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Veröffentlicht am 08.06.2020

Netter Schmöker nach bewährtem Muster

Die verlorene Frau
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1960. Es ist eine stürmische Nacht, in der die Eltern der damals 13-jährigen Rebecca in dem malerischen, am Meer gelegenen Cottage „Seaview“ gewaltsam ums Leben kommen. Wie viel hat das zutiefst verstörte ...

1960. Es ist eine stürmische Nacht, in der die Eltern der damals 13-jährigen Rebecca in dem malerischen, am Meer gelegenen Cottage „Seaview“ gewaltsam ums Leben kommen. Wie viel hat das zutiefst verstörte Mädchen mitbekommen? Und wer war der geheimnisvolle Besucher, der kurz zuvor an die Tür geklopft hat? Gibt es ihn überhaupt?
2014. Unmittelbar nach der Entbindung verschwindet Jessie mit ihrem Neugeborenen aus der Klinik in die eisige Novermberkälte. Die junge Frau befindet sich in einer seelischen Ausnahmesituation, das Baby braucht dringend medizinische Hilfe. Jede Sekunde zählt.
Jessies Halbschwester, die Journalistin Iris, macht es sich zur Aufgabe, Mutter und Kind zu finden. Doch dazu ist sie auf die Hilfe ihrer gemeinsamen Mutter angewiesen: Rebecca. Sie ist die Einzige, die weiß, was in jener schicksalhaften Nacht vor über fünfzig Jahren wirklich geschehen ist. Und sie ist die Einzige, die wertvolle Hinweise auf den möglichen Verbleib ihrer älteren Tochter und des Enkelkindes geben kann. Doch dazu muss sie ihr jahrzehntelanges Schweigen brechen.

Emily Gunnis‘ Roman „Die verlorene Frau“ (Deutsch von Carola Fischer) wird, wie schon ihr vorheriger Roman „Das Haus der Verlassenen“, auf verschiedenen Zeitebenen erzählt. Und das macht den Einstieg in die Geschichte etwas schwer, denn auch innerhalb der unterschiedlichen Zeitebenen werden Zeitsprünge vollführt. Auch die damit einhergehende Vielzahl an Figuren erschwert es, der Handlung von Anfang an zu folgen. Allerdings gibt sich das Problem mit fortschreitender Lektüre, nach den ersten Kapiteln findet man sich in den Handlungssträngen gut zurecht. Das ist jedoch nicht das Einzige, was die beiden Romane der Autorin miteinander verbindet. Hier wie dort steht eine junge Journalistin im Fokus, die eine lange zurückliegende tragische Familiengeschichte aufdecken muss, um die Ereignisse der Gegenwart zu begreifen. Des ungeachtet ist „Die verlorene Frau“ ein Schmöker, der insbesondere ab der zweiten Hälfte zu fesseln vermag und angenehme Lesestunden beschert. Allerdings würde ich empfehlen, die Romane nicht in kurzer Zeit aufeinanderfolgend zu lesen, dafür ähneln sie sich in ihrem Aufbau und der Figurenzeichnung dann doch zu sehr.

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Veröffentlicht am 04.06.2020

Eine charmante und sprachlich fulminante literarische Wiederentdeckung

Hotel du Lac
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Urlaub. Das ist es, was Edith jetzt braucht. Zumindest sind sich ihre wohlmeinenden (?) Freunde darüber einig. Auf jeden Fall muss sie raus aus England, nach dem, was sie sich geleistet hat. Und so findet ...

Urlaub. Das ist es, was Edith jetzt braucht. Zumindest sind sich ihre wohlmeinenden (?) Freunde darüber einig. Auf jeden Fall muss sie raus aus England, nach dem, was sie sich geleistet hat. Und so findet sich die eigensinnige und ein wenig eigenbrötlerische Schriftstellerin im titelgebenden Hotel du Lac am Genfer See wieder, jenem unter seinen Stammgästen beliebten Haus, in einem Zimmer, das „in der Farbe von zu lange gekochtem Kalbfleisch“ gehalten ist und an dessen Wänden „eine ferne Erinnerung an schwere Mahlzeiten zu haften“ scheint. Die Saison ist so gut wie vorbei und außer Edith befinden sich nur noch wenige Gäste in dem Hotel, das als Ort bekannt ist, „der einem vom Leben Misshandelten oder auch nur Erschöpften einen erholsamen Aufenthalt garantierte“. Sie trifft auf ein irritierend inniges Mutter-Tochter-Gespann, auf eine von ihrer Familie vergessene Comtesse, die magersüchtige Gattin eines Adeligen, der sich einen Erben wünscht. Und auf einen potenziellen Heiratskandidaten. Denn ist es nicht das, was Edith eigentlich braucht? Weder Ruhe noch Abstand, sondern „eine gesellschaftliche Position“ in Form einer Ehe? Eben darin lag, wie im Laufe der Handlung offenbart wird, Ediths beispielloser Fauxpas (als Leserin möchte man hingegen meinen, es sei vielmehr ein beispielloser Akt gesunden Menschenverstandes), der ihr nicht ganz freiwilliges Exil begründete: Sie, die nicht mehr ganz Junge, auch nicht überragend Schöne und damit auf dem Heiratsmarkt nicht allzu Chancenreiche, hat ihren Bräutigam sitzenlassen. Vor dem Altar. Beim Anblick seiner „ganzen[n] mausartige[n] Spießigkeit“ konnte sie nicht anders. (Und man will sie dazu nur beglückwünschen!) Des ungeachtet ist die Chance auf eine „sichere, vernünftige Zukunft“ allerdings irgendwie auch verlockend …

