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Veröffentlicht am 17.03.2021

Nicht sterben vs. sich nicht unterkriegen lassen

Die nicht sterben
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Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot ...

Nach ihrem Kunststudium in Paris kehrt die Protagonistin des Romans an ihren Sehnsuchtsort B., dem Ort ihrer kindlichen Ferien, zurück, wo sie gemeinsam mit ihrer Tante Margot, die sie liebevoll Mamargot nennt, viele schöne Momente erlebt hat. Dort möchte sie Inspiration finden und in ihren Beruf als Malerin starten. Doch die Erinnerung an das schöne naturverbundene Leben in der Walachei erscheint ihr zunehmend verklärt. Wo ist die überschwängliche Unbeschwertheit von damals hin, als Mamargot jeden Sommer mit umfangreichem Hausstand in die Villa, ihr Feriendomizil, einzog und jeweils sämtlichen Kommunismus-Kitsch in den Keller verbannen lies?

Im postkommunistischen Zeitalter haben die sommerlichen Festivitäten und intellektuellen Zirkel mit ihren Lateiner-Sprüchen den früheren Charme verloren. Offensichtlich sind nur noch Alte vor Ort. Deren jüngere Anverwandten leben im Ausland und genießen das Leben, das ihnen ihr eigenes herunter gekommenes Land nicht bieten kann. Die Dagebliebenen haben mit Arbeitslosigkeit zu kämpfen, müssen sich bei einer neuen korrupten, alles an sich reißenden Elite anbiedern. Diese Unzulänglichkeiten im eigenen Land lassen die Protagonistin in eine Art depressive Antriebslosigkeit versinken, wo ihr allerlei krude Gedanken durch den Kopf schießen, unter anderem auch eine gewisse Sehnsucht nach einer starken, Ordnung schaffenden Hand.

Im Rahmen dieser Gedankenspiele übergibt Dana Grigorcea in voluminöser, extrem bildhafter Sprache die Probleme des gegenwärtigen Rumänien der historischen Figur Vlad III, Woiwode des Fürstentums Walachei, als strengem Richter. Der Unsterbliche soll jegliches Unrecht sühnen. Für mich war es eine mystische, zeitweise etwas gruselige Verwünschung der Korrupten und Habgierigen, gedanklich ausgelebt von unserer Hauptfigur als wollte sie ihnen entgegenrufen: „Soll dich doch Der Sohn des Drachen - der grausame Vlad - holen!“

Dana Grigorcea erzählt in einem stark malerischen Stil, zeichnet Orte, Stimmungen, Düfte sowie die Personen so präzise als würde man sich als Leser*in mitten im Geschehen befinden. Verstärkt wird diese Wirkung durch ihre direkte Ansprache der Leserschaft. So konnte ich nicht umhin, die gastfreundliche Mamargot in ihrem Überschwang ebenfalls zu mögen. Ich konnte sogar die Entwicklung des Woiwoden zum grausamen Herrscher nachvollziehen. Den historischen Ausflug der Autorin hierzu mochte ich sehr.

Insgesamt war ich angetan von der geschickten Verschränkung von Gesellschaftskritik und gruseliger Woiwodenrache, eine Erzählung, die es so im Mainstream nicht gibt. Das kreativ Neue daran hat mir Vergnügen bereitet.

Gern spreche ich eine Leseempfehlung aus.

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Veröffentlicht am 07.03.2021

Mehr Gesamteindruck als Handlung

Die Erfindung der Welt
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Der neue Roman von Thomas Sautner war für mich interessant, weil er sich mit dem Schreiben eines Romans beschäftigt, quasi die Entstehung eines Romans innerhalb des Romans, eine Gleichzeitigkeit von Werden ...

Der neue Roman von Thomas Sautner war für mich interessant, weil er sich mit dem Schreiben eines Romans beschäftigt, quasi die Entstehung eines Romans innerhalb des Romans, eine Gleichzeitigkeit von Werden und Sein. Wenn man sich diesen philosophischen Ansatz bewusst macht, kann man ahnen, in welche Richtung das Lesen geht.

