele, aber eher mehr SchülerInnen geben. Somit müsste es mindestens 40 SchülerInnen an der Academy geben. Es gibt aber nur 39 (S. 47). Irgendwo steckt da der Wurm drinnen.

Das aber nur als Anekdote am Rande, bevor wir zu meiner wirklichen Frage kommen: Was lernt man an dieser Academy wirklich und was kann das MI20 eigentlich? Zu ersterer möchte ich auf eine Situation eingehen, in der Alexis angeschossen worden ist und ein Kommilitone bei ihr bleibt, bis die Einsatzkräfte kommen (S. 103). Anstatt zu versuchen, die Blutung zu stillen, hält er ihre Hand und flirtet mit ihr. Selbst mit meinem mehr als lückenhaften Erste-Hilfe-Wissen weiß ich, dass man Druck auf die Wunde ausüben muss. Wieso weiß der junge Mann das nach über vier Jahren Training, das auch eine medizinische Ausbildung beinhaltet, nicht?

Es gibt im Laufe des Buches zudem eine Szene, bei der Alexis in einer Simulation (die mich stark an Divergent (Roth, 2011) erinnerte) auf dem Boden liegt und einen Mann, der die Straße entlang geht, erschießen soll. Die Schwierigkeit dabei besteht darin, dass er 3000 Meter entfernt ist. (S. 262) Das sind 3km. Eine Strecke, die ein durchschnittlicher Läufer in etwa 12 Minuten läuft (der Weltrekord liegt bei 07:20). Ich frage mich, inwiefern ich mir das vorstellen darf. Wie genau versteckt sie sich liegend im Unterholz und schafft es, durch eben dieses aus solcher Entfernung hindurch auf den Mann zu zielen? Oder hat sie eine Kugel, die zickzack fliegt und den Hindernissen ausweichen kann? Ich sag nicht, dass es technisch nicht möglich wäre, über solche Distanzen zu schießen; würde sie sich auf einem erhöhten Standpunkt befinden, würde ich diese Übung nicht infrage stellen. Aber auf dem Boden liegend wirkt es doch etwas utopisch, dass ihr nichts im Weg steht.

Meine nächste Frage bezieht sich auf den Stützpunkt des MI20. Ebenjenen Stützpunkt, aus dem Alexis mit Leichtigkeit aus- und wieder einbricht (S. 187), ohne dass jemand etwas davon mitbekommt. Wenn das so einfach ist, wird sie nicht die Einzige sein, der das gelingt? Eventuell sollten sie ihre Sicherheitsvorkehrungen überprüfen.

Analog möchte ich die Effizienz der ausgebildeten AgentInnen infrage stellen. Alexis bekommt in einer Prüfung die Aufgabe, jemanden, der unter der Aufsicht eines fertig ausgebildeten Agenten steht, zu bestehlen. Etwas, das ihr gemeinsam mit ihrem Partner mit Leichtigkeit gelingt, da sie den Agenten mit einem koketten Flirt ablenkt, während ihr Partner den Raub begeht (S. 313). Wenn es so leicht ist, Agenten abzulenken, sind sie wohl doch nicht so gut, wie man denken würde.
Wenig später brechen Alexis und ihr Team im Zuge einer Rettungsmission ein. Sie gehen davon aus, dass die Tür, durch die sie müssen, entweder einen Alarm auslöst oder mit einem Sprengsatz versehen ist (S. 346). Ihre weitere Vorgehensweise besteht darin, einfach durch die Tür zu gehen. Etwas, das für mich absolut keinen Sinn ergeben hat.

Zuletzt möchte ich noch das Wertesystem der Secret Academy ansprechen. Es wird im Laufe des Buches wiederholt angesprochen, dass persönliche Beziehungen zwischen den auszubildenden AgentInnen verboten sind und bestraft werden (z.B.: S. 236). Jedoch erfahren wir sehr früh, dass die Academy genau der Ort war, an dem sich Alexis‘ Eltern kennengelernt haben (S. 19); und auch in Alexis‘ Jahrgang musste ich mich bemühen, den Überblick zu behalten, wer gerade etwas mit wem hatte. Eine offenkundig ineffiziente Regel also, die damit völlig redundant wird. Zumal ich nicht ganz verstehe, warum die Academy derartige Beziehungen nicht fördert, da sie das Risiko, dass Informationen zu außenstehenden BeziehungsparterInnen durchsickern, auslöscht.

Auch finde ich die Vorwürfe des Hochverrates, mit denen eine Figur konfrontiert wird und deren Konsequenzen sie tragen muss (S. 423) etwas übertrieben. Das Verhalten der Figur war womöglich nicht richtig, da sie das Wohl eines Einzelnen über die Loyalität zur Academy gestellt hat. Gleichzeitig war das Verhalten mehr als menschlich und es ist offensichtlich, dass sie sich alternativenlos gefühlt und aus Angst gehandelt hat; zumal ihre Ausbildung noch nicht abgeschlossen ist. Dafür sollte ihr doch eine gewisse Kulanz eingeräumt und eine zweite Chance gegeben werden. Dem scheint allerdings nicht so zu sein. Das MI20 scheint blinden Gehorsam zu fordern – und wo wir mit der Forderung landen, wissen wir wohl alle…

Gaben
Jetzt kommen wir zum übernatürlichen Teil der Erzählung. Dem Serum, das gewisse körperliche und psychische Fähigkeiten optimiert. Es resultiert darin, dass die AgentInnen Fähigkeiten haben, die an die Cullens (Meyer, Bis(s) zum Morgengrauen, Orig. 2008) erinnern: Alexis kann Gefühle wahrnehmen und verändern (Jasper), es gibt jemanden, der übernatürlich stark ist (Emmett), jemand, der die Zukunft voraussehen kann (Alice), etc.

Mein größtes Problem mit diesen Gaben lag darin, wie inkonsequent die Ausführung war. Zu Anfang des Buches wird etabliert, dass Alexis jede Nacht aus dem Waisenhaus, in dem sie untergekommen ist, klettert, um Luft zu schnappen (S. 13). Nachdem sie das Serum bekommen hat, wird jedoch behauptet, dass sie eben jenen Weg nur durch die zusätzliche Kraft, die das Serum ihr verliehen hat, bewältigen kann (S. 61). Ist das Inkonsequenz oder ist der ganze Effekt bloß Placbeo? Wohl eher Ersteres, wenn man sich eine spätere Passage ansieht, in der einer von Alexis‘ Kommilitonen „das Gewicht eines Kleinwagens“ (S. 281), also etwa eine Tonne, in der Kraftkammer stemmt. Aber wenn das Serum so starke physische Verbesserungen bewirkt, wie kann es dann sein, dass Alexis in einer Notsituation, in der zusätzlich noch Adrenalin in ihrem Körper sein wird, dennoch zu schwach ist, um Fesseln zu lösen (S. 354)?

Auch die psychische Komponente von Alexis‘ Fähigkeiten war für mich leider nicht ganz stimmig. Es wirkte völlig willkürlich, nach welchem Schema sie die Gefühle von Leuten fühlen konnte. Teilweise wurde behauptet, dass es auf die Person ankommt, teilweise dringen nur gewisse Emotionen durch, teilweise kann eine Person sie (zwischenzeitlich) blockieren. Es wirkte für mich leider nicht wie eine konsequent durchgezogene Gabe, sondern wie ein Hilfsmittel der Autorin, um einen Haufen Gefühle aufzulisten, anstatt sie erfahrbar zu machen (z.B.: S. 425).

Agenda der Antagonisten
Zu guter Letzt möchte ich noch die Agenda der Antagonisten ansprechen. Ich habe sie leider einfach nicht verstanden. Allen voran die des Selbstmordattentäters. Wir leben in einer Zeit, in der man leider weiß, dass es deren Ziel ist, möglichst viele Menschen mit sich in den Tod zu reißen. Warum also sprengt diese Person sich in die Luft, ohne auch nur zu versuchen, in die Nähe von Alexis, der Gegnerin, zu kommen (S. 318)?

Ich verstehe auch die Geiselnahme nicht ganz. Wie kommen die TäterInnen bloß auf die Idee, dass ihnen diese Geisel tatsächlich die Person, die sie kriegen wollen, in die Arme treibt? Es wirkte leider etwas an den Haaren herbeigezogen für mich.

Fazit
Bei Secret Academy handelt es sich um ein actiongeladenes Buch. Sofern einen gewisse sprachliche und inhaltliche Ungereimtheiten nicht stören und man sich vom Plot mitreißen lassen kann, wie mir das auch über weite Strecken gelungen ist, kann einem Secret Academy bestimmt packende Lesestunden bescheren. Ich hatte leider Probleme mit einigen Thematiken, allen voran mit der Protagonistin und der Geschlechterdarstellung, aber das heißt nicht, dass es ein schlechtes Buch ist. Lies auf jeden Fall einmal rein, wenn dir der Sinn nach Abenteuern mit romantischen Elementen steht. Allgemein würde ich es LeserInnen ab 12 empfehlen.
Deine Daffy

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Veröffentlicht am 08.11.2020

Vielversprechende Idee mit einigen Schwächen

»Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten« und »Einladung zum Klassentreffen«
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Liebe Daisy,
liebe Daffy,
wie schön, euch beide so schnell wieder hier bei mir zu Gast zu haben. Heute einmal mit einem bisher unüblichen Genre für euren Rezensionskanon, oder? Erzählt mir doch einmal, ...

