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Veröffentlicht am 17.03.2021

Messerscharf erzählt

Kindheit
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Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die ...

Kindheit ist der erste Band von Tove Ditlevsens Kopenhagen-Trilogie, die im Original 1967/71 erschienen ist. Die Autorin lässt uns teilhaben an ihren ersten Lebensjahren als Kleinkind bis zur Konfirmation.

Die Autorin erzählt nüchtern, gleichzeitig messerscharf von ihrer Kindheit in den 1920ern im Arbeiterviertel von Kopenhagen, der Vater arbeitsloser Heizer, die Mutter Hausfrau. Tove’s Mutter scheint unzufrieden mit ihrem gewählten Schicksal, einzige Lichtblicke für sie sind Kaffeekränzchen mit Ihren Freundinnen oder Verwandten. In meiner Wahrnehmung hat sie wohl unterm Stand geheiratet. Für Tove, die wie der Rest des mütterlichen Lebens eine Enttäuschung zu sein scheint, kann sie wenig Zuneigung aufbringen. Lieber nutzt sie das Kind für unliebsame Botengänge aus. Der Vater ist überfordert, sich mit Tove zu beschäftigen, weil sie ein Mädchen ist und Mädchen die Sache der Mütter sind.

Dabei ist Tove ihrer Zeit, die von Armut und Hunger geprägt ist, mit ihrem Interesse für Bücher und Lyrik weit voraus und hätte Förderung verdient. Obwohl ihr diese verwehrt bleibt, lässt sich Tove von ihrem Traum, Schriftstellerin zu werden, nicht abbringen. Immer wieder schreibt sie Gedichte über Sehnsucht und Liebe in ihr Poesiealbum. Für uns Leser*innen sind diese kleinen Highlights an passender Stelle im Roman eingeflochten.

Mit der Übersetzung dieser Trilogie erreicht die Leserschaft ein Zeitzeugenbericht, der klar und ohne Gefühlsduselei dokumentiert, wie entbehrungsreich und schwer erträglich das Leben zwischen den Weltkriegen für die einfachen Leute war. Ich war schockiert, dass schon das Kind Tove an den Tod als etwas Liebliches bzw. Erlösenden gedacht hat.

Auch wenn ich durch den dokumentierenden Stil nicht ganz nah an die Figuren herankam, hat mir der Roman gut gefallen. Ich bin fasziniert, dass die Autorin mit relativ wenigen Worten ihre Erinnerungen an die Kindheit auf den Punkt bringt.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus. Ich selbst werde auch die beiden weiteren Bände lesen.

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Nicht sterben vs. sich nicht unterkriegen lassen

Die nicht sterben
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Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot ...

Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot nennt, viele schöne Momente erlebt hat. Dort möchte sie Inspiration finden und in ihren Beruf als Malerin starten. Doch die Erinnerung an das schöne naturverbundene Leben in der Walachei erscheint ihr zunehmend verklärt. Wo ist die überschwängliche Unbeschwertheit von damals hin, als Mamargot jeden Sommer mit umfangreichem Hausstand in die Villa, ihr Feriendomizil, einzog und jeweils sämtlichen Kommunismus-Kitsch in den Keller verbannen lies?

Im postkommunistischen Zeitalter haben die sommerlichen Festivitäten und intellektuellen Zirkel mit ihren Lateiner-Sprüchen den früheren Charme verloren. Offensichtlich sind nur noch Alte vor Ort. Deren jüngere Anverwandten leben im Ausland und genießen das Leben, das ihnen ihr eigenes herunter gekommenes Land nicht bieten kann. Die Dagebliebenen haben mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen, müssen sich bei einer neuen korrupten, alles an sich reißenden Elite anbiedern. Diese Unzulänglichkeiten im eigenen Land lassen die Protagonistin in eine Art depressive Antriebslosigkeit versinken, wo ihr allerlei krude Gedanken durch den Kopf schießen, unter anderem auch eine gewisse Sehnsucht nach einer starken, Ordnung schaffenden Hand.

