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Veröffentlicht am 01.04.2019

Ein Buch, das einen durchdringt

Die Züchtigung
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„Wenn wir versuchen, uns zu definieren, wenn uns andere mit Worten zu fassen suchen, greifen wir auf unsere Mütter zurück.“ (S. 133)

Marie wächst als Kind einer Bauernfamilie in einem österreichischen ...

„Wenn wir versuchen, uns zu definieren, wenn uns andere mit Worten zu fassen suchen, greifen wir auf unsere Mütter zurück.“ (S. 133)

Marie wächst als Kind einer Bauernfamilie in einem österreichischen Dorf auf, ungeliebt und misshandelt, ausgebeutet und einer auch nur ansatzweise harmonischen Kindheit beraubt. Sie heiratet und zieht mit ihrem Mann in die Stadt, doch ihrer traumatisierenden Kindheit kann sie nicht entfliehen. Sie wünscht sich, dass ihre Tochter Vera einst ein besseres Leben als sie selbst führt, und diesen ‚Wunsch‘ bläut sie Vera buchstäblich ein, die vermeintliche Undankbarkeit der Tochter treibt sie ihr aus. Täglich. Unberechenbar. Unausweichlich. Marie schlägt ihr Kind aus den nichtigsten Anlässen, sie überschüttet ihre Tochter mit derselben Gnadenlosigkeit und Lieblosigkeit, die sie erlebt hat.

In ihrem Roman "Die Züchtigung" schildert Anna Mitgutsch den Liebesentzug, die Aggressivität und Brutalität der Mutter und die Hilflosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins aus Veras Sicht. Der Verzicht auf Anführungszeichen, die streckenweise langen Absätze und die Erzählperspektive verleihen dem Roman eine Unmittelbarkeit und Intensität, dass ich während des Lesens meinte, sie am eigenen Leib und der eigenen Seele zu spüren. Ein Beispiel: Als kleines Kind spielt Vera im Küchenschrank, ihrem „Haus“, den Schlüssel verbummelt das kleine Mädchen. Typischer Alltag mit einem Kleinkind? Nicht bei Marie:

„Wo ist der Schlüssel, fragt Mama, wo hast du den Schlüssel versteckt? Schlüssel weg, sage ich und will weiterspielen. Sie hält mich am Arm, daß es weh tut, wo ist der Schlüssel, bring sofort den Schlüssel her, sagt sie drohend. Ich habe Angst, aber keine Erinnerung an den Schlüssel. Schlüssel weg, sage ich weinend, während sie mich hin und her schüttelt. Ich möchte ihr ja helfen, aber ich weiß auch nicht, wo der Schlüssel ist, und ich weiß nur diese zwei Worte dafür, Schlüssel weg.“ (S. 80)

Die titelgebenden Züchtigungen werden immer strenger und schlimmer (die Zitate erspare ich euch und mir an dieser Stelle), doch auch die Schilderungen des bewussten, vorsätzlichen Liebesentzugs waren für mich nur schwer zu ertragen. Vera ist mittlerweile Gymnasiastin:

„Vor dem ersten Vierer durfte ich noch auf ihrem Schoß sitzen und mit den Fingern ihr Gesicht berühren, ich durfte sie küssen und mich in ihrem Arm geborgen fühlen. Aber der erste Vierer kam am Ende der ersten Klasse Gymnasium, und damit brach unerbittlich der letzte spärliche Körperkontakt, die letzten Spuren von Zärtlichkeit ab. Ich war damals elf Jahre alt. Es dauerte zwölf Jahre, bis ich wieder ein menschliches Gesicht berührte.“ (S. 162)

Die körperlichen und seelischen Misshandlungen gehen nicht spurlos an Vera vorbei. Auf der Suche nach Liebe und Zuwendung entwickelt sie ausgeprägte Essstörungen: „Zuerst aß ich um der Liebe willen, später fastete ich um der Liebe willen.“ (S. 176), und gelangt zu folgender bitterer Selbsterkenntnis: „Immer wieder habe ich mich ausgelöscht und Befehle an mir vollstreckt, ich bin ein gehorsames Opfer.“ (S. 179)

Vera versucht – verständlicherweise und gleichzeitig ironischerweise genau wie ihre Mutter zuvor – ihrer Tochter eine bessere, eine andere Mutter zu sein als Marie:

„War deine Mutter so wie du, fragt meine zwölfjährige Tochter, während sie sich an die Badezimmertür lehnt und mich beim Kämmen betrachtet. […] Nein, sage ich, nein, deine Großmutter war ganz anders. Wie anders? Stell dir das Gegenteil vor. Sie zögert, sieht mich fragend an. Wie soll sie sich das Gegenteil vorstellen, wenn ich ihr ein Rätsel bin. Ein Rätsel und eine Selbstverständlichkeit. Wie meine Mutter für mich, bis heute.“(S. 5)