Liebe Daisy,
liebe Daffy,
wie schön, euch beide so schnell wieder hier bei mir zu Gast zu haben. Heute einmal mit einem bisher unüblichen Genre für euren Rezensionskanon, oder? Erzählt mir doch einmal, wie es dazu kam, dass ihr das eBook „Zwei Theaterstücke“ von Martin Schörle gelesen habt.
Daffy
Vor einiger Zeit erreichte uns eine Nachricht des Autors, der uns ein Rezensionsexemplar im Gegenzug für eine ehrliche Rezension angeboten hat. Da theatrale Erlebnisse momentan ja leider eingeschränkt sind, hat uns dieses Angebot doppelt gefreut und wir haben dankend angenommen.
Daisy
Hier möchte ich noch hinzufügen, dass „Zwei Theaterstücke“ 2016 im Engelsdorfer Verlag erschienen ist. Außerdem kann ich mich Daffy nur anschließen und mich beim Autor für dieses Rezensionsexemplar bedanken.

Und worum geht es in diesem Stückeband?
Daisy
Wie der Titel “Zwei Theaterstücke” schon verrät, handelt es sich um zwei Dramen. In “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten” erleben wir einen fiktiven Arbeitstag eines Beamten. Das zweite Stück heißt “Einladung zum Klassentreffen”. Zwei ehemalige Klassenkameraden führen ein Telefonat, in dem es um zweite Chancen, verpasste Gelegenheiten und Neuanfänge geht.

Das klingt nach zwei spannenden, alltagsnahen Themen. Bleiben wir zunächst beim ersten Stück. Könnt ihr hier noch näher auf Inhalt und Form eingehen?
Daisy
In diesem Stück lernen wir den Beamten Fredenbek kennen. Martin Schörle gibt uns zum Einstieg in das Stück eine kurze Beschreibung des Bühnenbilds, als auch der Figur Fredenbeks. Wir lernen, es handelt sich um einen eher einsamen, skurrilen Mann mittleren Alters. Im Laufe seiner Arbeitsjahre hat er sich wohl zu sehr in seinem Büro und der Bürokratie vergraben und einen offenen Blick für diese Welt verloren hat.
Der Autor lässt seine Figur zerstreut auftreten, wodurch wir in eine komische Szene katapultiert werden. Fredenbek echauffiert sich über das Verschwinden eines Radiergummis und zeigt daraufhin die unterschiedliche Nutzung verschiedener Radiergummis auf. Die Doppeldeutigkeit in dieser Szene festigt zum einen die Figur Fredenbeks als schrullige, engstirnige Persönlichkeit, als auch seine durchaus sexistische (und frustrierte) Seite, die im Laufe des Stückes noch von Bedeutung werden soll.
Daffy
Das Stück ist in Form eines Monologes geschrieben. Dieser ist lediglich von Regieanweisungen und einzelnen Aussagen von anderen Figuren aus dem Off unterbrochen. Wie Daisy schon erwähnte, wird in einem einleitenden Text die Exposition erläutert. Wobei ich mich frage, ob es diesen gebraucht hätte oder ob sich dies aus dem Stück selbst ergibt. Und wenn dem nicht so ist, frage ich mich weiterführend, in welcher Weise diese Information an potentielle Zuschauerinnen und Zuschauer bei tatsächlichen Aufführungen vermittelt würde. Im Programmheft?
Ich muss auch sagen, dass ich die Regieanweisungen inkonsequent fand. Mal waren sie kaum vorhanden, mal extrem restriktiv und es war klar, dass der Autor ein klares Bild vor Augen hatte. Wobei ich sagen muss, dass ich bei Letzteren das größere Problem sehe. Der Autor gibt oftmals unfassbar präzise gewählte Haltungen und Substitute vor; dabei hatte ich das Gefühl, dass er den Rollenerarbeitungsprozess, den einE RegisseurIn und einE SchauspielerIn in diesem Fall vornehmen würden, zu sehr einzuschränken versucht. Richtungen vorzugeben ist wichtig, aber es gibt Passagen, in denen sich das Korsett, das er schreibt, zu eng anfühlt, um einen fruchtbaren künstlerischen Prozess zu erlauben. Ein Prozess, der ganz besonders bei einem Einpersonenstück elementar ist.
Daisy
Wo du das Einpersonenstück ansprichst, Daffy : Es gibt durchaus einen Auftritt von den KollegInnen Fredenbeks. Auf S. 33 kommen diese ins Büro gestürmt, laufen einmal um den Schreibtisch und gehen wieder ab. Später hört das Publikum Stimmen aus dem Off, die mit Fredenbek kommunizieren. (S. 46f.) Hier stellt sich mir die Frage, ob die Möglichkeit bestünde, im Vorfeld mit SprecherInnen im Studio die Textpassagen einzusprechen und während einer potenziellen Aufführung abzuspielen. Außerdem frage ich mich, ob es den Auftritt der KollegInnen tatsächlich braucht, da sie keinen Mehrwert für die Szene bietet. Vorrangig denke ich hier daran, dass ein Theater SchauspielerInnen anstellen würde, damit Stimmen aus dem Off kommen können. Oder würden diese von anwesendem Theaterpersonal gesprochen werden? Die Wirtschaftlichkeit bleibt für mich etwas offen.
Daffy
Ein interessanter Einwand. Ich hatte bei diesen Segmenten tatsächlich sofort an vorab angefertigte Tonaufnahmen gedacht, die auf Stichwort eingespielt werden können. Denn wie du richtig anspricht, wäre es für kein Theaterhaus wirtschaftlich, SchauspielerInnen für solche kurzen Auftritte zu engagieren. Ich könnte mir auch vorstellen, dass der Schauspieler von Fredenbek einen Augenblick aus seiner Rolle schlüpft, um die der anderen Figuren einzunehmen. Wobei hier natürlich untersucht werden müsste, inwiefern dieser Brecht’sche Zugang sich in das restliche Stück einfügt oder deplatziert wirkt. Wobei er durchaus dazu passt, dass die Vierte Wand häufig gebrochen und das Publikum direkt angesprochen wird. Das kann man allgemein mögen oder nicht, es bewegt sich hier jedoch sehr dicht an der Grenze dazu, überstrapaziert zu werden, da es in einer inflationären Häufigkeit verwendet wird.

Nachdem wir das erste Stück nun etwas kennen gelernt haben, wäre es schön, wenn ihr „Einladung zum Klassentreffen“ zusammenfassen könntet.
Daisy
In diesem Stück lernen wir Marina und Carsten kennen. Sie sitzt in der Bahn auf dem Heimweg von der Arbeit, ihn sehen wir zunächst gar nicht, sondern hören ihn nur am Telefon. Beide haben zusammen Abi gemacht und nun soll ein Klassentreffen stattfinden, zu dem Carsten Marina einlädt. Die Lage ist etwas surreal, da wir als LeserInnen/ TheaterzuschauerInnen miterleben, wie beide zum ersten Mal nach zwanzig Jahren miteinander sprechen. Das langsame Antasten an die alte Bekanntschaft, das Sprechen über andere MitschülerInnen, all das lässt uns die Situation langsam durchschauen. Dann lernen wir, dass zwischen den beiden Protagonisten mehr war als nur eine Schulkameradschaft, beide verbindet eine Liebelei.