Im Rahmen dieser Gedankenspiele übergibt Dana Grigorcea in voluminöser, extrem bildhafter Sprache die Probleme des gegenwärtigen Rumänien der historischen Figur Vlad III, Woiwode des Fürstentums Walachei, als strengem Richter. Der Unsterbliche soll jegliches Unrecht sühnen. Für mich war es eine mystische, zeitweise etwas gruselige Verwünschung der Korrupten und Habgierigen, gedanklich ausgelebt von unserer Hauptfigur als wollte sie ihnen entgegenrufen: „Soll dich doch Der Sohn des Drachen - der grausame Vlad - holen!“

Dana Grigorcea erzählt in einem stark malerischen Stil, zeichnet Orte, Stimmungen, Düfte sowie die Personen so präzise als würde man sich als Leser*in mitten im Geschehen befinden. Verstärkt wird diese Wirkung durch ihre direkte Ansprache der Leserschaft. So konnte ich nicht umhin, die gastfreundliche Mamargot in ihrem Überschwang ebenfalls zu mögen. Ich konnte sogar die Entwicklung des Woiwoden zum grausamen Herrscher nachvollziehen. Den historischen Ausflug der Autorin hierzu mochte ich sehr.

Insgesamt war ich angetan von der geschickten Verschränkung von Gesellschaftskritik und gruseliger Woiwodenrache, eine Erzählung, die es so im Mainstream nicht gibt. Das kreativ Neue daran hat mir Vergnügen bereitet.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 17.03.2021

Undurchdringlich für mich

Die Fremde
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In ihrem autofiktionalen Roman erzählt uns Claudia Durastanti von sich und ihrer Familie. Dreh- und Angelpunkt der Fremden sind die gehörlosen Eltern, doch die Geschichte beginnt schon viel früher mit ...

In ihrem autofiktionalen Roman erzählt uns Claudia Durastanti von sich und ihrer Familie. Dreh- und Angelpunkt der Fremden sind die gehörlosen Eltern, doch die Geschichte beginnt schon viel früher mit den provinziell geprägten Großeltern, die in Teilen recht überfordert mit der körperlichen Einschränkung ihrer Kinder sind. So lernen die Eltern der Protagonistin lediglich ein eingeschränkt normales Familienleben kennen, aus dem folgerichtig die unstete Familiensituation der Protagonistin resultiert.

In einer recht sprunghaften Erzählweise versucht die Autorin die Ursache-Wirkungs-Ketten, die ihr Leben und Fühlen beeinflusst haben, den Leser*innen transparent zu machen. Wie lernt ein Kind das Sprechen, wenn die Eltern gehörlos und damit im Sprechen mindestens stark eingeschränkt sind? Was bedeutet es für so ein Kind, in ein Land mit anderer Sprache umzuziehen? Wie kann ein Kind Selbstbewusstsein entwickeln, wenn die Eltern, das was sie besonders macht, verstecken? Wie soll ein Kind Gefühle einordnen, wenn Eltern diese weder vorleben noch mit eigenen Worten erklären können? Daraus ergibt sich ein grundsätzlich interessanter Lesestoff, durch den ich als nicht Betroffene andere Lebenswirklichkeiten kennen lernen kann.

Zugegebenermaßen ist diese Autofiktion außergewöhnlich, weil für Außenstehende eigentlich unbegreiflich. Nachvollziehbar ist die Fixierung der Protagonistin auf Literatur, Film und Fernsehen, sowie Musik. Nur hier erfährt sie unverfälschte Sprache, je nach Genre auch sehr schöne Sprache. Da ihre Familie allerdings nicht nur sprachlich, sondern durch die zerrütteten Verhältnisse auch emotional eingeschränkt ist, fehlt der Protagonistin diesbezüglich Orientierung. Dahingehend eine Wahrheit medial auszumachen, finde ich extrem schwierig. So bleibt sie letztlich irgendwie verloren. Die im Klappentext angekündigten, euphorischen Geschichten einer wilden italoamerikanischen Familie in den Sechzigern bis ins gegenwärtige London konnte ich leider nicht erkennen. In meiner Wahrnehmung durchzog den Roman eine eher depressive Stimmung, versöhnlich wurde es erst zum Ende hin.