Doch es scheint, als wiederhole sich die Geschichte wieder und wieder, fast, als sei die Toxizität der Mutter-Tochter-Beziehung in die Zellstruktur der Vor- und Nachfahrinnen gesickert, um dort unauslöschlich und generationenübergreifend ihr Unwesen zu treiben:

„Ich will nicht mehr leben, sagt mein Kind, und dreht den Kopf zur Wand. Sie stößt mich von sich, wenn ich sie berühre, sie sagt, laß mich, du verstehst mich nicht. Sie hat dunkle Schatten unter den Augen und einen vom Weinen zerronnenen Mund. Dein Essen kotzt mich an, sagt sie, deine Ideen kotzen mich an, dein Getue. Ich stehe in der Tür mit hängenden Armen.“ (S. 211)

"Die Züchtigung" ist ein Roman, den man keinesfalls lesen sollte, wenn man sich gerade in einer etwas dünnhäutigen Phase befindet. Es ist buchstäblich eindringliches, ein in die Leserin eindringendes, ein, ich möchte fast sagen: übergriffiges, Buch – und gerade deswegen unbedingt lesenswert.

Veröffentlicht am 01.04.2019

Ich habe mir mehr erhofft

Die Farben des Feuers
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Paris, 1927: Madeleine ist 27 und lebt gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Sohn Paul im herrschaftlichen Haus ihres Vaters, des vermögenden Bankiers Marcel Péricourt. Ihr Ex-Mann sitzt nach einem Skandal ...

Paris, 1927: Madeleine ist 27 und lebt gemeinsam mit ihrem siebenjährigen Sohn Paul im herrschaftlichen Haus ihres Vaters, des vermögenden Bankiers Marcel Péricourt. Ihr Ex-Mann sitzt nach einem Skandal im Gefängnis, doch das vermag ihr sorgloses Dasein, das sie zwischen Abendgesellschaften, ihrer Freundin und Gesellschafterin Léonce und André, Pauls Privatlehrer und Madeleines Liebhaber, führt, nicht zu beeinträchtigen. Als ihr Vater stirbt und ihr Sohn sich am Tag des Begräbnisses aus dem Fenster stürzt, gerät ihr unbekümmertes Leben aus den Fugen. Sie fällt einer Intrige zum Opfer, verliert alles – und beschließt, sich an allen Widersachern zu rächen.

Ich habe mich sehr auf die Lektüre gefreut, jedoch hat mich das Buch leider nicht vollends überzeugen können. Der Erzählstil ist süffisant, berührt nach meinem Geschmack jedoch allzu oft die Grenze zum Klamauk – als wolle der Erzähler den ironisch-leichten Stil der französischen Romanciers der Jahrhundertwende imitieren, ohne jedoch wirklich ihren Ton zu treffen. So hat mich insbesondere der erste Teil nicht fesseln können.

Auch blieben mir die meisten Figuren zu flach und stereotyp: der chronisch pleite Onkel (ein beliebtes Motiv, das mich schon bei „Belgravia“ störte), der ehrgeizige Liebhaber, die neidische ‚Freundin‘ und nicht zuletzt die Protagonistin, deren Wandel vom verwöhnten Naivchen zur rachedurstigen Nemesis für mich nicht nachvollziehbar war. Zwar liegen in der erzählten Zeit zwischen Madeleines Ruin und dem Beginn ihrer Rache drei Jahre – die die Wandlung erklären mögen – in der Erzählzeit vollzieht sich der Sprung jedoch von einem Kapitel zum nächsten, ohne nähere Erläuterung der innerseelischen Prozesse Madeleines.

Was indes wirklich lesenswert ist, ist die Rachegeschichte an sich, die – Gott sei Dank – den größeren Raum einnimmt. Mit welch perfiden Mitteln Madeleine ihre scheinbar unangreifbaren Gegner nacheinander ausschaltet, ist unterhaltsam, verblüffend, witzig. Das liegt allerdings auch an einigen Nebenfiguren, die erstmalig auftreten bzw. denen in diesem Teil mehr Raum gegeben / mehr Tiefe verliehen wird. Was ebenso positiv hervorzuheben ist, sind die bei aller Süffisanz ausgesprochen gelungenen Formulierungen, Charakterisierungen und Dialoge, wie:

„Er war ein Mensch von beschränkter Phantasie, aber großer Charakterstärke.“

„Man kann jemandem ein Leid antun, den man liebt, aber jemandem, den man nicht liebt … Nein, das ist gemein.“

„Wenn er der Sache keinen Riegel vorschob, würde er als Personalchef in einem Familienunternehmen enden, das war nicht der Grund gewesen, weshalb er aus der kommunistischen Partei ausgetreten war.“

Alles in allem haben „Die Farben des Feuers“ ein zwiespältiges Gefühl in mir hinterlassen, sodass ich weder eine klare Leseempfehlung aussprechen noch wirklich davon abraten kann. Das Buch hat seine Momente (sogar einige davon), doch insgesamt hätte man mehr daraus machen können.

