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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.03.2019

Was für ein Finale!

Ich bin die Rache
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Nun liegt er also vor, der letzte Band von Ethan Cross' "Ich bin ..."-Reihe. Ich kannte die vorherigen Bände ebenfalls nur als Hörbuch, so dass ich mich auch in diese letzte 'Folge' sehr gut und schnell ...

Nun liegt er also vor, der letzte Band von Ethan Cross' "Ich bin ..."-Reihe. Ich kannte die vorherigen Bände ebenfalls nur als Hörbuch, so dass ich mich auch in diese letzte 'Folge' sehr gut und schnell einhören konnte.

Zur Story (ohne zu spoilern): Maggie, Marcus' Freundin und Francis' 'kleine Schwester' zieht auf eigene Faust los, um den sogenannten Taker, einen Kindesentführer, der auch für das Verschwinden ihres kleinen Bruders verantwortlich ist, zu fassen. Als sie selbst plötzlich verschwindet, machen Marcus und Francis sich auf, sie zu suchen. Und das erweist sich als ebenso spannend, atemberaubend und - ja, auch blutrünstig, wie alle gemeinsamen 'Abenteuer' der beiden ungleichen Brüder.

Ethan Cross hat auch mit diesem (Hör-)Buch wieder einen wilden Ritt hingelegt. Die Figuren werden insgesamt konsequent weitererzählt, ihre jeweilige fortschreitende Entwicklung ist aus meiner Sicht nachvollziehbar und glaubwürdig.

Auch der Sprecher Thomas Balou Martin, der auch die übrigen "Ich bin ..."-Hörbücher eingelesen hat, liest gewohnt souverän und prononciert; ich schätze seine Fähigkeit, den einzelnen Figuren eine eigene Stimmfarbe zu verleihen, ohne dabei affig oder aufgesetzt zu klingen, wirklich sehr.

Einen Punkt Abzug gibt es für das für mich äußerst unbefriedigende Ende. Möglicherweise wird hier der Cliffhanger für eine neue Reihe gesetzt, doch alles in allem hätte ich mir einen insgesamt runderen Abschluss der Reihe gewünscht.

Ein letzter Tipp: Ich empfehle, die Hörbücher in der Reihenfolge ihres Erscheinens zu hören - andernfalls könnte es vielleicht schwierig werden, die einzelnen Nuancen der Figuren wahrzunehmen bzw. nachzuvollziehen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Stimme
  • Atmosphäre
  • Handlung
  • Spannung
Veröffentlicht am 27.03.2019

Nach einem etwas schwachen Anfang ein zauberhaftes Leseerlebnis

Der Wal und das Ende der Welt
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„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig ...

„Wenn die gesamte Weltordnung um Sie herum zusammenbrechen würde, was würden Sie dann tun?“

St. Piran, ein 307 (sic!)-Seelen-Dorf in Cornwall: Ein nackter junger Mann wird an den Strand gespült, wenig später strandet ein Wal. Diese beiden sonderbaren Geschehnisse bilden den Auftakt zu einer Reihe von Ereignissen, die nicht nur das Leben der Dorfbewohner für immer verändert. Denn es steht, wie der Titel andeutet, nichts weniger als das Ende der Welt, wie wir sie kannten, bevor. Und das ist näher und realistischer, als sich manch einer – auch der Leser – denken kann, denn „manchmal ist die Übertreibung näher an der Wirklichkeit als die Wahrheit“.

Zugegeben, ich habe mich mit dem Anfang des Romans ein wenig schwergetan. Das lag zum einen am Erzählstil und der Figurenzeichnung: Der Erzähler wendet sich anfänglich einige Male direkt an den Leser:
„Sollten Sie es also einmal nach St. Piran schaffen (was gar nicht so einfach ist), werden Sie die Geschichte auf der Straße und im Pub zu hören bekommen; und sollten Sie einen der Dorfbewohner danach fragen, könnte es sein, dass diese Sie auf eine Bank setzt, von der aus man auf den wogenden Ozean blickt, und Ihnen dort genau diese Geschichte erzählen.“
Das muss man mögen; ich persönlich mag diese verschwimmende Grenze in der Regel nur bedingt. Doch letztlich habe ich mich daran gewöhnt und irgendwann störte ich mich gar nicht mehr daran, sondern wusste den nicht zu leugnenden Charme dieser Erzählform zu schätzen.

