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Veröffentlicht am 08.02.2019

Studie von 1895, anteilig hochaktuell

Psychologie der Massen
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1895 hat sich Gustave Le Bon mit der Psychologie der Massen beschäftigt und festgestellt, dass sich der Einzelne unabhängig von seinem Intellekt in der Gemeinschaft dem Mainstream hingibt und ohne Hinterfragen ...

1895 hat sich Gustave Le Bon mit der Psychologie der Massen beschäftigt und festgestellt, dass sich der Einzelne unabhängig von seinem Intellekt in der Gemeinschaft dem Mainstream hingibt und ohne Hinterfragen einer anerkannten Führungspersönlichkeit folgt. Auf Seite 38 bringt Le Bon es mit dieser Metapher „In der Masse gleicht der einzelne einem Sandkorn in einem Haufen anderer Sandkörner, das der Wind nach Belieben emporwirbelt.“ auf den Punkt.

Le Bon definiert den sogenannten Führer über bestimmte Eigenschaften, die er als Voraussetzung der Rolle ansieht. Eine übergeordnete Bedeutung kommt dabei dem persönlichen Nimbus, einem besonderen Ansehen bzw. Ruf, zu. Mit dieser Erkenntnis erscheint der Nimbus 2000 von Harry Potter gleich in einem ganz anderen Licht. Die führenden Revolutionäre, Robespierre und Danton, dienen ihm bei seinen Ausführungen als Beispielgeber. Eine Kurzfassung seiner detaillierten Ausarbeitung findet sich auf Seite 112: „Meistens sind die Führer keine Denker, sondern Männer der Tat. Sie haben wenig Scharfblick und könnten auch nicht anders sein, da der Scharfblick im Allgemeinen zu Zweifel und Untätigkeit führt. Man findet sie namentlich unter den Nervösen, Reizbaren, Halbverrückten, die sich an der Grenze des Irrsinns befinden. ... Die Stärke ihres Glaubens verleiht ihren Worten eine große suggestive Macht. Die Menge hört immer auf den Menschen, der über einen starken Willen verfügt. Die in der Masse vereinigten Einzelnen verlieren allen Willen und wenden sich instinktiv dem zu, der ihn besitzt.“

Erschreckend für mich ist die auffällige Parallelität zwischen Le Bons Aussagen und heutigen Führungskräften bestimmter Gruppierungen. In diesem Zusammenhang lässt zumindest kurzfristig hoffen, bildungs- / erziehungsferne Massen „… wirken […] gleich jenen Mikroben, welche die Auflösung geschwächter Körper oder Leichen beschleunigen. Ist das Gebäude einer Kultur morsch geworden, so führen die Massen seinen Zusammenbruch herbei.“ (S. 25). Abschließend stellt Le Bon klar, dass die Gesellschaftsformen eines Volkes einem steten Wechsel unterliegen. Fühlt sich die Masse eines Volkes benachteiligt, kommt es zu einem Umsturz, gefolgt von einer ruhigeren Phase, in der sie ausreichend Achtung erfahren, bis sich eine neue Masse von Benachteiligten herauskristallisiert.

Aus heutiger Sicht kritisch sehe ich die Sprache Le Bons. Wer gern populärwissenschaftliche Literatur liest, muss sich ganz schön anstrengen und sich durch die ungewöhnlichen Satzkonstruktionen kämpfen. Weiterhin störend, weil durch unsere Historie negativ belastet, empfinde ich die durchgehende Verwendung der Begriffe Führer und Rasse. Zudem treten immer wieder Le Bons politische Ansichten zu Tage. Da die Hirnforschung offensichtlich noch nicht besonders fortgeschritten war, sollte man Aussagen wie „das Unbewusste kommt aus dem Rückenmark“ nicht überbewerten. Trotzdem fand ich die Lektüre interessant. Ich bin begeistert von den umfassenden Erkenntnissen, die Le Bon bereits vor der Jahrhundertwende zum 19 Jahrhundert präsentieren konnte.

Veröffentlicht am 03.02.2019

Gut resümiert - nützlich und gefährlich

I can see U
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Das neue Jugendbuch von Matthias Morgenroth ist ein echter Hingucker. Ein smarter Typ mit weichen Gesichtszügen und vollen Lippen blickt einem entgegen. Es ist ein eindringlicher, angenehmer Blick, den ...