Es handelt sich ja um zwei Stücke - inwiefern hattet ihr eine unterschiedliche Leseerfahrung bei den beiden?
Daisy
Das ist wirklich eine interessante Frage, weil mein Leseerlebnis bei beiden sehr unterschiedlich war. Von den Seitenzahlen müssten beide Stücke circa gleich lang sein. Ein großer Unterschied ist jedoch direkt zu erkennen: Das erste Stück kommt als geballter Blocksatz, das Zweite besteht aus recht kurzen Sätzen in Dialogform. Dadurch liest sich “Einladung zum Klassentreffen” sehr flüssig und schnell. Als ich es beendet hatte, habe ich dich, Daffy direkt gefragt, wie lang du das Theaterstück einschätzen würdest, wenn es dann auf der Bühne ist.
Daffy
Stimmt, ich erinnere mich. Mir ging es ganz ähnlich. Die Dialogform ließ sich schneller lesen. Einerseits, weil die Seite weniger gefüllt war, andererseits, weil der Schlagabtausch gelungen geschrieben war. Der Dialog las sich flüssig und ich konnte nachvollziehen, wie sich das Gespräch entwickelte. Das ließe sich bestimmt als Einakter von 60 Minuten inszenieren. Was “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten” angeht, habe ich auch einige Zeit gebraucht. Die Pause, die der Autor geschrieben hat, ist dringend notwendig. Und selbst damit bräuchte es wohl geschickt gesetzte Striche eines geschulten Dramaturgen, um es auf Theaterabendlänge zu kürzen. Aber auf die Striche komme ich gleich nochmal zurück.
Daisy
Ich stimme Daffy zu, im Gegensatz zum zweiten Stück, hatte auch ich ein anderes Leseerlebnis bei “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten”. Das Stück hatte auf mich den Eindruck eines sehr energischen Vortrags, was mich viele Pausen gekostet hat. Ich musste immer wieder den Schritt aus dem Stück machen und meine Gedanken sammeln. Die Figur des Fredenbek ist sehr intensiv und oftmals moralisch verwerflich.
Daffy
Ich glaube, Letzteres hat bei mir auch maßgeblich das Gefühl von Längen bewirkt. Natürlich braucht es mehr Zeit, um Haltungswechsel und Drehpunkte aufzubauen, wenn der/die DialogpartnerIn und damit der extrinsische Anlass dafür fehlt. Dadurch, dass ich mit der Figur des Fredenbek aber auch so wenig anfangen konnte, weil er von meinem Erfahrungshorizont und meinem Wertesystem so weit weg ist, war ich emotional weniger involviert als dies vielleicht notwendig gewesen wäre. Da hatte es das zweite Stück mit seiner Dialogform schon einfacher, da mehr Figuren vorkamen und es somit größeres Identifikationspotential angeboten hat.

Aus sicherer Quelle weiß ich, dass ihr beide gerne Zeit im Theater verbringt. Wie beurteilt ihr das Potential, das diese Text bergen?
Daisy
Es stand außer Frage, dass wir wohl beide mit genau diesen Gedanken an die Stücke gegangen sind, schließlich verraten sowohl Titel, als auch äußere Form, dass es sich um Dramen handelt. Wir bekommen einen Überblick über die Personen und auch eine Exposition wie die Bühne auszusehen hat.
Somit war die Erwartungshaltung direkt darauf ausgerichtet, die Stücke vor dem inneren Auge auf eine Bühne zu stellen und zu jedem Zeitpunkt zu überlegen, wie die jeweilige Szene aussehen könnte. Von der äußerlichen Betrachtung, könnte ich mir beide Stücke aufgrund ihrer Dynamik auf der Bühne vorstellen.
Daffy
Mir ging es ganz ähnlich. Ich habe die beiden Stücke auch direkt auf einer Bühne gesehen. Wobei ich sagen muss, dass mir das bei Zweiterem leichter gefallen ist, weil es einer klareren Spannungsbogenstruktur mit eindeutigen Wendepunkten in den Beziehungen der Figuren gefolgt ist. Bei Ersterem hatte ich eher das Gefühl, dass es vor sich hinplätscherte. Somit hatte ich dabei größere Schwierigkeiten mir eine packende Inszenierung auszumalen.
Daisy
Dem kann ich nur zustimmen. Ich empfand das zweite Stück als eines, das ein breiteres Publkum ansprechen könnte. Nicht nur, dass wir mehr Figuren auf der Bühne erleben, es findet auch eine Entwicklung statt. Wir lernen Motivationen und Wünsche der Charaktere kennen.
Bei “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten” haben wir schon über die Form gesprochen. Auch im zweiten Stück gibt der Autor ein mögliches Bühnenbild vor. Was sich mir hier nicht erschließt, ist die Position von Carsten. Steht er durchgehend auf der Seitenbühne und das Publikum hört ihn ausschließlich?
Das kann sehr ermüdend sein und gibt der halbierten Bühne keine Daseinsberechtigung. Wozu sollte das Publikum das ganze Zeit über auf Marinas Wohnung schauen, wenn dieser Platz nicht weiter genutzt wird?
Geschickter wäre es, Carsten im Publikum zu platzieren oder abseits am Bühnenrand, aber für das Publikum jederzeit sichtbar. Dies bietet auch viel mehr Möglichkeiten für schauspielerischen Ausdruck.
Außerdem könnte ich mir eine Drehbühne gut für dieses Stück vorstellen, um mehr Dynamik auf die Bühne zu bekommen. Marina verändert während des Spiels regelmäßig ihren Standort und springt zwischen Gegenwart und vergangenen Ereignissen. Eine Drehbühne könnte all diese Orte darstellen und es müsste nicht umgebaut werden.
Daffy
Nicht, dass ich deine Vorschläge nicht auch spannend fände, aber ich muss tatsächlich gestehen, dass ich mir den zweigeteilten Bühnenraum sehr gut vorstellen konnte. Tatsächlich alles wieder eher abstrahiert als naturalistisch, in seiner Darstellung, aber an sich eine Bühnenhälfte für jede der beiden telefonierenden Figuren. Und sobald wir dann in Marinas Vergangenheit eintauchen, kann Carsten durch Gegenlicht aus dem Fokus gebracht werden. Ich glaube, dass durch Licht auch ohne Umbauten einiges an Abwechslung in den Raum gebracht werden kann.
An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass sich mittlerweile in einer genauen Textanalyse und privaten Diskussionen herausgestellt hat, wie es sein kann, dass wir so unterschiedliche Vorstellungen zu dem Text hatten: Wir haben die Regieanweisung im Bezug auf Carsten anders gelesen. Diese ist leider missverständlich formuliert, so dass die Grammatik des Satzes anmuten lässt, dass Carsten gar nicht für das Publikum sichtbar ist und nicht nur, so wie ich interpretiert habe und es vermutlich intendiert war, nicht erkennbar ist, dass er vor Marinas Wohnung platziert ist.

Da ihr euch die Stücke beide gut bis sehr gut auf der Bühne vorstellen könnt, wäre es doch eine gute Gelegenheit, eine mögliche Bühnenadaption durch zu denken. Wie könntet ihr euch eine Umsetzung vorstellen? Gäbe es Änderungsvorschläge?
Daisy
Ich habe schon angesprochen, dass ich die Figur Fredenbek als problematische empfinde. Der Autor hat mit ihm eine Figur geschaffen, die mithilfe von u.a. diskriminierenden, fremdenfeindlichen und frauenverachtenden Kommentaren, witzig sein soll. Ich denke, hier wäre es hilfreich, wenn ich ein Beispiel nenne, um zu verdeutlichen, was mich an der Figur gestört hat. Auf Seite 19 beginnt eine Szene, in der sich Fredenbek darüber wundert, welche irrsinnigen Gesetze es in Deutschland gibt. So gibt es eine Vorschrift, die das Verhalten bei Überschwemmungen in größeren Städten definiert. Die Vorschrift ist wahrhaftig absurd und birgt ein großes Potenzial, sehr viel Komik auf die Bühne zu bringen. Doch leider wird “zum Wohle der Unterhaltung” - ich setze es bewusst in Anführungszeichen - eine Diskriminierung von Kleinwüchsigen vorgenommen. Davon abgesehen, dass der gewählte Begriff “Liliputaner” (S. 20) eine Diskriminierung darstellt, empfinde ich es als überhaupt nicht notwendig, die Szene auf diese Weise mit “Witz” zu versehen. Mein Vorschlag wäre, dies aus der Szene zu streichen, da sie noch immer einwandfrei funktionieren würde. Die Vorschrift an sich und Fredenbeks Überlegungen, was passieren würde, würden die SchwimmerInnen die Stadtgrenze passieren, ist lustig, sie würde die Schrulligkeit des Beamten nach wie vor darstellen und das Wichtigste: Sie funktioniert ohne Diskriminierung auf einer Theaterbühne.
Daffy
Ich kann mich Daisy nur anschließen. Wie ich bereits erwähnt habe, wäre ich auch maßgeblich für eine Strichfassung, ganz besonders von “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten”, zu begeistern. Es wird hier, wie du, Daisy, richtig sagst, zu salopp mit sensiblen Themen umgegangen und Witze auf Kosten von Minderheiten gemacht. Ich sage nicht, dass es kein Publikum dafür gäbe - das gibt es. Leider. Aber Theater hat nicht nur einen reinen Unterhaltungs-, sondern auch einen Bildungsauftrag. Somit können derartige Äußerungen, die, wie Daisy ganz richtig ausgeführt hat, einfach ersetzt werden können, ohne dass der Szene Abbruch getan wird, nicht unkommentiert stehen gelassen werden. Selbstverständlich ist es etwas Anderes, arbeitet eine Inszenierung in so einem Fall gegen den Text. Ich habe im Vorfeld schon viel mit Daisy darüber gesprochen und bin noch immer nicht ganz sicher, ob ich es mir vorstellen könnte; aber ein Vorschlag, um subversiv mit dem stark präsenten Sexismus umzugehen, könnte sein, die Rolle des Fredenbek mit einer Frau zu besetzen. Es müsste genauer geprüft werden, inwiefern dies reichen würde, um den Text im Bezug auf Sexismus infrage zu stellen und ob er dennoch funktionieren kann, aber das wäre eine Frage, die ich tatsächlich gerne auf einer Bühne beantwortet sehen würde.
Daisy
Ich könnte mir auch vorstellen, dass ein starker Schauspieler, die Kritik an Fredenbek in sein Spiel integrieren könnte. Wir erleben die Figur beispielsweise bei einem imaginierten Italienurlaub. Auf S. 14f. wird vom Schauspieler ein Absatz auf Italienisch gefordert. Hierfür müsste der Unterschied deutlich werden, wann der Schauspieler als Fredenbek, wie beschrieben, gebrochen Italienisch spicht und wann wie ein Muttersprachler antwortet. Da diese Leistung vom Schauspieler gefordert wird, könnte es auch an anderer Stelle gelingen, die Figur als fragwürdig darzustellen. Wie Daffy schon ansprach, Theater hat den Auftrag, zum Nachdenken anzuregen, Offenheit und Gleichberechtigung in der Kunst zu verarbeiten und zu vermitteln.