Auch mit den handelnden Figuren fremdelte ich anfänglich. Sie werden so schrullig geschildert, als seien sie einer Folge „Inspector Barnaby“ entsprungen.
Da ist zum Beispiel Charity Choke: „Sie war gerade siebzehn, mit einem so frischen Teint, dass ihre Wangen glänzten wie Kleehonig. In St. Piran sagte man, sie sei ‚spät erblüht‘ […]. ‚Bäume, die spät erblühen‘, sagte Martha Fishburne gern, ‚blühen oft am schönsten.‘ Und Martha war Lehrerin. Sie musste es also wissen.“
Oder Kenny Kennet, „der Strandgutsammler. Er durchkämmte den Kies der östlichen Bucht auf der Suche nach Muscheln und Krebsen, nach Strandgut und Treibholz. Wenn ein schönes Stück dabei war, würde er aus dem Treibholz Kunstwerke machen, die er im nächsten Sommer an Touristen verkaufen könnte.“
In dieser Form werden auch die anderen Figuren geschildert, mehr Stereotyp als wirklicher Charakter, und insgesamt etwas zu flach. Sie waren mir alle ein wenig zu überzeichnet; auch daran musste ich mich erst gewöhnen, doch dann fand ich sie in aller Schrulligkeit überaus liebenswert.

Zum anderen schien mir der Roman am Anfang nicht so richtig zu wissen, wohin er will bzw. was er denn nun eigentlich sein will. Erzählstil und Figurenentwurf schienen auf eine Schnurre hinzudeuten; dann wechselt das Setting in einer Rückblende zum Finanzdistrikt in der City of London. Der an den Strand gespülte junge Mann, Joe, entpuppt sich als Banker, der offensichtlich einen folgeschweren Fehler begangen hat. Okay, also keine Schnurre, sondern ein Wirtschaftskrimi, dachte ich – doch auch das erwies sich als Trugschluss. Ein Gespräch zwischen Joe und seinem Chef lässt schließlich die eigentliche (und ganz wunderbare!) Dimension des Romans erahnen:
„Sie sind Mathematiker. Sie wissen, was mit komplexen Systemen geschieht. Plötzlicher, dramatischer, katastrophaler Kollaps. […] Haben Sie mal von der These gehört, dass unsere Gesellschaft nur drei volle Mahlzeiten von der Anarchie entfernt ist?“

Und von da an konnte ich das Buch kaum noch aus der Hand legen. Denn hier geht es um nichts weniger als die Frage, wie dünn die Grenze zwischen Zivilisation und Anarchie ist, was das Menschsein ausmacht, kurz: was Menschlichkeit bedeutet. Deshalb: klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 25.03.2019

Wie kann es nur soweit kommen?

Kleine Schwester
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Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ...

Wann immer die Nachrichten von misshandelten, vernachlässigten, verhungerten Kindern berichten, bin ich traurig, fassungslos, schockiert und stinkwütend. Und ich frage mich: Was, zum Teufel, sind das für ‚Eltern‘, was ist das für ein Umfeld, das nichts geahnt, nichts gewusst, nichts gemerkt haben will??!

Das von mir sehr geschätzte Autorinnen-Duo Martina Borger und Maria Elisabeth Straub liefert mit seinem Roman Kleine Schwester, erschienen im Diogenes Verlag, eine Art (fiktionalen) Hintergrundbericht, wie es so weit kommen kann, wie eine solche Tragödie (auch wenn das Wort viel zu schwach dafür ist) ihren Lauf nimmt, Eigendynamik entwickelt und auf ein scheinbar unausweichliches Ende zusteuert.