Das neue Jugendbuch von Matthias Morgenroth ist ein echter Hingucker. Ein smarter Typ mit weichen Gesichtszügen und vollen Lippen blickt einem entgegen. Es ist ein eindringlicher, angenehmer Blick, den man gern erwidert. Als Teenie wäre ich sicher dahingeschmolzen. Der Titel entsteht aus silbrig glänzenden Pixeln. Sie schimmern je nach Umgebung und Lichteinfall in allen Farben.

Wie meinem Teenie-Ich in Bezug auf das Cover erging es Marie, als Ben plötzlich mitten im Schuljahr als neuer Schüler ihrer Klasse vorgestellt wird. Sie fühlt sich sofort zu ihm hingezogen. Er ist stets zuvorkommend, weiß immer schon, was sie sich wünscht, bevor sie es auch nur ansatzweise ausspricht. Was erst ganz wunderbar erscheint, kommt Marie und ihren Freunden merkwürdig vor. Wer ist schon dauerhaft lieb und nett und immer gut gelaunt?

Zu Beginn des Romans kommen mir Marie und ihre Schulfreunde naiv vor. Sie geben viel von sich online preis, haben einen Sprachassistenten im Haushalt, nehmen an profilgesteuerten Bestellsystem teil. Ich habe mich immer wieder gefragt, wo die Kids das viele Geld hernehmen. Ganz leicht lassen sie sich wie Schachfiguren gegeneinander ausspielen. Als mehr und mehr Unstimmigkeiten auftauchen, wollen Marie, Elli und Josh den Hinweisen folgen. Bald schon stoßen sie auf Bens Geheimnis. Was danach passiert ist eine spannende Verfolgungsjagd mit einem überraschenden Ende.

Matthias Morgenroth setzt sich in seinem Roman kritisch mit den Erscheinungen unserer 4.0-Welt wie Social Media und Smart Home auseinander. Gekonnt, natürlich auch etwas überspitzt verwebt er Maries Schulalltag und Teeniedasein mit den lauernden Gefahren der Verbindung unseres Lebens mit dem Internet. Alles, was wir tun, wo wir uns gerade befinden, wen oder was wir mögen, könnte über kurz oder lang für andere im Netz verfügbar sein. Ganz schön beängstigend.

Nachdem mir die ersten Kapitel aufgrund des Gezickes der Jugendlichen untereinander etwas nervig vorkamen, habe ich die Lektüre der zweiten Buchhälfte richtig genossen. Da vermutlich meine Kritik den jungen Leser nicht stört, empfehle ich den Roman allen im Teenageralter.

Veröffentlicht am 25.01.2019

Stimmt

Liebe ist die beste Therapie
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Ohne Liebe und Zuneigung ist eine angeknackste Ehe, die vorübergehend von einem Partner betrogen worden ist, nicht zu retten. Das ist die einfache, aber präzise zutreffende Erkenntnis der Lektüre „Liebe ...

Ohne Liebe und Zuneigung ist eine angeknackste Ehe, die vorübergehend von einem Partner betrogen worden ist, nicht zu retten. Das ist die einfache, aber präzise zutreffende Erkenntnis der Lektüre „Liebe ist die beste Therapie“. Im Weg stehen uns dabei seit unserer Kindheit erlernte Regeln und Verhaltensweisen, die das Verzeihen einer derart herben Enttäuschung nicht zulassen können. Das Zugestehen eines Ausbruchs aus der Ehe mit einem anschließenden Zurückfinden in die Ehe ist eigentlich nicht vorgesehen. Daher lautet zu Beginn des Buches die Prognose für eine erfolgreiche Paartherapie 1000:1.

John Jay Osborn kommt in seiner turbulenten Geschichte mit drei Charakteren aus, die Eheleute Charlotte und Steve sowie die Paartherapeutin Sandy. Entgegen der meiner Wahrnehmung nach aktuellen Mode, mit möglichst wenigen Dialogen auszukommen, geht er mit seinem Roman einen konträren Weg. „Liebe ist die beste Therapie“ besteht fast ausschließlich aus Dialogen, die während der Paartherapie-Sitzungen bei Sandy stattfinden. Diese werden lediglich von den Sandys, teilweise sehr witzigen, Gedankenblitzen unterbrochen.

