„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“
Die Cardinals sind eine außergewöhnliche Familie: Ihre 21 (sic!) Kinder wachsen wild, zwanglos und frei auf, mit eigenen, selbst geschaffenen Regeln, Normen und Werten. Sie leben in der mittlerweile arg heruntergekommenen Minensiedlung Norco, einst geschaffen in der Hoffnung auf das große Geld, das die gigantischen Erzvorkommen versprachen, das dann aber aufgrund des Preisverfalls ausblieb. Der Ort gleicht mehr und mehr einer Geisterstadt, bewohnt von den wenigen verbliebenen Siedlern, von den Cardinal-Kindern als „Landeier“ verspottet und aufs Übelste drangsaliert – und eben den Cardinals selbst. In Norco sind sie „Gewinner. Wir gehören zu denen, die sich weder verbiegen noch brechen lassen, zu denen, die nur ihrem Instinkt folgen, die ihre Flügel ausbreiten und vor nichts zurückschrecken. In Norco waren wir die Kings.“ Und so führen sie sich auch auf: wie Könige, denen die Welt gehört und die sich um nichts scheren: „Manchmal zogen wir zu acht oder zehnt los. Wir gingen ein leerstehendes Haus abfackeln, das Ungeheuer mit dem langen Schwanz jagen oder sonst irgendetwas anstellen […].“
Zu diesem „Anstellen“ gehört beispielsweise die Tradition, dass die Cardinal-Kinder mit etwa sieben Jahren den Umgang mit Dynamit lernen, angeleitet von ihrem Vater: „Wenn du keine Angst vor dem Dynamit hast, bist du tot. Ich habe mehr Angst vor Dynamit als vor Anwälten.“ Oder die Anti-Landei-Kommandos, die Bärendynamitfalle sowie die berüchtigte (und höchst unappetitliche) „Katzenparade“, die hier nicht näher erläutert werden soll. Bei 21 Kindern verliert man leicht den Überblick, sollte man meinen: „tja … wir waren so viele, da gingen ein paar in der Menge unter.“ Oder gehen sie doch nicht nur „in der Menge“ unter? Was sich anlässt wie die Beschreibung einer unkonventionellen Kindheit, entpuppt sich mehr und mehr als eine Erzählung über eine mit allen Kräften geheim gehaltene Familientragödie, eine Geschichte von Liebe und Grausamkeit, von dem Wunsch, die Liebsten zu beschützen, und der späten Einsicht, dass Geheimnisse nur eine kurze Halbwertzeit haben.
Und immer wieder spielen die stillgelegte Erzmine und die unermüdliche Suche des Vaters – der im Alter von 81 Jahren zum „Erzsucher des Jahres 1995“ gekürt wird – nach Erzadern eine wiederkehrende und bedeutungsvolle Rolle. Diese Auszeichnung und der dazugehörige Festakt werden schließlich zum Anlass, das Familiengeheimnis ein für alle Mal zu enthüllen. Wobei – ist ein Geheimnis, das fast alle teilen, überhaupt noch ein Geheimnis?
„Niemals ohne sie“ ist ein bemerkenswerter Roman, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Das von fast allen Familienmitgliedern mühsam bewahrte Geheimnis enthüllt sich dem Leser schrittweise, wie das Häuten einer Zwiebel. Dazu wählt die Autorin eine spannende Erzählperspektive: Die Geschichte der Cardinals wird auf zwei Zeitebenen von einem personalen Erzähler berichtet – doch ist dieser Ich-Erzähler in jedem Kapitel eine andere Romanfigur. Und so, wie das Alter, der Entwicklungs- und Kenntnisstand des jeweiligen Cardinal-Kindes zum Zeitpunkt des Geschehens variiert, so unterscheiden sich auch die Inhalte der einzelnen Kapitel. Den Anfang macht Denis, genannt Matz, das Nesthäkchen der Familie. Seine Sicht ist eingeschränkt, seine Erinnerungen an die Kindheit rosig gefärbte Nostalgie. Zwar nimmt er als Erwachsener wahr, dass da irgendetwas ist, irgendein Geheimnis, an das er mit seinen Fragen rührt, das ihm jedoch nicht wirklich zugänglich ist. Er ist offenkundig der Einzige, der wirklich nichts von der Familientragödie weiß, allenfalls etwas ahnt – und so bleibt dem Leser auch nur eine vorsichtige Ahnung, dass die Vergangenheit der Cardinals mehr vorhält als eine Ansammlung von Anekdoten. Nacheinander kommen andere Cardinal-Kinder zu Wort: Émilienne, genannt Jeanne d’Arc, die Älteste, die das Geheimnis unter allen Umständen bewahren will. Carmelle, genannt Tommy, die für die Geheimniswahrung unverzichtbar ist, die aber nicht mehr schweigen will und kann. Jede der Figuren schildert ihre Sicht der Dinge und nimmt den Leser mit in ihre persönlichen Erinnerungen, Schuldgefühle, Nöte. Manches wiederholt sich, erscheint jedoch in einem anderen Licht, anderes ist neu – und so setzt sich mosaikartig eine ergreifende, erschütternde Geschichte zusammen.
Ich fand es beeindruckend, wie es Jocelyne Saucier gelingt, jeder ihrer Figuren eine eigene Stimme und einen eigenen Sprachduktus zu verleihen, dabei jedoch einen Stil zu finden, der alle einzelnen Erzähler harmonisch und flüssig miteinander verbindet. Auch die individuelle Charakterisierung der prägnanteren Figuren – einige Geschwister gehen für den Leser tatsächlich „in der Menge unter“, 21 Protagonisten wären dann doch zu viel – ist eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann: ihre Eigenheiten, Marotten und nicht zuletzt die fantasievollen Spitznamen, die die Kinder einander gegenseitig verleihen („Gelber Riese“, „Wapiti“, „Gandhi“, „El Toro“ u. v. m.), verleihen den Figuren eine bemerkenswerte Plastizität und Lebendigkeit.
„Niemals ohne sie“ ist aus meiner Sicht unbedingt lesenswert. Eigentlich müsste man es sogar zweimal lesen, da sich erst bei der zweiten Lektüre, nachdem sich dem Leser das Geheimnis enthüllt hat, die vielen kleinen Hinweise und Andeutungen erschließen.
Am Ende blieben mir nur zwei Fragen: 1.) Warum hat es fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis der Roman für den deutschen Buchmarkt entdeckt wurde? 2.) Warum, Herrschaftszeiten, musste man den wunderbaren, überaus passenden Originaltitel „Les héritiers de la mine“ („Die Erben der Mine“) zu dem absolut nichtssagenden „Niemals ohne sie“ umformulieren?!
[Rezensionsexemplar]