Die wechselhafte Art der Aufbereitung mit Gedankensprüngen zwischen diversen Zeitebenen, Erlebnissen, Personenkreisen und Orten machte es mir schwer, Freude beim Lesen zu empfinden. Ich konnte das dominierende Thema des Romans, fremd zu sein, spüren, hatte aber Mühe, mich zum Weiterlesen zu motivieren. Zudem war es zunehmend anstrengend, mich mit den gefühlt unendlichen Anspielungen auf Filme und Songtexte auseinanderzusetzen. Das war mir einfach zu viel, wirkte auf mich überladen.

Ich kann leider keine Leseempfehlung aussprechen.

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Veröffentlicht am 07.03.2021

Rührendes Jugend-Abenteuer

Der große Sommer
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Friedrich, gern auch Frieder genannt, ist ein ganz normaler 16-Jähriger mit schulischen Problemen. Da er durchzufallen droht, soll er die Sommerferien beim Großvater verbringen und nicht mit der Familie ...

Friedrich, gern auch Frieder genannt, ist ein ganz normaler 16-Jähriger mit schulischen Problemen. Da er durchzufallen droht, soll er die Sommerferien beim Großvater verbringen und nicht mit der Familie in den Urlaub fahren. Der Großvater, ein Gelehrter, stocksteif, stets diszipliniert, sich an Regeln haltend. Entsprechend groß ist Frieders Vorfreude. Glücklicherweise ist noch die Oma da.

Doch auch der Großvater ist kein Unmensch, vormittags soll Frieder lernen, nachmittags hat er frei. Sogar einen Ferienjob zum Aufbessern seines Taschengeldes bietet der Großvater seinem Enkel an. So verbringt Frieder noch ganz viel Zeit mit seiner ebenfalls zu Hause gebliebenen Schwester Alma, seinem besten Freund Johann und mit Beate, die ihm seit der Mutprobe im Schwimmbad nicht mehr aus dem Kopf geht.

Der Autor zeichnet ein interessantes Beziehungsgeflecht innerhalb der Clique, stattet die Charaktere mit einer differenzierten Basiskonstitution in Sprachgebrauch und Emotionalität aus. Gleichzeitig müssen sich alle Vier mit ihrer jeweils anders unperfekten Vaterfigur auseinandersetzen. Alma habe ich eher als Friedrichs beste Freundin wahrgenommen, denn als Schwester. Die beiden sind ein Herz und eine Seele, von außen betrachtet wirken sie eher als Pärchen. Johann ist für mich so eine Art Impulsgeber für allerlei, nicht immer legale Abenteuer, die die Freunde auf dem Weg ins Erwachsenwerden erleben. Dabei ist er nicht unbedingt der Ideengeber, sondern mehr der Treiber, dass sie ihre Vorhaben tatsächlich umsetzen. So gehen die Freunde manches Risiko ein, testen Grenzen aus. Beate ist Frieders erste Liebe. Sie hat ihn im Schwimmbad dermaßen beeindruckt, dass er sie unbedingt näher kennen lernen muss. Natürlich ist diese erste Annäherung an das andere Geschlecht mit Stolpersteinen gespickt.

„Der große Sommer“ war eine ganz wunderbare Geschichte für mich. Die Beschreibung des Erwachsenwerdens hat mich stark an meine eigene Zeit mit 16 erinnert. Jedes Ziel war mit dem Fahrrad erreichbar, das Leben fand draußen statt. Auch der Zeitgeist der frühen Achtzigerjahre ist sehr schön eingefangen. Der (ängstliche) Respekt gegenüber Erwachsenen, insbesondere gegenüber den Männern beispielsweise, ist so heute nicht mehr üblich. Das Rauchen wie Essen und Trinken kennen wir auch fast schon nicht mehr. Dazu Ewald Arenz‘ zeitgemäße Sprache gespickt mit damals gebräuchlichen Sprüchen.

