Narrative einer Rettung
Claudia Durastantis autofiktionaler Roman „Die Fremde“ präsentiert gleich zu Beginn zwei komplett unterschiedliche Kennenlerngeschichten der gehörlosen Eltern. Beide beinhalten eine Rettung – der Vater ...
Claudia Durastantis autofiktionaler Roman „Die Fremde“ präsentiert gleich zu Beginn zwei komplett unterschiedliche Kennenlerngeschichten der gehörlosen Eltern. Beide beinhalten eine Rettung – der Vater will sich von der Brücke am Ponte Sisto in Trastevere/Rom stürzen, um im „giftgrünen“ Tiber zu ertrinken, erzählt aber, er habe die Mutter vor einem Überfall bewahrt. Der Einstieg in die Geschichte macht deutlich: Hier wird keine durchschnittliche, gesund agierende Familie beschrieben. Die Protagonistin und Erzählerin im Roman, die deutliche biografische Bezüge zur Autorin aufweist, gräbt sich aus einer dysfunktionalen, chaotischen und von einer bestimmten Sprachlosigkeit geprägten Kindheit nach oben. Anfang der 1980er-Jahre in Brooklyn geboren, immigriert diese als Kind zusammen mit Bruder und Mutter nach Italien, in die süditalienische, spärlich besiedelte Basilikata. Die Eltern haben sich getrennt.
„Auswandern bedeutet, mit all diesen Wenns des eigenen Ichs zusammenzuleben und zu hoffen, dass keines die Oberhand gewinnt.“
Gab es in Brooklyn noch eine Art sichere Enklave mit ausgewanderten Italoamerikanern der Familie und deren Regeln, sind die Kinder beim Heranwachsen in der Basilikata an der Armutsgrenze weitestgehend auf sich gestellt – die Mutter lebt in ihrer eigenen Welt, trinkt, zieht nächtelang durch die Umgebung, schwelgt in Filmen, die sie alle wie der Vater für wahr hält: beide kennen keine Fiktion, haben nie eine Gebärdensprache erlernt, akzeptieren ihre Taubheit nicht und geben sich ihrer eigenen Vorstellung eines unkonventionellen Lebens hin. Die Mutter sucht Halt und Deutung in den Tarot-Karten und der Kunst, der Vater (zudem psychisch krank) in kleinkriminellen Geschäften. Der Kontakt zu Familienangehörigen in den USA wird mit Besuchen aufrecht erhalten.
„Ich sah meinen Vater die Wut und den Wahnsinn fiktiver Figuren so leidenschaftlich ausagieren, bis er sich in ein Stück Zelluloid mit verkohlten Rändern verwandelte.“
„Meine Mutter fehlte mir, wenn sie verschwand, aber sie war nebelhaft und mein Vater eine tiefschwarze Galaxie, die jede physikalische Theorie widerlegte.“
Wie ein Echolot unter Wasser taucht Claudia Durastanti in die Tiefen ihrer Erinnerung und ihres Gedächtnisses – und das mit einer sprachlichen und stilistischen Wucht sowie Ausdehnung auf gesellschaftsrelevante Themen wie Identität, Migration, Fremdsein, gesellschaftliche Verwurzelung, Handicaps (psychisch wie physisch) und Vielsprachigkeit. Assoziativ, sprunghaft, poetisch und spielerisch in der Sprache verknüpft sie Familiengeschichte, Heimat, die Wege der Migration, ihren eigenen Werdegang ins Studium und in die Arbeitswelt sowie erste Beziehungen mit zahlreichen Szenen aus Film, Musik und Literatur, die sie geprägt haben. Zudem spielt Durastanti mit Metaphern, die an topografische Karten, Naturgewalten und Wesen aus der Mythologie angelehnt sind, um ihren Gedanken und Erinnerungen Form zu geben. Wilde, zeitlich unsortierte und episodenhafte Sprünge und zahlreiche Geschichten sind dies manchmal, aber tief bewegend und jeder Absatz eine eigenständige Denkfabrik, die teilweise auch mystisch und kryptisch sowie offen für die eigene Reflexion bleibt. Denn als Metaebene bezieht Durastanti noch das Spiel um Wahrheit und Fiktion in ihren Roman mit ein.
„Die Geschichte einer Familie ähnelt eher einer topografischen Karte als einem Roman, und eine Biografie ist die Summe aller geologischen Zeitalter, durch die du gegangen bist.“
Trotz aller Schwere der Geschichte, die durch das Anderssein geprägt ist und in der die Autorin wahrscheinlich versucht, sich ihrer eigenen Biografie auf verschiedene Arten anzunähern, blitzt auch Humor auf: Skurrile Menschen und Situationen, vollständige Milieus, Stadtteile und Landstriche, die Durastanti präzise beobachtet und in ihre außergewöhnlichen Sprache zwischen Prosa, Poesie und Essay verpackt. Intime Einblicke, aber nie zu aufdringlich – fast nüchtern-lakonisch kommt so manche Einsicht um die Ecke. Stets sucht sie auch das Verstehen ihrer Eltern sowie ihrer stillen Welt und exaltierten Charaktere. Die Mutter bleibt stets die Fremde, ist sogar stolz darauf, nicht als Gehörlose, sondern als Fremde bezeichnet zu werden – aber auch die Protagonistin bleibt sich oft fremd im Leben, fühlt sich später im beruflichen Erfolg gar als Hochstaplerin. Halt, Ausdruck und die eigene Rettung hat sie seit der Basilikata in der Literatur und später in ihrer eigenen Sprache gefunden.
„Je vulgärer und absichtlich widerwärtiger meine Eltern sprachen, desto genauer drückten wir uns aus, weil wir überzeugt waren, in der Wortwahl korrekt zu sein, würde bedeuten, auch im Leben korrekt zu sein, endlich befreit von ihren Eigentümlichkeiten.“
Am Ende des Romans sind wir wieder am Ponte Sisto – die Kennenlerngeschichte mit doppeltem Boden setzt sich zusammen. Aber war denn auch wirklich alles wahr?