Die Jessens, Mutter Ela, Vater Carl und Tochter Lilly, sind eine ganz gewöhnliche Familie. Okay, Ela will von ihrer Tochter zu deren Verdruss nicht ‚Mama‘ genannt, sondern mit ihrem Vornamen angesprochen werden, und sie will „nicht so sein […] wie andere Mütter“, mit „Pudel-Dauerwellen, dickem Hintern und Hausschuhen“, so what? Doch auch wenn Ela keine gewöhnliche Mutter sein will, so will sie auf jeden Fall eines sein: eine zweifache Mutter. Carl ist nach einer Krankheit nicht mehr zeugungsfähig und Ela, deren Gedanken bald nur noch um ihren unerfüllten Kinderwunsch kreisen, wird zusehends aggressiver, fragiler und unberechenbarer. Irgendwann scheint eine Lösung gefunden zu sein: Die Jessens nehmen die fünfjährige Lotta bei sich auf. Elas Wunsch hat sich erfüllt, das traumatisierte Heimkind Lotta – das eigentlich Dagmar heißt, doch dieser Name ist Ela zu „hässlich – hat ein neues Zuhause. Doch ‚Lotta‘ kann ihre unausgesprochene Aufgabe, nämlich Elas beschädigte Psyche zu heilen, nicht erfüllen, und Elas Euphorie über die neue ‚Tochter‘ wandelt sich langsam, aber unaufhaltsam von Zuversicht zu Frust, Gleichgültigkeit, Hass …

Ich habe das Buch vor einigen Jahren in einem Rutsch gelesen, konnte meine Augen nicht von den Seiten lösen und es nicht aus der Hand legen. Die Geschehnisse sind so ungeheuerlich und gleichzeitig aufgrund der gewählten Erzählperspektive so eindringlich, dass ich mich diesem Strudel nicht entziehen konnte. Die Geschichte der Jessens wird aus Sicht der mittlerweile zwölfjährigen leiblichen Tochter Lilly erzählt. Lilly ist einerseits unmittelbar in die Geschehnisse involviert, nimmt aber andererseits aufgrund ihres Kindseins die Rolle der handlungsunfähigen Beobachterin ein. Sie ist zu jung, um die Verantwortung für das, was in ihrem Zuhause passiert, zu übernehmen, vielleicht auch zu naiv, hilflos und loyal, um Hilfe zu erbitten. Der kindliche, fast unbeteiligte Tonfall der Ich-Erzählerin ist einerseits streckenweise nur schwer zu ertragen, verleiht aber andererseits den Ereignissen eine unglaubliche Intensität.

Ein Buch, das einem den Hals zuschnürt, das Herz verkrampft, den Kopf sprengt.

Veröffentlicht am 11.03.2019

Dieses Buch müsste man eigentlich zweimal lesen

Niemals ohne sie
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„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“
Die Cardinals sind eine außergewöhnliche Familie: Ihre 21 (sic!) Kinder wachsen wild, zwanglos und frei auf, mit eigenen, ...