Veröffentlicht am 28.03.2019

Was für ein Finale!

Ich bin die Rache
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Nun liegt er also vor, der letzte Band von Ethan Cross' "Ich bin ..."-Reihe. Ich kannte die vorherigen Bände ebenfalls nur als Hörbuch, so dass ich mich auch in diese letzte 'Folge' sehr gut und schnell ...

Nun liegt er also vor, der letzte Band von Ethan Cross' "Ich bin ..."-Reihe. Ich kannte die vorherigen Bände ebenfalls nur als Hörbuch, so dass ich mich auch in diese letzte 'Folge' sehr gut und schnell einhören konnte.

Zur Story (ohne zu spoilern): Maggie, Marcus' Freundin und Francis' 'kleine Schwester' zieht auf eigene Faust los, um den sogenannten Taker, einen Kindesentführer, der auch für das Verschwinden ihres kleinen Bruders verantwortlich ist, zu fassen. Als sie selbst plötzlich verschwindet, machen Marcus und Francis sich auf, sie zu suchen. Und das erweist sich als ebenso spannend, atemberaubend und - ja, auch blutrünstig, wie alle gemeinsamen 'Abenteuer' der beiden ungleichen Brüder.

Ethan Cross hat auch mit diesem (Hör-)Buch wieder einen wilden Ritt hingelegt. Die Figuren werden insgesamt konsequent weitererzählt, ihre jeweilige fortschreitende Entwicklung ist aus meiner Sicht nachvollziehbar und glaubwürdig.

Auch der Sprecher Thomas Balou Martin, der auch die übrigen "Ich bin ..."-Hörbücher eingelesen hat, liest gewohnt souverän und prononciert; ich schätze seine Fähigkeit, den einzelnen Figuren eine eigene Stimmfarbe zu verleihen, ohne dabei affig oder aufgesetzt zu klingen, wirklich sehr.

Einen Punkt Abzug gibt es für das für mich äußerst unbefriedigende Ende. Möglicherweise wird hier der Cliffhanger für eine neue Reihe gesetzt, doch alles in allem hätte ich mir einen insgesamt runderen Abschluss der Reihe gewünscht.

Ein letzter Tipp: Ich empfehle, die Hörbücher in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu hören - andernfalls könnte es vielleicht schwierig werden, die einzelnen Nuancen der Figuren wahrzunehmen bzw. nachzuvollziehen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Stimme
  • Atmosphäre
  • Handlung
  • Spannung
Veröffentlicht am 27.03.2019

Nach einem etwas schwachen Anfang ein zauberhaftes Leseerlebnis

Der Wal und das Ende der Welt
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„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig ...

„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig später strandet ein Wal. Diese beiden sonderbaren Geschehnisse bilden den Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die nicht nur das Leben der Dorfbewohner für immer verändert. Denn es steht, wie der Titel andeutet, nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor. Und das ist näher und realistischer, als sich manch einer – auch der Leser – denken kann, denn „manchmal ist die Übertreibung näher an der Wirklichkeit als die Wahrheit“.

Zugegeben, ich habe mich mit dem Anfang des Romans ein wenig schwergetan. Das lag zum einen am Erzählstil und der Figurenzeichnung: Der Erzähler wendet sich anfänglich einige Male direkt an den Leser:
„Sollten Sie es also einmal nach St. Piran schaffen (was gar nicht so einfach ist), werden Sie die Geschichte auf der Straße und im Pub zu hören bekommen; und sollten Sie einen der Dorfbewohner danach fragen, könnte es sein, dass diese Sie auf eine Bank setzt, von der aus man auf den wogenden Ozean blickt, und Ihnen dort genau diese Geschichte erzählen.“
Das muss man mögen; ich persönlich mag diese verschwimmende Grenze in der Regel nur bedingt. Doch letztlich habe ich mich daran gewöhnt und irgendwann störte ich mich gar nicht mehr daran, sondern wusste den nicht zu leugnenden Charme dieser Erzählform zu schätzen.

Auch mit den handelnden Figuren fremdelte ich anfänglich. Sie werden so schrullig geschildert, als seien sie einer Folge „Inspector Barnaby“ entsprungen.
Da ist zum Beispiel Charity Choke: „Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei ‚spät erblüht‘ […]. ‚Bäume, die spät erblühen‘, sagte Martha Fishburne gern, ‚blühen oft am schönsten.‘ Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.“
Oder Kenny Kennet, „der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte.“
In dieser Form werden auch die anderen Figuren geschildert, mehr Stereotyp als wirklicher Charakter, und insgesamt etwas zu flach. Sie waren mir alle ein wenig zu überzeichnet; auch daran musste ich mich erst gewöhnen, doch dann fand ich sie in aller Schrulligkeit überaus liebenswert.