Nun haben wir schon viel gehört und mögliche Umsetzungen durchdacht. Könntet ihr noch ein kurzes Fazit ziehen?
Daisy
Zuerst möchte ich betonen, wie viel Freude mir diese Dramenbesprechung bereitet hat. Wir durften zwei unterschiedliche Stücke lesen und uns dazu positionieren. Beide bieten Potential, um auf der Bühne inszeniert zu werden. “Einladung zum Klassentreffen” kann sicher ein breites Publikum ansprechen, da hier ein Alltagsthema besprochen wird und unterschiedliche Identifikationsmöglichkeiten bestehen, sehe ich hier die Möglichkeit für einen kurzweiligen Theaterabend.
Auch “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten” würde sicher sein Publikum finden. Hier rate ich aber dringend zu einer Überarbeitung. In dieser Fassung würde ich das Stück ungern auf der Bühne sehen, da mich die Diskriminierung, die zum Zwecke der “Komik” eingesetzt wird, stark abschreckt. Es geht nicht darum, eine moralisch einwandfreie Figur des Fredenbeks zu zaubern, es geht mehr darum, der Figur Werte und Moral gegenüber zu stellen, sodass das Publikum der Figur kritisch begegnet. Ohne hier das Ende zu verraten, aber es ist keinerlei Legitimierung, nach allen Seiten zu treten, nur weil man selbst verletzt wurde bzw. sich ungerecht behandelt sieht.
Daffy
Ich möchte mich an dieser Stelle ebenfalls noch einmal beim Autor für das Rezensionsexemplar bedanken. Die Inhalte entsprechen, trotz meiner Leidenschaft für Theater, leider nicht meinem Interessenskanon; analog kann ich mich auch nur bedingt mit den dargestellten Werten identifizieren. Dennoch denke ich, dass die Stücke als Kammerspiele durchaus umsetzbar wären und auch ihr Publikum finden würden - nur bitte hoffentlich in einer überarbeiteten Fassung, die sich nicht auf Minderheiten stützt, um Witze zu machen.

Danke euch beiden für dieses Gespräch.

Anmerkung 08.11.2020
Da es einige Nachfragen zu den von uns angesprochenen Problematiken im Bezug auf “Nichtalltägliches aus dem Leben eines Beamten” gab, möchten wir an an dieser Stelle gerne eine detailliertere Analyse hinzufügen.

Sexismus
Auffällig ist etwa der Zugang, den Fredenbek zu jungen Frauen hat, insbesondere zum Mythos der Jungfräulichkeit. Es wird hier über eine Metapher gearbeitet, aber die Aussage bleibt unverändert fragwürdig: „Jungfräulich und rein. Kleine Lolitas. Wie sie daliegen, so unschuldig. Aber das ist es ja gerade! Diese vermeintliche Unschuldige, Unberührte impliziert tatsächlich, gewissermaßen hintergründig, die Aufforderung zuzugreifen. […] Sie kokettieren wie weiße, geschmeidige, unbekleidete Mädchenkörper am Strand.“ (S. 12) Man beachte hier nicht nur die pädophile Richtung, die seine Gedanken einschlagen, sondern auch den unterschwelligen Rassismus. Die Passage führt dann darauf hinaus: „Sie wissen, dass man da nicht widerstehen kann, diese kleinen Luder. Herrgott, ich bin auch nur ein Mann! […] Wo bist du, du Miststück?“ (S. 12) – um das sinngemäß zusammenzufassen: Fredenbek reduziert junge (impliziert minderjährige) Mädchen am Strand auf ihr Äußeres und darauf, ihn verführen zu wollen; etwas, das sie in seinen Augen gleichzeitig zu einem „Miststück“ macht. Typisch misogynes Verhalten.

Ein weiteres Beispiel, das ich gerne darlegen möchte, ist die immer wieder betonte patriarchale Struktur in dem Büro, in dem er arbeitet. Hier bringt eine gewisse Kollegin immerzu die Milch, etwas, das Fredenbek ebenfalls sexuell konnotiert (S. 31); seine Assistentin ist gemäß patriarchaler Strukturen natürlich auch eine Frau (S. 35).
Zumal auch die Frauenfigur der Kollegin, die die Milch bringt, auf ihr Äußeres reduziert wird und Fredenbek es sich herausnimmt, über sie zu urteilen: „Sie schaut recht gut aus für ihr Alter. Sehr gut sogar […] Letzten Sommer […] trug sie ihr blaues Kleid mit den weißen Punkten und das hat mich herausgefordert.“ (S. 31) Hier findet sich wiederum eine Situation, in der eine Frauenfigur objektiviert und auf ein Lustobjekt für Fredenbek reduziert wird. In der folgenden Passage malt dieser sich aus, wie er sie verführen kann; nicht respektvoll, sondern mit eiskalter Berechnung: „Sie spielen den Ergebenen, dabei sind Sie derjenige, der führt. An unsichtbaren Fäden lassen Sie die Puppe tanzen. […] Und sie, meine Damen, schätzen hoffentlich realistisch ein, was da heute Nacht auf Sie zukommt.“ (S. 32) Es handelt sich somit offenkundig um keine gleichberechtigte Beziehung. Der Mann wird hier als Machthabender dargestellt, der die Zügel in der Hand hat, während die Dame nach seiner Pfeife zu tanzen hat. Ähnliches Verhalten legen auch einer von Fredenbeks Klienten gegenüber dessen Ehefrau, welche er somit ebenfalls objektiviert, an den Tag: „[Meine Frau] ist gelenkig und in alle Hinsichten … offen. Da werden Sie viel Spaß haben. Nennen Sie Ort und Zeit zwecks Übergabe von meiner Frau.“ (S. 24).
Ein weiteres Beispiel dafür, dass Frauen in diesem Drama in sämtlichen Lebenslagen sexualisiert wahrgenommen werden, findet sich später: „Eine Frau, die ihre Haarspange öffnet, signalisiert damit unverhohlen ihre … naja egal…“ (S. 37) Manchmal öffnet eine Frau aber auch einfach deshalb ihre Haarspange, weil ihr danach ist und nicht, weil sie einem Mann etwas signalisieren möchte; so schwer diese Erkenntnis in einem Patriarchat zu finden ist, so wahr ist es doch, dass sich nicht sämtliches Handeln von Frauen darum dreht, Männer zu beeindrucken. Wo ich beim Patriarchat bin: Männer, die ihre Machtpositionen ausüben, werden selbstverständlich ebenfalls erwähnt (S. 42).

Auch der Bezug zur Hysterie der Frau, die Freud einst ausgeführt hat, ist gegeben: „Wenn man als Frau nach Jahren […] enthaltsamskeitbedingter Frustration plötzlich die Geborgenheit spürt, die man schon zu lange vermisst … das ist ja auch überwältigend. Da liegen die Nerven blank, das kann man doch verstehen. […] Dieses lodernde Feuer, das einer Frau naturgemäß innewohnt … das muss irgendwann raus!“ (S. 33) Ein wunderbares Exempel dafür, wie Frauen in diesem Drama von Männern abgesondert werden.
Besonders deutlich wird dies auch in der folgenden Passage, die sich mit dem Selbstbild von Frauen und den „Abgründe[n] der weiblichen Seele“ (S. 34) befasst: „Sie passieren essentielle Stationen der weiblichen Seele: die Zelle für Eifersuchtsdramen, die Synapse für Telekommunikationsangelegenheiten (das sogenannte Klatschzentrum), die Notrufsäule für impulsives Einkaufen […]. Sie lassen den Nerv für hysterische Überteibungen, die Bedarfsanmeldungsdrüse für Tupperwareartikel und die Membran für anlassunabhängige Verstimmungen hinter sich.“ (S. 34).
Ich sage nicht, dass solche Überspitzungen kein Potential für Humor bieten können; jedoch werden diese hier ausschließlich auf Kosten weiblicher Klischees und Stereotypen gemacht. Wie schon zuvor erwähnt, bräuchte es hier einen Gegenpol – entweder eine andere Figur oder eben Fredenbek selbst, der auch die männliche Psyche als Kontrast „untersucht“. Doch dies passiert nicht. Im Gegenteil. Es folgt der eindrucksvolle Satz: „Bei Frauen spielt sich alles in der linken Gehirnhälfte ab, Männer haben auch eine rechte.“ (S. 35), der impliziert, dass Frauen eine geringere Gehirnleistung haben als Männer; etwas, das wissenschaftlich keineswegs korrekt ist. Dieser behauptete Unterschied ist jedoch ein wiederkehrendes Motiv z.B.: „Jetzt fragen Sie sich sicher: Woher weiß der das alles … ähm, dass zwischen so grundverschiedenen Dingen wie … Gehirn, Seele und Frau ein Zusammenhang besteht?“ (S. 35), hier wird impliziert, dass Frauen weder ein Gehirn noch eine Seele haben, da diese drei Parteien erst in einen Zusammenhang gebracht werden müssen; Analoges geschieht auch am Ende des Stückes, wenn er zwischen Menschen und seiner Frau differenziert (S. 48).