Die Aufgabe des Romanschreibens fällt Aliza Berg zu. Sie soll, beauftragt von einem geheimnisvollen G., mit frischem Blick und unvoreingenommen vom Leben erzählen, es regelrecht neu entdecken. Dazu begibt sie sich selbst mitten ins Setting ihrer Auftragsarbeit. Aliza begegnet den Einwohnern, die meinem Empfinden nach alle irgendwie besonders sind. Es beginnt mit den Hoteliers, die einem Heimatfilm entsprungen scheinen, geht über den Trafikanten und die vor Ort residierende Adelsfamilie, wird schließlich vervollständigt durch jeweils eine männliche und eine weibliche mitten im Wald lebende Einzelperson.

Die Romanentstehung beschreibt der Autor in Episoden. Darin widmet er sich unterschiedlichen Themengebieten bzw. Aspekten. Durch den veränderten Fokus betrachtet er die Akteure aus verschiedenen Perspektiven. Es ist weniger eine Handlung, die sich beim Lesen erschließt, sondern mehr ein Gesamteindruck. Ein Zitat aus dem Roman fasst perfekt zusammen, wie ich ebendiesen bezüglich seiner Handlung empfinde. „Die Figuren taten, was sie wollten, und nicht, was die schriftstellerische Dramaturgie erforderte. Die Handlungsstränge entrollten sich unkontrolliert, der Roman lief führungslos durch Zeiten und Räume.“ (S. 356)

Zudem lässt uns Thomas Sautner teilhaben an seinen philosophischen sowie quantentheoretischen Überlegungen. Was braucht es zum glücklich sein? Wie funktioniert die Liebe? Wie groß ist die Natur im ganz Kleinen? Er bewegt sich mental zwischen Urknall und Schwarzen Löchern, kurz: er greift nach den Sternen. Auch wenn der Roman zwischenzeitlich recht abstrakte Züge offenbarte, mochte ich ihn ganz gern. Am besten haben mir die extremen Steigerungen gefallen, von sehr klein bis noch viel viel kleiner oder von weit weg bis noch weiter und noch weiter, unendlich weit weg. Insgesamt glaube ich aber, dass der Roman nicht unbedingt jedermann gefällt.

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Veröffentlicht am 23.02.2021

Unkaputtbare Freundschaft?

Unter Wasser Nacht
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Sophie und Thies sowie Inga und Bodo teilen sich einen Hof direkt an der Elbe. Ihre Freundschaft besteht seit der gemeinsamen Jugend, die sie als Hausbesetzer und engagierte Atomkraftgegner verbracht hatten. ...

Sophie und Thies sowie Inga und Bodo teilen sich einen Hof direkt an der Elbe. Ihre Freundschaft besteht seit der gemeinsamen Jugend, die sie als Hausbesetzer und engagierte Atomkraftgegner verbracht hatten. Mit den Kindern kam der Umzug ins Idyll des Wendlands. Etwas spießiger ging es nun zu, Picknicks, gemeinsame Feste in der Nachbarschaft.

Den Lesern wird der Einstieg in den Roman dreizehn Monate, nachdem der Sohn von Sophie und Thies unter ungeklärten Umständen ums Leben kam, gewährt. Sofort ist klar, die Idylle des Wohnorts trügt. Die Leere und Trauer im Leben von Sophie und Thies steht dem weiterlaufenden Familienleben von Inga und Bodo mit ihren Vorzeigekindern gegenüber. Man beäugt sich, beobachtet sich, überwacht den jeweils anderen. Die einen suchen Makel, um den eigenen Neid zu schmälern, die anderen weichen gefährlichen Themen aus, wollen auf keinen Fall Streit. So steht viel Unausgesprochenes im Raum, blockiert alle Beteiligten in ihrem Verhalten, stellt die Freundschaft auf eine harte Probe. Als nun eine Fremde in das Leben der beiden Paare eintritt, sich mit ihnen anfreundet, aber auch unbequeme Fragen stellt, gerät das Hofleben an den Rand der Belastungsgrenze.