Von den Charakteren war mir die Therapeutin Sandy am sympathischsten. Ihre spontanen, ehrlich anmutenden Gedanken, mit denen sie manchmal gezielt herausgeplatzt ist, ermöglichten den Eheleuten eine andere Sicht auf die in der Vergangenheit liegenden Geschehnisse. Mit ihrer unkonventionellen Art provozierte sie die beiden, nötigte sie zur Aussprache, brachte Gefühle und Verletzlichkeit ans Tageslicht.

Charlotte und Steve mochte ich zu Beginn der Paartherapie nicht wirklich gern. Beide, Charlotte etwas mehr als Steve, waren sehr funktionsorientiert unterwegs. Die eigene Persönlichkeit war bei beiden irgendwie abhanden gekommen. Mit ihrer Findung zu sich selbst und der erneuten Annäherung kamen die beiden auch mir näher.

Fazit: Diesen Osborn empfehle ich allen, die in einer Beziehung leben und bereits die rosarote Brille abgesetzt haben. Sehr kurzweilig werden ganz nebenbei potentielle Probleme von Paaren sowie ein möglicher Umgang damit thematisiert. Manches kennt man aus der eigenen Beziehung, manches ist einem fremd. Die Erkenntnis nicht allein betroffen zu sein, ist beruhigend.

Veröffentlicht am 25.01.2019

Spooky, anspruchsvoll, keine Popcorn-Literatur

Der Vogelgott
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„Ich hörte ihn sprechen - und hörte hinter dem, was er sagte, etwas anderes. Es war, als redete er mit einer Stimme auf zwei Ebenen, und wie beim Lesen eines Palimpsests wurde mit jedem Wort, das ich entzifferte, ...

„Ich hörte ihn sprechen - und hörte hinter dem, was er sagte, etwas anderes. Es war, als redete er mit einer Stimme auf zwei Ebenen, und wie beim Lesen eines Palimpsests wurde mit jedem Wort, das ich entzifferte, ein anderes bruchstückhaft deutlich, das etwas ganz anderes bedeutete.“ (S. 159)

Dieses Zitat beschreibt ganz gut mein Leseerlebnis mit dem Vogelgott. Ich las die grausig gruselige Geschichte von Konrad Weyde und seinen drei Kindern Thedor, Dora und Lorenz und musste an verschiedene Themen aus Historie und Tagesgeschehen denken, die wie ich zum Ende hin erkennen musste, überhaupt nicht mit der Handlung in Verbindung stehen. Umweltsünden waren genauso dabei, wie falsche Entwicklungshilfe, Bücherverbrennungen und Vernichtung ganzer Volksgruppen. Wahrscheinlich war auch ich ein wenig besessen, das Rätsel dieses Romans unbedingt lösen zu wollen.

Mit brillanter Sprache, wunderbarem Detailreichtum in der Beschreibung von Umgebung und Gefühlswelten der Protagonisten erzählt Susanne Röckel zu jedem der drei entfremdeten Weyde-Kinder einen Ausschnitt aus deren Leben. Thedor, Dora und Lorenz wird dafür jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Da alle Kapitel in der Ich-Perspektive verfasst sind, nimmt man als Leser nacheinander die Position sämtlicher Beteiligter ein. Der vorangestellte Prolog enthält ein unveröffentlichtes Manuskript des Vaters über den Vogelgott. Der ganze Roman ist von düsterer Atmosphäre geprägt, unterschwellige Gefahr durch den Vogelgott ist stets präsent.

Beim Verständnis des Gelesenen obliegt es der Interpretation des Lesers, wie viel der Geschehnisse echt erscheinen, was Träumen oder Wahnvorstellungen der Protagonisten entstammt. Klar werden nur wenige Fakten, z. B. dass Thedor, Dora und Lorenz ganz ähnliche Versagensängste haben. Da sie in sich selbst gefangen zu sein scheinen, können sie sich nicht aufeinander einlassen und sich gegenseitig unterstützen. Dieses typische Problem unserer Zeit klingt auch schon im Prolog an: „Wieder einmal wurde mir schmerzlich die Zersplitterung unserer Welt bewusst, deren einzelne Teile nichts voneinander zu wissen und noch weniger voneinander zu lernen schienen, nichts jedenfalls, was über die oberflächlichen Bedürfnisse von Fremdenverkehr und Handel hinausgeht.“ ( S. 7)

Mir kamen viele Situationen und Gedankenspiele der Protagonisten seltsam und befremdlich vor. Die Ängste, Beklemmungen, in die sich die Geschwister regelrecht hineinsteigern, sind für mich kaum nachvollziehbar. Teilweise wirkten die Drei auf mich wie hypnotisiert. Ich frage mich, ob Glaube und wenn ja, wie Glaube so etwas schaffen kann. Dieses Rätsel bleibt für mich ungelöst.