Diskriminierung
Des Weiteren möchten wir auf die in den Kommentaren an uns herangetragene Aufforderung eingehen, Fredenbek als eine Figur zu betrachten, deren moralisch verwerfliche Äußerungen erst den Charakter formen. Wir möchten darauf hinweisen, dass wir genau das in unserer Besprechung aufgegriffen haben. Zu keinem Zeitpunkt stempeln wir das Stück ab, sondern bieten Möglichkeiten einer Umsetzung auf der Bühne an. Wir bewerten den Text, der uns vorliegt; wir können eine Wertung nicht dahingehend auslegen, wie es werden könnte, wenn der dramaturgische Feinschliff vorgenommen wurde.

An welchen Stellen wäre eine Überarbeitung, in Form von Textänderungen oder dem eben bereits angesprochenen Hinzufügen einer weiteren Figur oder Kommentierens Fredenbeks unserer Auffassung nach erforderlich?
Bereits ausgeführt wurde von uns die Nutzung des Begriffs „Liliputaner“ (S. 20). Der Duden gibt einen besonderen Hinweis: „Die früher übliche Bezeichnung für kleinwüchsiger Mensch gilt heute weitgehend als diskriminierend und sollte nicht mehr verwendet werden.“ (Quelle: https://www.duden.de/rechtschreibung/Liliputaner) Wir empfinden die Szene mit der Überschwemmung durchaus als gelungene Komik, wenn es darum geht, die doch eher absurden Vorgaben des Gesetzes zu befolgen. Die Komik der Szene soll aber offensichtlich vorrangig auf Kosten von kleinwüchsigen MitbürgerInnen passieren, die dann auch noch diskriminiert werden. Es sollte ohne Diskriminierung funktionieren und dafür setzen wir uns ein. Selbiges gilt bei einer weiteren Szene, die Diskriminierung gegenüber körperlichen Behinderungen beinhaltet, die vermutlich für Lacher im Publikum sorgen soll: „Nehmen wir doch nur mal die Kommunikationsmöglichkeiten eines … sagen wir mal … Karl Dall. Die liegen auch nur geringfügig über denen von Goldfischen. Unter Ekstasegesichtspunkten sind sie ihm sogar überlegen. Dennoch hat er es zu etwas gebracht. […] Karl Dall als grüßender Steueroberamtsrat per Fahrrad, also umweltfreundlich, auf dem Weg zur Dienststelle. Darunter in großen Lettern: 'Können diese Augen lügen?'“ (S. 22f.)

Fredenbek präsentiert sich als belehrende Figur. Ob er Statistiken vorträgt oder die korrekte Anwendung von Grammatik und Rechtschreibung predigt. Genau diese Methoden hätten an Stellen zum Einsatz kommen müssen, wenn er selbst moralisch verwerfliche oder politisch inkorrekte Aussagen trifft. Beispielsweise hätte er darauf hinweisen können, dass die korrekte Bezeichnung auf Seite 22 „islamisch“ und nicht „islamistisch“ wäre.
Zusätzlich dazu sollte aus aktuellem Anlass noch einmal hervorgehoben werden, dass die Szene auf Seite 44f. keinerlei Komik unterliegt, die Weiterführung der Szene lässt aber darauf schließen, dass es komisch gemeint sein sollte. Das bedeutet nicht, dass wir das Thema aus der Kunst verbannen möchten - keinesfalls. Es geht uns nur darum, unmissverständlich klar zu machen, dass sensible Themen mit Bedacht inszeniert werden müssen.

Dass sich die Figur des Fredenbek diskriminierend gegenüber Menschen aus Italien äußert und sein Verhalten auch noch für richtig hält, haben wir ebenfalls schon angesprochen und Vorschläge gemacht, wie diese Szene auf der Bühne sensibel umgesetzt werden könnte. Doch derlei systematischer Rassismus steckt in einigen seiner Aussagen. Über einen Kollegen sagt er: „[E]in bissiger, furzender Pumuckl, der seine Bösartigkeit kaschiert, indem er eine samtrote 1001-Nacht-Pluderhose … und spitz zulaufende Schuhe trägt. Sie wissen schon, mit diesem runden Bommel an der Spitze. Ein orientalischer Aggressions-Muck.“ (S. 26) Auch hier wäre eine Fredenbek gegenüber gestellte Figur angebracht, um derartige Äußerungen zu hinterfragen.
Der Text präsentiert sich, wie wir schon ausführten, als Monolog, welcher dem Publikum sicher einiges an Konzentration abverlangt. Bleibt den ZuschauerInnen genügend Zeit, um diesen Gegenpol zu Fredenbek zu bilden und sämtliche politisch inkorrekten Aussagen, gedanklich einzuordnen und zu korrigieren? Kommt das Publikum überhaupt zu Wort? Eine weitere Figur könnte stellvertretend die Stimme des moralischen und feministischen Standpunktes des Publikums sein. Wenn keinerlei Änderungen oder Ergänzungen vorgenommen werden, würde dieser Text zu einem Theaterabend führen, der Diskriminierung, Sexismus und Rassismus das Wort erteilt.

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Veröffentlicht am 06.11.2020

Erfrischend andere Dystopie

Blue Sky Black. Ohne Dunkelheit keine Sterne
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Liebe Daisy,

heute möchte ich dir von Blue Sky Black von Johanna Danninger erzählen. Ich habe es jüngst auf Instagram entdeckt, wo es beworben wurde, da es eben erst (September 2020) bei Carlsen erschienen ...

Liebe Daisy,

heute möchte ich dir von Blue Sky Black von Johanna Danninger erzählen. Ich habe es jüngst auf Instagram entdeckt, wo es beworben wurde, da es eben erst (September 2020) bei Carlsen erschienen ist. Das Cover hat mich sofort in seinen Bann gezogen (gestaltet von Znaev/Kokarev/Banan/Peratek) und der Klappentext klang vielversprechend, so dass ich dem Buch unbedingt eine Chance geben wollte.

Die Protagonistin Mila lebt in einer von Naturkatastrophen geplagten Welt. Erdbeben, Tsunamis, Vulkanausbrüche – ein Unglück jagt das nächste und das Leben, wie sie es bisher kannte, findet mit einem Schlag ein jähes Ende. Sie flieht von ihrer Heimat in den USA nach Kanada, das zumindest halbwegs verschont geblieben ist. Und während sie dort um ihr Überleben kämpft, formt sich eine neue Weltordnung. Angeführt von einer Weltregierung. Mila nimmt diese und die Regeln des neuen Regimes nur am Rande wahr – bis eines Tages ein junger Mann in ihr Leben stolpert und sie dazu bringt, diese zu hinterfragen. Kann es sein, dass die Regierung die unglückselige Situation für ihre eigenen Ziele ausnützt?

Genre
Ich möchte meine Buchbesprechung mit der Frage nach dem Genre dieses Buches beginnen. Einer durchaus schwierigen Frage. In dem Buchladen meines Vertrauens war es bei den Jugendbüchern ab 12 einsortiert. Online wird es bei demselben Anbieter ab 16 Jahren empfohlen. Es scheine also nicht nur ich Schwierigkeiten zu haben, es einzuordnen. Wobei ich eine Empfehlung ab 12 Jahren durchaus vertretbar finde. Aber zurück zu der Frage nach dem Genre. Woher rühren die Schwierigkeiten es zuzuordnen?
Ich glaube, zu einem gewissen Teil kommen sie von den Assoziationen, die das Cover auslöst. Es erinnert sehr an zahlreiche romantisch-erotische New Adult Romane, die momentan groß im Trend liegen. Entsprechend hatte ich etwas Angst, dass die Handlung zugunsten eintöniger Bettgeschichten zu kurz kommen würde, wie es bei New Adult Romanen oft der Fall ist. Hier aber – zum Glück! – nicht. Es ist insofern ein New Adult Buch, als dass sich die ProtagonistInnen alle in ihren 20ern befinden und sich selbst und ihren Platz in der Welt zu finden versuchen. Liebe spielt eine Rolle, aber (für mich zumindest) keine so tragende, wie der Text auf der Rückseite des Buches: „Wenn die Hoffnung stirbt, dann kämpfe, um zu lieben.“ anmuten lässt.
Also, wie klassifiziert sich dieses Buch? Ich würde es als romantische Dystopie bezeichnen.