Die Autorin führt uns vor Augen, dass Dinge nicht unbedingt so sind, wie wir sie sehen. Hinter einer Fassade kann eine ganz andere Wirklichkeit stattfinden. Sehr feinfühlig arbeitet Kristina Hauff die ambivalenten Gefühle der Beteiligten heraus. Besonders deutlich sind die Ängste der beiden Paare beschrieben. Gut gefallen haben mir auch die Ausführungen zu Entschuldigungsfloskeln bezüglich des „Fehlverhaltens“ der Kinder.

Ein wenig Kritik verdient die Vorhersehbarkeit der Handlung. Etwa in der Mitte des Romans hatte ich abgesehen von der Nebenhandlung eine Ahnung über den Ausgang, der dann so tatsächlich auch eintrat.

Insgesamt hat mir „Unter Wasser Nacht“ trotzdem gut gefallen. Der Roman ist geradlinig erzählt, lässt sich angenehm flüssig lesen, hat gleichzeitig einen gewissen Tiefgang.

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Veröffentlicht am 23.02.2021

Glaube und Liebe

Aus der Mitte des Sees
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Lukas ist fast vierzig und lebt als Mönch in einem Kloster. Die meisten seiner Mitbrüder sind schon sehr alt. Der einzig junge neben ihm hat sich gerade für ein Familienleben entschieden somit gegen das ...

Lukas ist fast vierzig und lebt als Mönch in einem Kloster. Die meisten seiner Mitbrüder sind schon sehr alt. Der einzig junge neben ihm hat sich gerade für ein Familienleben entschieden somit gegen das Kloster. Lukas ist nun selbst am Zweifeln, erst recht als ihm eine attraktive Frau begegnet.

Beim Lesen begleiten wir Lukas in seinen Gedanken, die hier immer dann eingefangen werden, wenn er im nahen See schwimmen geht. Dort ist er allein, kann sein Denken fließen lassen. Zunächst nahm ich Lukas‘ Neid wahr, auf seinen Freund Andreas, der sich für Frau und Kind entschieden hat. Er blickt auf ihr Glück, kann es ihnen so recht nicht zugestehen. In meiner Wahrnehmung fühlt er sich betrogen. Erst als ihm Sarah begegnet, mischen sich andere Gefühle in seine Gedankenwelt.

In diesem Roman mochte ich den Rückzugsort, den See mit dem Steg, der auch das Cover ziert. Eigentlich hatte ich Stille und Besinnlichkeit in Bezug auf das Klosterleben erwartet. Doch auch hier gab es Stresssituationen, dazu die Unruhe durch die Kurzzeitbewohner des Gastflügels. Was ich vom Kloster erwartet hatte, erfüllte der See. Innerliche Ruhe finden, während der Blick über die Wasseroberfläche schweift. Die innere Mitte finden in der Konzentration auf die Atmung beim Schwimmen. Das war schon sehr glaubwürdig beschrieben. Von einem Gastaufenthalt könnte ich mich sogar überzeugen lassen.

Hegers Schreibstil, der durch seine ungewöhnliche Wortstellung auffällt, hielt mich trotzdem bis zum Schluss in gewisser Distanz zum Klosterleben. Er hatte etwas passend Sakrales an sich, dem ich recht ehrfurchtsvoll gegenüberstand, auch mit Bewunderung, den ich allerdings nicht im Ansatz in eigenen Sprachgebrauch überführen vermag. Gekonnt verschmolzen Sprache und Umgebung regelrecht miteinander.