„Die Familie ist eine Begegnung mit dem, was man am tiefsten in sich vergraben hat.“
Die Cardinals sind eine außergewöhnliche Familie: Ihre 21 (sic!) Kinder wachsen wild, zwanglos und frei auf, mit eigenen, selbst geschaffenen Regeln, Normen und Werten. Sie leben in der mittlerweile arg heruntergekommenen Minensiedlung Norco, einst geschaffen in der Hoffnung auf das große Geld, das die gigantischen Erzvorkommen versprachen, das dann aber aufgrund des Preisverfalls ausblieb. Der Ort gleicht mehr und mehr einer Geisterstadt, bewohnt von den wenigen verbliebenen Siedlern, von den Cardinal-Kindern als „Landeier“ verspottet und aufs Übelste drangsaliert – und eben den Cardinals selbst. In Norco sind sie „Gewinner. Wir gehören zu denen, die sich weder verbiegen noch brechen lassen, zu denen, die nur ihrem Instinkt folgen, die ihre Flügel ausbreiten und vor nichts zurückschrecken. In Norco waren wir die Kings.“ Und so führen sie sich auch auf: wie Könige, denen die Welt gehört und die sich um nichts scheren: „Manchmal zogen wir zu acht oder zehnt los. Wir gingen ein leerstehendes Haus abfackeln, das Ungeheuer mit dem langen Schwanz jagen oder sonst irgendetwas anstellen […].“
Zu diesem „Anstellen“ gehört beispielsweise die Tradition, dass die Cardinal-Kinder mit etwa sieben Jahren den Umgang mit Dynamit lernen, angeleitet von ihrem Vater: „Wenn du keine Angst vor dem Dynamit hast, bist du tot. Ich habe mehr Angst vor Dynamit als vor Anwälten.“ Oder die Anti-Landei-Kommandos, die Bärendynamitfalle sowie die berüchtigte (und höchst unappetitliche) „Katzenparade“, die hier nicht näher erläutert werden soll. Bei 21 Kindern verliert man leicht den Überblick, sollte man meinen: „tja … wir waren so viele, da gingen ein paar in der Menge unter.“ Oder gehen sie doch nicht nur „in der Menge“ unter? Was sich anlässt wie die Beschreibung einer unkonventionellen Kindheit, entpuppt sich mehr und mehr als eine Erzählung über eine mit allen Kräften geheim gehaltene Familientragödie, eine Geschichte von Liebe und Grausamkeit, von dem Wunsch, die Liebsten zu beschützen, und der späten Einsicht, dass Geheimnisse nur eine kurze Halbwertzeit haben.
Und immer wieder spielen die stillgelegte Erzmine und die unermüdliche Suche des Vaters – der im Alter von 81 Jahren zum „Erzsucher des Jahres 1995“ gekürt wird – nach Erzadern eine wiederkehrende und bedeutungsvolle Rolle. Diese Auszeichnung und der dazugehörige Festakt werden schließlich zum Anlass, das Familiengeheimnis ein für alle Mal zu enthüllen. Wobei – ist ein Geheimnis, das fast alle teilen, überhaupt noch ein Geheimnis?
„Niemals ohne sie“ ist ein bemerkenswerter Roman, sowohl inhaltlich als auch stilistisch. Das von fast allen Familienmitgliedern mühsam bewahrte Geheimnis enthüllt sich dem Leser schrittweise, wie das Häuten einer Zwiebel. Dazu wählt die Autorin eine spannende Erzählperspektive: Die Geschichte der Cardinals wird auf zwei Zeitebenen von einem personalen Erzähler berichtet – doch ist dieser Ich-Erzähler in jedem Kapitel eine andere Romanfigur. Und so, wie das Alter, der Entwicklungs- und Kenntnisstand des jeweiligen Cardinal-Kindes zum Zeitpunkt des Geschehens variiert, so unterscheiden sich auch die Inhalte der einzelnen Kapitel. Den Anfang macht Denis, genannt Matz, das Nesthäkchen der Familie. Seine Sicht ist eingeschränkt, seine Erinnerungen an die Kindheit rosig gefärbte Nostalgie. Zwar nimmt er als Erwachsener wahr, dass da irgendetwas ist, irgendein Geheimnis, an das er mit seinen Fragen rührt, das ihm jedoch nicht wirklich zugänglich ist. Er ist offenkundig der Einzige, der wirklich nichts von der Familientragödie weiß, allenfalls etwas ahnt – und so bleibt dem Leser auch nur eine vorsichtige Ahnung, dass die Vergangenheit der Cardinals mehr vorhält als eine Ansammlung von Anekdoten. Nacheinander kommen andere Cardinal-Kinder zu Wort: Émilienne, genannt Jeanne d’Arc, die Älteste, die das Geheimnis unter allen Umständen bewahren will. Carmelle, genannt Tommy, die für die Geheimniswahrung unverzichtbar ist, die aber nicht mehr schweigen will und kann. Jede der Figuren schildert ihre Sicht der Dinge und nimmt den Leser mit in ihre persönlichen Erinnerungen, Schuldgefühle, Nöte. Manches wiederholt sich, erscheint jedoch in einem anderen Licht, anderes ist neu – und so setzt sich mosaikartig eine ergreifende, erschütternde Geschichte zusammen.
Ich fand es beeindruckend, wie es Jocelyne Saucier gelingt, jeder ihrer Figuren eine eigene Stimme und einen eigenen Sprachduktus zu verleihen, dabei jedoch einen Stil zu finden, der alle einzelnen Erzähler harmonisch und flüssig miteinander verbindet. Auch die individuelle Charakterisierung der prägnanteren Figuren – einige Geschwister gehen für den Leser tatsächlich „in der Menge unter“, 21 Protagonisten wären dann doch zu viel – ist eine Leistung, die man nicht genug würdigen kann: ihre Eigenheiten, Marotten und nicht zuletzt die fantasievollen Spitznamen, die die Kinder einander gegenseitig verleihen („Gelber Riese“, „Wapiti“, „Gandhi“, „El Toro“ u. v. m.), verleihen den Figuren eine bemerkenswerte Plastizität und Lebendigkeit.
„Niemals ohne sie“ ist aus meiner Sicht unbedingt lesenswert. Eigentlich müsste man es sogar zweimal lesen, da sich erst bei der zweiten Lektüre, nachdem sich dem Leser das Geheimnis enthüllt hat, die vielen kleinen Hinweise und Andeutungen erschließen.
Am Ende blieben mir nur zwei Fragen: 1.) Warum hat es fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis der Roman für den deutschen Buchmarkt entdeckt wurde? 2.) Warum, Herrschaftszeiten, musste man den wunderbaren, überaus passenden Originaltitel „Les héritiers de la mine“ („Die Erben der Mine“) zu dem absolut nichtssagenden „Niemals ohne sie“ umformulieren?!