Zum anderen schien mir der Roman am Anfang nicht so richtig zu wissen, wohin er will bzw. was er denn nun eigentlich sein will. Erzählstil und Figurenentwurf schienen auf eine Schnurre hinzudeuten; dann wechselt das Setting in einer Rückblende zum Finanzdistrikt in der City of London. Der an den Strand gespülte junge Mann, Joe, entpuppt sich als Banker, der offensichtlich einen folgeschweren Fehler begangen hat. Okay, also keine Schnurre, sondern ein Wirtschaftskrimi, dachte ich – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Gespräch zwischen Joe und seinem Chef lässt schließlich die eigentliche (und ganz wunderbare!) Dimension des Romans erahnen:
„Sie sind Mathematiker. Sie wissen, was mit komplexen Systemen geschieht. Plötzlicher, dramatischer, katastrophaler Kollaps. […] Haben Sie mal von der These gehört, dass unsere Gesellschaft nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt ist?“

Und von da an konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Denn hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Anarchie ist, was das Menschsein ausmacht, kurz: was Menschlichkeit bedeutet. Deshalb: klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 25.03.2019

Wie kann es nur soweit kommen?

Kleine Schwester
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Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ...

Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ‚Eltern‘, was ist das für ein Umfeld, das nichts geahnt, nichts gewusst, nichts gemerkt haben will??!

Das von mir sehr geschätzte Autorinnen-Duo Martina Borger und Maria Elisabeth Straub liefert mit seinem Roman Kleine Schwester, erschienen im Diogenes Verlag, eine Art (fiktionalen) Hintergrundbericht, wie es so weit kommen kann, wie eine solche Tragödie (auch wenn das Wort viel zu schwach dafür ist) ihren Lauf nimmt, Eigendynamik entwickelt und auf ein scheinbar unausweichliches Ende zusteuert.

Die Jessens, Mutter Ela, Vater Carl und Tochter Lilly, sind eine ganz gewöhnliche Familie. Okay, Ela will von ihrer Tochter zu deren Verdruss nicht ‚Mama‘ genannt, sondern mit ihrem Vornamen angesprochen werden, und sie will „nicht so sein […] wie andere Mütter“, mit „Pudel-Dauerwellen, dickem Hintern und Hausschuhen“, so what? Doch auch wenn Ela keine gewöhnliche Mutter sein will, so will sie auf jeden Fall eines sein: eine zweifache Mutter. Carl ist nach einer Krankheit nicht mehr zeugungsfähig und Ela, deren Gedanken bald nur noch um ihren unerfüllten Kinderwunsch kreisen, wird zusehends aggressiver, fragiler und unberechenbarer. Irgendwann scheint eine Lösung gefunden zu sein: Die Jessens nehmen die fünfjährige Lotta bei sich auf. Elas Wunsch hat sich erfüllt, das traumatisierte Heimkind Lotta – das eigentlich Dagmar heißt, doch dieser Name ist Ela zu „hässlich – hat ein neues Zuhause. Doch ‚Lotta‘ kann ihre unausgesprochene Aufgabe, nämlich Elas beschädigte Psyche zu heilen, nicht erfüllen, und Elas Euphorie über die neue ‚Tochter‘ wandelt sich langsam, aber unaufhaltsam von Zuversicht zu Frust, Gleichgültigkeit, Hass …

Ich habe das Buch vor einigen Jahren in einem Rutsch gelesen, konnte meine Augen nicht von den Seiten lösen und es nicht aus der Hand legen. Die Geschehnisse sind so ungeheuerlich und gleichzeitig aufgrund der gewählten Erzählperspektive so eindringlich, dass ich mich diesem Strudel nicht entziehen konnte. Die Geschichte der Jessens wird aus Sicht der mittlerweile zwölfjährigen leiblichen Tochter Lilly erzählt. Lilly ist einerseits unmittelbar in die Geschehnisse involviert, nimmt aber andererseits aufgrund ihres Kindseins die Rolle der handlungsunfähigen Beobachterin ein. Sie ist zu jung, um die Verantwortung für das, was in ihrem Zuhause passiert, zu übernehmen, vielleicht auch zu naiv, hilflos und loyal, um Hilfe zu erbitten. Der kindliche, fast unbeteiligte Tonfall der Ich-Erzählerin ist einerseits streckenweise nur schwer zu ertragen, verleiht aber andererseits den Ereignissen eine unglaubliche Intensität.

Ein Buch, das einem den Hals zuschnürt, das Herz verkrampft, den Kopf sprengt.