Klischee Dystopie?
Das Wort Dystopie wird vermutlich auch für dich direkt Assoziationen hervorrufen. Der Dystopien Trend, der mit Den Tributen von Panem (Suzanne Collins) 2008 begonnen und etwa 2012 seinen Höhepunkt gefeiert hat, ist nicht spurlos an uns vorbeigegangen. Die Klischees, die in fast jedem der unzähligen damals erschienenen Bücher vorkamen, sind uns noch immer bekannt: Eine scheinbar völlig durchschnittliche Protagonistin, die in einem unterdrückenden System lebt und dann auf einmal merkt, dass sie die Auserwählte ist, die die Gesellschaft von ihren UnterdrückerInnen befreien muss. Der Sturz des Systems im dritten Band der Trilogie. Nicht zu vergessen das obligatorische Liebesdreieck. All diese Bücher folgten unverkennbar diesem Schema. Doch wo reiht sich Blue Sky Black ein? Ich muss sagen, dass ich an dieser Stelle sehr positiv überrascht war. Gewisse Strukturen sind natürlich erhalten geblieben, sonst wäre es ein anderes Genre. Aber im Großen und Ganzen hat die Autorin hier etwas wunderbar Eigenständiges auf die Beine gestellt.

Erzählstil
Wesentlich war für mich hierfür der Erzählstil. Im Gegensatz zu vielen Dystopien, handelt es sich hier nicht um eine Erste-Person-Erzählung, die der Protagonistin folgt. Blue Sky Black ist in der dritten Person geschrieben und folgt den verschiedenen handelnden Figuren. Dadurch lernen wir verschiedene Standpunkte kennen und können diese, durch die externe Fokalisation, kritisch reflektieren.
Die Autorin schreibt in einem flüssig zu lesendem Stil, der auf blumige Beschreibungen verzichtet und sehr handlungsorientiert ist. Das unterstützt den dichten Plot, so dass sich die Spannung immer weiter aufbaut.

Die Figuren
Trotz der Erzählperspektive der dritten Person, hatte ich das Gefühl, dicht an den Figuren dran zu sein. Auch hier war wieder ein klarer Gegensatz zu denen aus Nullachtfünfzehn Dystopien zu erkennen: Es handelt sich um keine Stereotype, sondern um eigenständige Figuren. Ich hatte nicht das Gefühl, alles über sie zu wissen, aber es reichte, um mir ein Bild von ihnen, ihren Motivationen und Moralvorstellu zu machen. Wie allgemein in diesem Buch, hat die Autorin zugunsten des Plots auf einen Überfluss an Informationen über die Figuren verzichtet; ganz ähnlich wie Suzanne Collins das in Den Tributen von Panem getan hat.

Der Plot
Ich muss gestehen, dass ich den Plot nicht immer hundertprozentig schlüssig, beziehungsweise einige Entscheidungen nicht ganz nachvollziehbar fand. Aber diese Instanzen waren eher die Ausnahme als die Regel. Im Großen und Ganzen ist das Buch eine ausgesprochen runde Sache und die Welt, in der Mila lebt, wird schlüssig etabliert und im Folgenden auch, ganz ohne Hokuspokus, erklärt; nichts Selbstverständliches bei Dystopien. Auch nicht, dass das Ganze innerhalb eines Buches abgehandelt wird – das hat der Geschichte gutgetan.
Insbesonders spannend waren zudem die zeitgenössischen Corona Bezüge in diesem Buch. Keine Sorge, hier wurde nicht mit dem Holzhammer gearbeitet, aber immer wieder Dinge, wie ein gezüchteter Virus, ein Lockdown oder eine Figur, die das Reisen vermisst, eingeflochten. Somit konnte man direkt Bezüge zu den Problematiken der dargestellten Dystopie herstellen. Diese Parallelen zur realen Welt haben das Identifikationspotential gesteigert.

Zusammenfassend kann ich nur sagen, dass mich dieses Buch auf allen Ebenen positiv überrascht hat. Es ist eine schlüssige Dystopie, die mich von Anfang an in ihren Bann gezogen hat. Falls du also ein Fan von der Mazer Runner Reihe (James Dashner), Uglies (Scott Westfield) und Den Tributen von Panem (Suzanne Collins) bist – das hier ist eine topaktuelle Mischung, die das Beste aus den drei Trilogien in einem kompakten Einzelband verbindet.

Deine Daffy

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Veröffentlicht am 24.08.2020

Sagenhaftes Jugendbuch

An Nachteule von Sternhai
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Liebe Daisy,

heute melde ich mich zu einem der großartigsten Jugendbücher für 10–12-jährige, das ich jemals gelesen habe: An Nachteule von Sternhai (Orig. To Night Owl, From Dogfish) von Holly Goldberg ...

Liebe Daisy,

heute melde ich mich zu einem der großartigsten Jugendbücher für 10–12-jährige, das ich jemals gelesen habe: An Nachteule von Sternhai (Orig. To Night Owl, From Dogfish) von Holly Goldberg Sloan und Meg Wolitzer, dessen deutsche Übersetzung von Sophie Zeitz 2019 im Hanser Verlag erschienen ist.

Um etwas auszuholen: Ich weiß nicht, ob du Gut Gegen Nordwind von Daniel Glattauer kennst, aber ich habe es vor Jahren gelesen und mich in den Stil verliebt, einen Roman durch E-Mails zu erzählen. Genauso ist An Nachteule von Sternenhai aufgebaut. Durch verschiedene E-Mails, Briefe und Textnachrichten entfaltet sich die Geschichte von den beiden zwölfjährigen Avery und Bett. Doch was bringt diese beiden Mädchen, die an verschiedenen Enden der U.S.A. leben und unterschiedlicher nicht sein könnten, eigentlich zusammen? Ihre Väter. Bis dato alleinerziehend, haben sie sich bei ihrem ersten Treffen prompt in einander verliebt. Eine Partnerschaft der beiden würde Avery und Bett zu Stiefschwestern machen. Aber eine Patchworkfamilie ist etwas, das sie ganz und gar nicht wollen. Also nehmen die beiden heimlich Kontakt auf, um das Vorhaben zu sabotieren. Doch wie so oft, läuft nicht alles wie geplant und ihr E–Mail Austausch wird immer reger, bis sie eines Tages feststellen, dass sie vielleicht doch, ganz ohne es zu wissen, beste Freundinnen geworden sind.

Die beiden Autorinnen schaffen hier eine ungeheuer sympathische Geschichte, die sich trotz der Medien, durch die sie erzählt wird, sehr unmittelbar anfühlt. Oder vielleicht gerade deshalb? Weil es sich so anfühlt, als dürfte man hier private E-Mails von tatsächlichen Menschen lesen. Allen voran punkteten hier für mich die vielen kleinen alltäglichen Bemerkungen, die ihren Platz in den Mails von Bett und Avery gefunden haben. Von ersten Erfahrungen mit der Pubertät, bis hin zu der Frage, ob Vögel gackern müssen, damit ihre Eier genießbar sind. Diese scheinbar willkürlichen Gedanken haben der Geschichte einen ungeheuren Charme und eine fantastische Leichtigkeit verliehen. Obwohl im Laufe des Romans durchaus ernste Themen wie Freundschaft und Familie behandelt werden, war An Nachteule von Sternenhai somit ein absolutes Wohlfühlbuch für mich.

Besonders gut gefallen hat mir zudem, dass verschiedenste Altersgruppen vertreten sind. Nicht nur den beiden werdenden Teenager, sondern auch der Eltern- und Großelterngeneration kommt eine tragende Rolle zu. Dadurch, dass die Figuren an so unterschiedlichen Punkten ihres Lebens stehen, werden verschiedenste Problematiken aufgemacht und Standpunkte beleuchtet. Das Buch fühlt sich somit ganzheitlich an und wirkt authentisch. Dieser Eindruck wird durch die vielschichten Figuren gestützt. Diese fühlen sich nicht stereotypisch an, sondern haben alle ihre Ecken und Kanten. Diese Eigenheiten sind es, was sie lebendig werden lässt.

An Nachteule von Sternenhai ist zudem ein hervorragendes Beispiel für Repräsentation: Verschiedene Religionen, Ethnizitäten, sexuelle Ausrichtungen, psychische Krankheiten und Familienstrukturen finden alle ihren Platz in der Geschichte. Nicht zu vergessen, verschiedenste Entscheidungen das eigene Leben zu leben, die nicht unbedingt der Norm entsprechen. Auch Vorurteile werden thematisiert. Aber im Gegensatz zu vielen anderen Büchern handelt es sich hier nicht um eine Idealisierung, bei der am Schluss Friede-Freude-Eierkuchen ist. Es ist wie das Leben: nicht perfekt, aber gespickt mit Momenten, die Hoffnung geben. Verpackt in die charmante Erzählform, lässt einen dieses Buch nachdenklich, aber wie in eine dicke Wolldecke gewickelt, mit einem wohligen Gefühl zurück.