[Rezensionsexemplar]

Veröffentlicht am 17.02.2019

Modernes Familienleben aus Sicht des jungen Vaters - interessant

Neujahr
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So atemlos, fast fiebrig, wie der Protagonist Henning im Familienurlaub auf Lanzarote am Neujahrsmorgen den Berg auf einem geliehenen Mountainbike erklimmt, habe ich die erste Hälfte des Romans gelesen. ...

So atemlos, fast fiebrig, wie der Protagonist Henning im Familienurlaub auf Lanzarote am Neujahrsmorgen den Berg auf einem geliehenen Mountainbike erklimmt, habe ich die erste Hälfte des Romans gelesen. Während Henning sich abmüht, denkt er über sein Leben nach, die beiden kleinen Kinder, die Ehefrau, mit der er ganz gerecht alle Pflichten teilen wollte - und über seine eigene Befindlichkeit, die immer knapp am Burnout, kurz vor der totalen Erschöpfung und dem Gefühl, den Alltag bald nicht mehr bewältigen zu können entlangschrammt. Hennings Leben pendelt irgendwo zwischen ‚eigentlich‘ und ‚irgendwie‘, eigentlich geht es ihm doch gut und irgendwie bekommt er ja auch alles hin. Aber er lebt nicht - oder nicht mehr - ‚wirklich‘ oder ‚tatsächlich‘:
„Für Henning ist das Leben zu einer Aneinanderreihung von inneren Zuständen geworden, schlechten, sehr schlechten und halbwegs guten. Schönes Wetter und berufliche Erfolge betreffen ihn nicht mehr. Alles Kulisse.“ (S. 38)
Ich fand es faszinierend, diese Gedanken und Gefühle einmal aus männlicher Sicht geschildert zu bekommen, und stellte mir unweigerlich die Frage, wie viele Väter in meinem Umfeld ähnlich empfinden mögen, ohne es zuzugeben. Henning könnte ein Nachbar sein, ein Arbeitskollege, der Mann der besten Freundin ...
Die Metaphorik fand ich zwar zugegebenermaßen etwas zu vordergründig - Henning kämpft sich einen Berg hinauf und ist dafür eigentlich (!) nur unzureichend gerüstet (das Mountainbike ist nicht optimal, er hat keine Verpflegung eingepackt und Wasser hat er auch vergessen), irgendwie (!) schafft er es aber doch -, aber sie passt einfach zu gut.
Dann setzt der zweite Teil ein, der (keineswegs grundlos) von einigen kritisiert wurde. Henning - so viel darf verraten werden, ohne zu viel zu verraten - erinnert sich an seine Kindheit, genau genommen an ein einschneidendes Erlebnis. Ich kann die Kritiker verstehen, die mit diesem zweiten Teil etwas „fremdeln“, aber ich halte ihn nicht für vollkommen misslungen. Was mir indes wirklich aufgestoßen ist, ist die Wendung, mit der Juli Zeh diesen zweiten Teil einleitet. Ohne jenen, die das Buch noch nicht kennen, zu viel verraten zu wollen: Diese Nummer hätte ich eher bei einem Kate-Morton- oder Lucinda-Riley-Schmöker erwartet (und sie dort auch verziehen), aber, sorry, nicht bei Juli Zeh! Zumal es dieser literarischen Kapriole aus meiner Sicht auch nicht zwingend bedarf, um Hennings halbverschüttete Erinnerung wachzurufen ...

Mein Fazit: Mir hat das Buch - trotz besagter ‚Kapriole‘ - ausgesprochen gut gefallen, wenngleich es meiner Meinung nach nicht an Unterleuten heranreicht.