„Ich hörte ihn sprechen - und hörte hinter dem, was er sagte, etwas anderes. Es war, als redete er mit einer Stimme auf zwei Ebenen, und wie beim Lesen eines Palimpsests wurde mit jedem Wort, das ich entzifferte, ...
„Ich hörte ihn sprechen - und hörte hinter dem, was er sagte, etwas anderes. Es war, als redete er mit einer Stimme auf zwei Ebenen, und wie beim Lesen eines Palimpsests wurde mit jedem Wort, das ich entzifferte, ein anderes bruchstückhaft deutlich, das etwas ganz anderes bedeutete.“ (S. 159)
Dieses Zitat beschreibt ganz gut mein Leseerlebnis mit dem Vogelgott. Ich las die grausig gruselige Geschichte von Konrad Weyde und seinen drei Kindern Thedor, Dora und Lorenz und musste an verschiedene Themen aus Historie und Tagesgeschehen denken, die wie ich zum Ende hin erkennen musste, überhaupt nicht mit der Handlung in Verbindung stehen. Umweltsünden waren genauso dabei, wie falsche Entwicklungshilfe, Bücherverbrennungen und Vernichtung ganzer Volksgruppen. Wahrscheinlich war auch ich ein wenig besessen, das Rätsel dieses Romans unbedingt lösen zu wollen.
Mit brillanter Sprache, wunderbarem Detailreichtum in der Beschreibung von Umgebung und Gefühlswelten der Protagonisten erzählt Susanne Röckel zu jedem der drei entfremdeten Weyde-Kinder einen Ausschnitt aus deren Leben. Thedor, Dora und Lorenz wird dafür jeweils ein eigenes Kapitel gewidmet. Da alle Kapitel in der Ich-Perspektive verfasst sind, nimmt man als Leser nacheinander die Position sämtlicher Beteiligter ein. Der vorangestellte Prolog enthält ein unveröffentlichtes Manuskript des Vaters über den Vogelgott. Der ganze Roman ist von düsterer Atmosphäre geprägt, unterschwellige Gefahr durch den Vogelgott ist stets präsent.
Beim Verständnis des Gelesenen obliegt es der Interpretation des Lesers, wie viel der Geschehnisse echt erscheinen, was Träumen oder Wahnvorstellungen der Protagonisten entstammt. Klar werden nur wenige Fakten, z. B. dass Thedor, Dora und Lorenz ganz ähnliche Versagensängste haben. Da sie in sich selbst gefangen zu sein scheinen, können sie sich nicht aufeinander einlassen und sich gegenseitig unterstützen. Dieses typische Problem unserer Zeit klingt auch schon im Prolog an: „Wieder einmal wurde mir schmerzlich die Zersplitterung unserer Welt bewusst, deren einzelne Teile nichts voneinander zu wissen und noch weniger voneinander zu lernen schienen, nichts jedenfalls, was über die oberflächlichen Bedürfnisse von Fremdenverkehr und Handel hinausgeht.“ ( S. 7)
Mir kamen viele Situationen und Gedankenspiele der Protagonisten seltsam und befremdlich vor. Die Ängste, Beklemmungen, in die sich die Geschwister regelrecht hineinsteigern, sind für mich kaum nachvollziehbar. Teilweise wirkten die Drei auf mich wie hypnotisiert. Ich frage mich, ob Glaube und wenn ja, wie Glaube so etwas schaffen kann. Dieses Rätsel bleibt für mich ungelöst.
Normalerweise mag ich es gar nicht, wenn der Inhalt nicht voll umfänglich verständlich ist. Der Vogelgott ist jedoch so faszinierend, dass ich die unbeantworteten Fragen verzeihen kann. Unter Umständen liege ich mit meinen Interpretationen gar nicht so falsch. Letztlich ist das auch nicht so wichtig. Die vielen Gedankenanstöße, die ich erfahren habe, machen mich zufrieden.
Fazit: Trotzdem ist es kein Buch für jedermann. Es macht einen fertig, fordert einen heraus und am Ende weiß man doch nicht so recht, ob man es verstanden hat.