An Nachteule von Sternhai ist für mich ein durch und durch stimmiges Buch, das ich Leserinnen und Lesern ab 10 Jahren wärmstens ans Herz legen würde. Schrecke aber bitte bloß nicht davor zurück, falls du älter sein solltest – in diesem Roman ist wirklich für jedes Alter was dabei.
Wahrhaftig ein Buch, das mein Herz hat klingen lassen.
Deine Daffy

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Veröffentlicht am 12.07.2020

Solides Jugendbuch mit einigen Schwächen

Royal Horses (1). Kronenherz
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Liebe Daisy,
ich hatte es schon angedeutet und diese Rezension bestätigt es noch einmal offiziell: Ich bin schwach geworden und habe mir Kronenherz von Jana Hoch, das 2020 beim Arena Verlag erschienen ...

Liebe Daisy,
ich hatte es schon angedeutet und diese Rezension bestätigt es noch einmal offiziell: Ich bin schwach geworden und habe mir Kronenherz von Jana Hoch, das 2020 beim Arena Verlag erschienen ist, geholt. Ich weiß, ich weiß, ich hatte mir vorgenommen, erst mal keine neuen Bücher zu kaufen. Aber die Geschichte klang wie ein modernes Märchen und das Cover ist einfach traumhaft schön.

Inhalt
Die Geschichte folgt Greta, die bei ihrem Bruder in London lebt. Nach einem Zwischenfall entscheidet sie sich, ein Sommerpraktikum auf dem königlichen Gestüt Caverley Green zu machen. Sie hat zwar keinerlei Erfahrung mit Pferden, möchte aber um jeden Preis Abstand zu London gewinnen. Doch auch dort kommt sie nicht zur Ruhe: Ihre Vergangenheit beschäftigt sie zu sehr. Zu allem Übel hat es einer ihrer Kollegen darauf abgesehen, ihr Geheimnis zu lüften – kein Wunder also, dass sich die beiden regelmäßig in die Haare kriegen. Wenn dann auch noch das Herz verrückt spielt, ist Drama vorprogrammiert.

Du merkst es schon: Kronenherz ist ein Jugendbuch. Das erwähne ich deshalb so explizit, weil das Cover anmuten lässt, dass es sich um ein Kinderbuch handelt: Die zwei stilisierten Menschen darauf sind eindeutig Kinder. Tatsächlich ist die Protagonistin jedoch ein Teenager. Daran ist absolut nichts Verwerfliches; auch im Genre der Jugendbücher klang die Prämisse vielversprechend und nach einem wunderbaren Sommerbuch. Ich muss jedoch sagen, dass ich einige Probleme damit hatte, die ich im Folgenden gerne genauer beleuchten würde. Ich bemühe mich, die Rezension spoilerfrei zu halten und werde die zwei Unterpunkte, die es nicht sind, markieren, damit du sie überspringen kannst, wenn du das Buch noch nicht gelesen hast.

Figuren
Ich möchte gerne mit einem meiner Hauptkritikpunkte anfangen: dem Verhalten von Gretas Kollegen Edward. Ich behaupte nicht, dass er eine platte Figur ist; er hat einige Facetten und funktioniert in vielerlei Hinsicht. Nichtsdestotrotz ist sein Verhalten gegenüber Greta im ersten Drittel völlig untragbar. Sein Verhalten bei ihrer ersten Begegnung kann man auf die äußeren Umstände schieben, aber sobald Greta auf dem Gestüt angekommen ist, gilt diese Ausrede einfach nicht mehr. Als Beispiel möchte ich die Situation auf S. 27 erwähnen, in der er sich völlig respektlos und übergriffig verhält: „[…] versperrte Edward mir den Weg mit seinem Körper. Ich zuckte zusammen, als er die flache Hand blitzschnell neben mir an die Wand legte. […] Ich wollte zurückweichen, doch Edward griff nach meinem Arm.“ In der folgenden Auseinandersetzung behandelt er Greta extrem bevormundend und urteilt anhand ihres Äußeren über sie (S. 28f.) – er macht ihr Vorwürfe und behandelt sie als Bedrohung, obwohl es keinen glaubwürdigen Anlass dafür gibt. Somit ist sein Verhalten ihr gegenüber nicht nur respektlos, sondern wirkt auch überzogen und unglaubwürdig: er verhält sich wie ein bockiges kleines Kind.
Dieses Verhalten zieht sich leider durch große Teile des Buches. Etwa auf S. 85, wenn er wegen eines flapsigen Kommentares von Greta völlig ausflippt. Der Kommentar selbst ist zwar unglücklich formuliert, aber faktisch nachvollziehbar – somit würde man meinen, dass Edward mit etwas Zeit zum Nachdenken zur Vernunft kommt. Falsch gedacht. Diese Aussage ist der Auslöser für einen kapitellangen Konflikt. Allgemein macht Edward öfter aus Mücken Elefanten. Er scheint auch nicht sonderlich reflektiert zu sein, sondern brüllt mit Anschuldigungen um sich, wobei sein Verhalten Greta gegenüber weiterhin respektlos bleibt, etwa auf S. 144, auf der er so tut als wäre sie nicht anwesend und (unnachvollziehbar) schlecht über sie redet. Wenn er dann doch direkt mit ihr redet, stellt er (falsche) Mutmaßungen auf z.B.: „Ich weiß, dass dein Leben in London ein kleines, wildes Abenteuer ohne Regeln ist […]“ (S. 150). Er ist allgemein sehr schnell darin, sich auf Grund sehr weniger Informationen ein Bild von Greta zu bilden und dieses nicht infrage zu stellen, bis er dazu gezwungen wird. Ab diesem Punkt bessert sich sein Verhalten etwas. Und ich verstehe auch, dass die Autorin eine Figurenentwicklung zeigen wollte, aber ich frage mich, ob das nicht respektvoller – und tatsächlich auch glaubwürdiger – gegangen wäre. Dieses grundlos gemeine Verhalten hat mir leider wirklich die Freude am Lesen genommen. Und es gab auch nach seiner Einsicht Momente, in denen ich nur den Kopf über diese Figur schütteln konnte, etwa wenn Edward extrem rechthaberisch darüber spricht, dass er ja angekündigt hatte, ihr Geheimnis herauszubekommen (S. 170). Es macht ihn leider nicht sympathisch, dass er die Grenze, die Greta aufgestellt hat, nicht respektiert.

Nun zu Greta. Wie schon aufgeführt, wird sie ungerecht behandelt. Ich weiß, sie ist ein Teenager und entsprechend noch nicht so selbstsicher, wie eine gestandene Frau es vielleicht wäre. Aber ich fand es dennoch schade, dass sie so selten für sich eingestanden ist. Etwa, wenn Edward ihr, wie bereits erwähnt alle möglichen Anschuldigungen an den Kopf knallt (S. 150f.) und sie diese nicht widerlegt, obwohl er ganz klar falsch liegt. Ich muss auch sagen, dass ich sie als sehr gefühlsgeleitet und oftmals überemotional wahrgenommen habe; wobei das für Teennager natürlich keine gänzlich unüblichen Verhaltensweisen sind.
Was ich schade fand, war, dass man als Leserin wenig über Greta erfahren hat. Beziehungsweise, dass beim Lesen viele Fragen offengeblieben sind. Etwa warum ihre Eltern so oft umziehen müssen. Oder welche Sprache überhaupt ihre Muttersprache ist bzw. welche Sprachen sie überhaupt spricht. Und warum sie so wenig Kontakt zu ihrer Familie hat. Ist das Verhältnis schlecht oder wollte die Autorin die Figur von jeglichen Autoritätsfiguren isolieren?

Rollenbilder
Ich muss leider sagen, dass ich auch ein maßgebliches Problem mit der Darstellung der Geschlechter hatte. Wie schon gesagt, verhält sich Edward der Protagonistin gegenüber wiederholt respektlos. Er wird dafür nie zur Rede gestellt. Doch es endet leider nicht bei dieser Figur, auch ihr Kollege Sixton zeigt ähnliche Verhaltensmuster: Er macht sich etwa einen Spaß daraus Greta und seine Schwester Joan aufzuziehen (S. 67) und Greta mit einer leeren Plastikflasche zu schlagen (S. 96). Ich finde es auffällig, dass im Laufe des Buches ausnahmslos den Männern eine Machtposition eingeräumt wird.
Ganz ungut fand ich auch eine Auseinandersetzung zwischen den Figuren des Liebesdreiecks (natürlich gibt es eins, was hast du denn erwartet?): Hierbei messen sich die beiden männlichen Figuren, während über Greta gesprochen wird, als wäre sie ihr Spielball (S. 212). Ich denke, ein Zitat von S. 159 fasst die Einstellung der männlichen Figuren gegenüber der weiblichen ganz gut zusammen. Hier beschreibt Edward eines der größten Probleme, das er in Greta sieht: „Sie ist zu clever […]“.