Normalerweise mag ich es gar nicht, wenn der Inhalt nicht voll umfänglich verständlich ist. Der Vogelgott ist jedoch so faszinierend, dass ich die unbeantworteten Fragen verzeihen kann. Unter Umständen liege ich mit meinen Interpretationen gar nicht so falsch. Letztlich ist das auch nicht so wichtig. Die vielen Gedankenanstöße, die ich erfahren habe, machen mich zufrieden.

Fazit: Trotzdem ist es kein Buch für jedermann. Es macht einen fertig, fordert einen heraus und am Ende weiß man doch nicht so recht, ob man es verstanden hat.

Veröffentlicht am 25.01.2019

Totgesagte leben länger

Bevor wir verschwinden
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David Fuchs erzählt mit „Bevor wir verschwinden“ eine anfangs distanziert wirkende, im weiteren Verlauf durchaus berührende Geschichte eines angehenden Arztes während dessen Praktikum in der Onkologie. ...

David Fuchs erzählt mit „Bevor wir verschwinden“ eine anfangs distanziert wirkende, im weiteren Verlauf durchaus berührende Geschichte eines angehenden Arztes während dessen Praktikum in der Onkologie. Sie lässt bewusst einige Fragestellungen offen, schafft damit Interpretationsspielräume für den Leser. So erzeugt das Buch beim Empfänger indirekt je nach Wahrnehmung ganz unterschiedliche Wahrheiten.

„Bevor wir verschwinden“ offenbart am Beispiel von verschiedenen Einzelschicksalen, wie Patienten auf schwere Krankheiten und den drohenden Tod und auch wie die ihnen nahestehenden Personen reagieren. Es wird zudem deutlich, wie unberechenbar eine Krebserkrankung sein kann.

Benjamin Marius Maier, Ben, ist angehender Arzt, dem nur noch das Praktikum und ein paar Prüfungen fehlen. Er verdient sich etwas Geld dazu, indem er in einem Labor Schweine für studentische Übungen am Leben erhält. Ich habe Ben als sehr empathischen Menschen empfunden. Er wirkte in all seinen Reaktionen noch „sehr menschlich“ und nicht medizinisch abgestumpft. Im Laufe des Buches ist er mir immer mehr ans Herz gewachsen.

Ambros Wegener, ist Patient in der Onkologie mit einer desaströsen Diagnose. Trotzdem wirkt er überwiegend normal. Erst am Ende des Buches erscheint Ambros zunehmend nervöser, so als ob er ahnen würde, was noch kommt. Ambros ist allerdings nicht nur Bens Patient, sondern auch sein Ex-Freund, was natürlich Konfliktpotential mit sich bringt. In die Beziehung der Beiden hätte ich mir mehr Einblicke gewünscht. Nur einige wenige Erinnerungen wurden ans Tageslicht gebracht. Die Intensität der Beziehung und auch die Gründe für die Trennung bleiben im Nebel.

Edna, die Stationsschwester, genannt Ed, und der Oberarzt der Onkologie Wendelin Pomp geben dem Buch eine charmante Komik. Schon ihre Namen haben für mich einen gewissen Witz. Ed, ist die heimliche Chefin der Station. Sogar Dr. Pomp trinkt seinen Kaffee lieber wo anders, damit sie nicht merkt, wie lange er Pause macht. Hin und wieder erlaubt sie sich einen Scherz auf Kosten der Kollegen. Wendelin Pomp muss ein sehr erfahrener Arzt sein. Er ist durchgehend tiefenentspannt. Den Patienten auf der Station geben sie liebevolle Spitznamen, die einem zunächst irgendwie gemein vorkommen, es aber nicht wirklich sind.

Der Schreibstil ist so, wie in meiner Wahrnehmung als Frau Männer reden. Sie brauchen einfach nicht so viele Worte, um eine Sache auf den Punkt zu bringen. Das erscheint oftmals nicht angemessen gefühlvoll. In den Momenten, wo es allerdings darauf ankam, wurde dennoch die gesamte Emotionslage transportiert, was mich tief berührt hat.

Weil es das lebensbedrohende Thema Krebserkrankung sehr sympathisch verarbeitet, hat mir „Bevor wir verschwinden“ sehr gut gefallen.