So wird aus dieser Geschichte mit Tiefgang auch ein Lese-Erlebnis, das einen Auflachen lässt. Ich genoss diesen Roman meist schmunzelnd über die Unbedarftheiten der Jugendlichen. Hier empfand ich manches Vorhersehbares als überhaupt nicht störend, weil aus der Brille des Erwachsenen natürlich klar ist, was schiefgehen kann. Da wäre es enttäuschend und unglaubwürdig, wenn es dann nicht so wäre. Zeitweise ging mir „Der große Sommer“ aber auch mächtig ans Herz. Gerade so konnte ich, sich anbahnende Tränen zurück drängen.

Eine tolle Geschichte, die ich gern weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 07.03.2021

Mehr Gesamteindruck als Handlung

Die Erfindung der Welt
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Der neue Roman von Thomas Sautner war für mich interessant, weil er sich mit dem Schreiben eines Romans beschäftigt, quasi die Entstehung eines Romans innerhalb des Romans, eine Gleichzeitigkeit von Werden ...

Der neue Roman von Thomas Sautner war für mich interessant, weil er sich mit dem Schreiben eines Romans beschäftigt, quasi die Entstehung eines Romans innerhalb des Romans, eine Gleichzeitigkeit von Werden und Sein. Wenn man sich diesen philosophischen Ansatz bewusst macht, kann man ahnen, in welche Richtung das Lesen geht.

Die Aufgabe des Romanschreibens fällt Aliza Berg zu. Sie soll, beauftragt von einem geheimnisvollen G., mit frischem Blick und unvoreingenommen vom Leben erzählen, es regelrecht neu entdecken. Dazu begibt sie sich selbst mitten ins Setting ihrer Auftragsarbeit. Aliza begegnet den Einwohnern, die meinem Empfinden nach alle irgendwie besonders sind. Es beginnt mit den Hoteliers, die einem Heimatfilm entsprungen scheinen, geht über den Trafikanten und die vor Ort residierende Adelsfamilie, wird schließlich vervollständigt durch jeweils eine männliche und eine weibliche mitten im Wald lebende Einzelperson.

Die Romanentstehung beschreibt der Autor in Episoden. Darin widmet er sich unterschiedlichen Themengebieten bzw. Aspekten. Durch den veränderten Fokus betrachtet er die Akteure aus verschiedenen Perspektiven. Es ist weniger eine Handlung, die sich beim Lesen erschließt, sondern mehr ein Gesamteindruck. Ein Zitat aus dem Roman fasst perfekt zusammen, wie ich ebendiesen bezüglich seiner Handlung empfinde. „Die Figuren taten, was sie wollten, und nicht, was die schriftstellerische Dramaturgie erforderte. Die Handlungsstränge entrollten sich unkontrolliert, der Roman lief führungslos durch Zeiten und Räume.“ (S. 356)

Zudem lässt uns Thomas Sautner teilhaben an seinen philosophischen sowie quantentheoretischen Überlegungen. Was braucht es zum glücklich sein? Wie funktioniert die Liebe? Wie groß ist die Natur im ganz Kleinen? Er bewegt sich mental zwischen Urknall und Schwarzen Löchern, kurz: er greift nach den Sternen. Auch wenn der Roman zwischenzeitlich recht abstrakte Züge offenbarte, mochte ich ihn ganz gern. Am besten haben mir die extremen Steigerungen gefallen, von sehr klein bis noch viel viel kleiner oder von weit weg bis noch weiter und noch weiter, unendlich weit weg. Insgesamt glaube ich aber, dass der Roman nicht unbedingt jedermann gefällt.

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