Edward, Alice, James…
Etwas, was mir wiederholt durch den Kopf geschossen ist, als ich diesen Roman gelesen habe, sind die Parallelen zu Twilight von Stephenie Meyer und ich konnte nicht umhin, mich zu fragen, ob es sich hierbei um eine ehemalige Twilight Fanfiction handelt. Das offensichtlichste Merkmal sind wohl die Namen, doch auch die Figuren wiesen sehr klare Parallelen zu denen aus der Bis(s) Serie auf. Edwards bevormundendes, ablehnendes Verhalten, Greta/Bellas Unsicherheit und Selbstzweifel, Joans/Alices flippige Art, der bärenhafte Sixton/Emmett, die hochnäsige, aber wunderschöne Brina/Rosalie, Yorkick/Carlisle als liebenswerter Ziehvater, James/Jacob als Gegenspieler für Edward, der eigentlich viel netter zu Greta/Bella ist… du merkst schon: sobald ich den Gedanken einmal gehabt habe, drängten sich mir die Parallelen förmlich auch. Ebenso bei der Figurenentwicklung. Edwards erst grundlos ablehnendes und gemeines Verhalten, bis er dann plötzlich zum liebenswürdigen Schoßhund wird und alles auf eine romantische Ballszene in einem Pavillon hinausläuft… Ich kann doch nicht alleine mit dieser Assoziation sein? [Spoiler Ende]

Authentizität
Wie schon ausgeführt, fand ich Edwards Verhalten leider mehrfach unglaubwürdig. Es gab zudem einige andere Sequenzen, die mich stutzig gemacht haben, etwa dass Figuren so schusselig sind, Bücher versehentlich in Töpfen zu platzieren (S. 82); ein schönes Bild, aber ob das wirklich so passiert? Oder Greta, die tagelang in „viel zu großen“ (S. 113) Gummistiefeln herumläuft – sowas gibt doch Blasen? Über die Authentizität in Bezug auf den Umgang mit den Pferden kann ich mich leider nicht äußern, weil mir die Expertise fehlt, aber im Bezug auf den Zwischenfall, der Greta dazu gebracht hat, London zu verlassen, schon.
Die Darstellung von diesem Vorfall ist leider denkbar ungeschickt umgesetzt. An sich ist es glaubwürdig, dass so eine Situation passieren gehen könnte. Worin ich allerdings ein Problem sehe, ist Folgendes: Es gibt ein Video von der Mutprobe, bei der Greta mit ihrer besten Freundin und deren Freund im Auto der Eltern der besten Freundin durch London gefahren ist. Der Freund saß am Steuer und ist suizidal durch die Stadt gerast; sie saß hinten und hat Panik bekommen, was er gefilmt hat. Es ist ihr nun peinlich, dass dieses Video existiert. So peinlich, dass sie aus London geflüchtet ist.
Ich verstehe, dass das eine traumatische Ausnahmesituation war und die Emotionen überhandnehmen; ich verstehe auch, dass man Abstand von der Person, die einen in diese Situation gebracht hat, bekommen möchte; ich verstehe sogar die Schuldgefühle – nicht selten haben Opfer diese. Was ich nicht verstehe ist, dass an keiner Stelle thematisiert wird, dass sie keine Schuld an der lebensgefährlichen Situation, in die sie geraten ist, trägt. Das finde ich unverantwortlich. Sie mag die Freundin überredet haben, die Schlüssel zu klauen, aber es war die Freundin, die es durchgeführt hat. Und am Steuer saß der Freund, nicht sie. Er war verantwortlich. Ja, es hätte negative Schlagzeilen gegeben, wäre das Video publiziert worden, aber auch hier gilt: es wäre nicht sie gewesen, die daran Schuld gehabt hätte. Mal abgesehen davon, dass ich es hoch verwunderlich finde, dass das Handy, was der Freund in der Hand hatte, als der Unfall passierte, diesen überstanden hat – die Fliehkraft müsste ihm dieses aus der Hand gerissen haben und wenn man bedenkt, wie wenig Handys aushalten… Zurück zum Thema: Gretas größte Sorge im Bezug auf den Unfall ist, wie sie auf diesem Video wirkt. Sie sieht sich selbst in einem denkbar schlechten Licht, wenn sie darüber nachdenkt: „Mich. Ausgeliefert. Schutzlos. Panisch … Gebrochen.“ (S. 168) – wie gesagt: es war eine traumatische Erfahrung, nicht unwahrscheinlich, dass sie an einer PTBS leidet, aber es wäre notwendig gewesen, zu thematisieren, dass ihr Verhalten in der Situation, nämlich zu sagen: „Verdammter Idiot, guck nach vorne. Willst du uns alle umbringen […] Ich will aussteigen. Halt an, Eth!“ (S. 162) genau das richtige war. Dass es kein Zeichen von Schwäche ist zu sagen: „Bis hier hin und nicht weiter. Das ist meine Grenze.“ – hier hätte es dann doch eine Autoritätsperson gebraucht, die sich kümmert und nicht einen gleichaltrigen männlichen Gegenspieler, der ihr Selbstwertgefühl bloß weiter mindert.
[Spoiler Ende]

Schreibstil
Zuletzt möchte ich noch auf den Schreibstil eingehen, der allgemein leicht und flüssig zu lesen war. Entsprechend werden auch eher unerfahrenere LeserInnen Freude an dem Buch haben. Es handelt sich um eine Narration in der ersten Person, somit erleben wir die Geschehnisse gemeinsam mit der Protagonistin Greta. Wobei der Eindruck an einzelnen Stellen gebrochen wurde, wenn die Autorin Dinge beschrieben hat, die Greta so nicht wahrnehmen konnte; etwa wenn sie zum ersten Mal auf dem Gestüt ankommt, in einem Auto, das durch den strömenden Regen fährt, und dabei Dinge beschreibt, die sich auf der Rückseite des Hauses, das sie sieht, befinden (S. 24). Leider waren die Beschreibungen in dieser Situation, aber auch an anderen Stellen des Buches, nicht besonders gut mit der Narration verflochten, so dass sich ganze Textblöcke an reinen Beschreibungen fanden; ich würde mir mehr „show, don’t tell“ wünschen.
Ich sprach davon, dass auch jüngere LeserInnen sprachlich gut durch das Buch kommen werden; ich möchte jedoch erwähnen, dass häufig ¬– meines Erachtens nach unnötig – geflucht wird. Somit stellt sich mir die Frage, ab welchem Alter das Buch wirklich zu empfehlen ist; zu alt sollten LeserInnen jedoch auch nicht sein, da es für mich als erfahrene Leserin extrem vorhersehbar war; einer der großen Knackpunkte des Finales war für mich etwa bereits im ersten Kapitel ersichtlich. Auch die Analogien, die die Autorin verwendet hat, die mir an sich gut gefallen haben, waren teilweise ein sehr eindeutiger Wink mit dem Zaunpfahl (z.B.: S. 115) – das ist vollkommen legitim; ich möchte nur erwähnen, dass subtile Hinweise nicht die Stärke dieses Buches sind. Auch fanden sich einige Motive mehrfach, z.B.: dass Greta lauscht, um an Information zu kommen – hier wäre etwas Abwechslung wünschenswert gewesen. Der Vollständigkeit halber möchte ich zudem erwähnen, dass sich einige kleine Grammatikfehler (z.B.: „Es hatte etwas Friedliches, beinahe schon romantisch.“ (S. 193)/ „Ein letzte bescheuerte Rebellion“ (S. 304)) eingeschlichen haben.
Es gab jedoch auch charmante Szenen und Momente, in denen die Figuren respektvoll miteinander umgegangen sind und Situationen die Chance hatten, sich zu entfalten (z.B.: S. 112 und S.133); das waren auch die Situationen, in denen Greta nicht in Selbstzweifel/-mitleid vergangen ist, sondern aufgeschlossen auf die jeweilige Situation reagiert hat. Davon gerne mehr!

Du merkst, ich stehe dem Buch sehr zwiespältig gegenüber. Das erste Drittel ist voller Post ist (um Stellen zu markieren, zu denen ich mich zu Wort melden wollte) und hätte von mir vermutlich bestenfalls zwei Sterne bekommen. Danach wurde es zum Glück authentischer und auch weniger schwierig mit meinen Wertvorstellungen zu vereinbaren. Ich hoffe, dass das zweite Buch in der Trilogie sich an den letzten zwei Drittel dieses Buches orientieren wird, dann wird es nämlich ein locker flockiges Jugendbuch, das ich gerne lesen möchte. Ich halte dich auf dem Laufenden.

Deine Daffy

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