Die zeitliche Ausdehnung der Reflexionen des Protagonisten wie auch die Reflexionen an sich haben mir gut gefallen. Sie stellen für mich etwas dar, was in unserer schnelllebigen Welt vom Aussterben bedroht zu sein scheint. Gern empfehle ich „Aus der Mitte des Sees“ allen, die auch gern mal abseits des Mainstreams lesen.

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Veröffentlicht am 16.02.2021

Zwischen Leben und Tod

Die Mitternachtsbibliothek
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Matt Haig hatte mich 2018 mit seinem Roman „Wie man die Zeit anhält“ unendlich begeistert. Seine Betrachtungsweise des Übernatürlichen zog mich magisch an, war sehr faszinierend für mich. Mit einer ähnlichen ...

Matt Haig hatte mich 2018 mit seinem Roman „Wie man die Zeit anhält“ unendlich begeistert. Seine Betrachtungsweise des Übernatürlichen zog mich magisch an, war sehr faszinierend für mich. Mit einer ähnlichen Erwartung startete ich mein Leseerlebnis mit seinem neuen Werk, „Die Mitternachtsbibliothek“.

Nora Seed macht das Leben überhaupt keinen Spaß mehr. Nachdem die sozialen Kontakte ihrer Schulzeit in alle Welt zerstreut sind, verliert sie ihren Job im Plattenladen. Als dann noch ihre Katze stirbt, empfindet sie nur noch Einsamkeit und Verzweiflung. Ihr Leben scheint lediglich eine Aneinanderreihung von verpassten Chancen und falschen Entscheidungen zu sein, die reinste Qual. Nora beschließt, dem Ganzen ein Ende zu setzen. Statt ins Jenseits hinüber zu driften, landet Nora Seed in der Mitternachtsbibliothek, wo sämtliche alternative Leben als Bücher in den Regalen stehen.

In dieser Ebene zwischen Leben und Tod wartet Matt Haig mit philosophischen Gedanken auf. Was braucht ein Leben, um lebenswert zu sein? Kann es Glück ohne Unglück geben? Welchen Preis sollte man bereit sein zu zahlen, um seine Ziele zu erreichen? Was will man eigentlich wirklich? Tut man das, was man tut, weil es von einem erwartet wird oder weil es tatsächlich dem eigenen Wunsch entspricht? Der Autor verpackt diese Fragen in die potenziellen Leben der Protagonistin. Die Beantwortung überlässt er weitestgehend den Leser*innen. Dennoch gibt er Denkanstöße zur Orientierung in unserem modernen Leben, das uns schier unendliche Möglichkeiten bietet, die aber unmöglich alle nutzbar sind. Man muss sich eben entscheiden, zwischen Alternativen abwägen, Fehler machen.

Was thematisch komplex klingt oder vielleicht ein bisschen nach Selbsthilferatgeber, liest sich trotzdem sehr angenehm, so wie ich es eben von einem Roman erwarte. Die verschiedenen Leben, die Nora Seed durchwandert, knüpfen geschickt an die Informationen, die uns vor ihrem Suizidversuch präsentiert worden sind, an. Der Autor schreibt dicht an der bekannten Realität entlang, wodurch ich auch recht unwahrscheinlichen Alternativen Glaubwürdigkeit zugestehen konnte. Matt Haig bedient sich einer ansprechenden, nicht zu anspruchsvollen Sprache. Dadurch entstand eine Wohlfühlatmosphäre, in der ich mich gern mit seinen Gedanken beschäftigt habe. Besonders mochte ich die Parallelen zum Schachspiel, die vergleichend an einigen Stellen eingeflossen sind, sowie die Einbindung des Gedankenexperiments Schrödingers Katze.

Insgesamt hat mir „Die Mitternachtsbibliothek“, die sich irgendwo zwischen Glaube und Quantenphysik bewegt, sehr gut gefallen. Wieder war das nicht greifbare Übernatürliche, hier die Sphäre zwischen Leben und Tod, überaus interessant für mich. Gern empfehle ich den Roman weiter.

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