Anita Brookners 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichneter Roman „Hotel du Lac“ ist eine der charmantesten literarischen Wiederentdeckungen, die ich seit Langem gelesen habe – auch wenn mir die in Ediths Umfeld allgegenwärtige Obsession, eine Frau gehöre verheiratet, allzu oft ein überraschtes Stirnrunzeln entlockte. Denn diese Haltung hätte ich aus heutiger Sicht allenfalls in den Fünfzigerjahren verortet. Ernsthaft: Waren wir, war die Gesellschaft in den Achtzigern nicht schon viel, viel weiter?! Neben dem atmosphärischen Handlungsort, der irgendwo zwischen Thomas Manns „Zauberberg“ und Vicki Baums „Menschen im Hotel“ angesiedelt ist, den spleenigen Figuren und der in ihrer latenten Verpeiltheit entzückenden Protagonistin ist „Hotel du Lac“, wie meine außergewöhnlich zahlreichen Zitate schon andeuten, insbesondere in sprachlicher Hinsicht ein wahrer Lesegenuss.

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Nicht mehr so skandalös wie in den Achtzigern, dennoch (odergerade deswegen?) lesenswert

Bad Behavior. Schlechter Umgang
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Sexualität. Begehren. Obsession. Das ist es, was Mary Gaitskills Figuren umtreibt. Sei es die Kollegin, der One-Night- oder auch More-Nights-Stand, sei es die goldige, das Herz erwärmende Prostituierte: ...

Sexualität. Begehren. Obsession. Das ist es, was Mary Gaitskills Figuren umtreibt. Sei es die Kollegin, der One-Night- oder auch More-Nights-Stand, sei es die goldige, das Herz erwärmende Prostituierte: Sie wecken Wünsche und Begehrlichkeiten, ohne die eigentliche Sehnsucht nach Liebe und Nähe wirklich befriedigen zu können.

Zugegeben, nach Büchern wie „Cat Person“, ganz zu schweigen von „Fifty Shades of gähnende Langeweile“ (hieß doch so, oder?), nehmen sich Gaitskills 1988 erstmalig erschienene Kurzgeschichten (Deutsch von Nikolaus Hansen), geradezu brav aus. Der Blick auf das, was schockiert, hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten offenbar zu sehr gewandelt. Und doch muss man sich bei der Lektüre von „Bad Behavior“ vor Augen halten, dass dies vor mehr als zwanzig Jahren durchaus eine neue Stufe weiblichen Literaturschaffens darstellte: Ein unverstellter Blick auf unterdrückte bzw. nur mühsam ausgelebte Triebe, geschrieben von einer Frau; dabei wertet Gaitskill nie, sie beobachtet, beschreibt, erzählt. Gibt es Böse, gibt es Gute? Gibt es Täter, gibt es Opfer? Gibt es überhaupt diese Unterscheidung, und schließt das Eine das Andere aus?

Auch wenn „Bad Behavior“ heute vielleicht nicht mehr ganz so aufzurütteln vermag wie in den Achtzigern, stellt es doch eine lohnenswerte Lektüre dar; nicht nur, weil es einem die veränderten Lesegewohnheiten und vielleicht auch eine Verschiebung moralisch geprägter Anstandsvorstellungen vor Augen führt, sondern weil es schlicht und ergreifend richtig gut erzählt ist.

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Klug und unaufgeregt, mit einer interessanten Hauptfigur

Unter Wölfen
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Der Sticker auf dem Buch preist die Autorin Alex Beer als „preisgekrönt und hochgelobt“. Man mag es einer nicht eingestandenen Misanthropie oder der Charakterschwäche eines grundlegenden Misstrauens gegenüber ...

Der Sticker auf dem Buch preist die Autorin Alex Beer als „preisgekrönt und hochgelobt“. Man mag es einer nicht eingestandenen Misanthropie oder der Charakterschwäche eines grundlegenden Misstrauens gegenüber Lobpreisungen zuschreiben, aber solche Ankündigungen machen mich immer ein wenig skeptisch. In diesem Fall ließ ich mich aber von Herzen gern eines Besseren belehren und kann dem Lob nur beipflichten! „Unter Wölfen“ ist ein kluger, im besten Sinne unaufgeregt erzählter, gleichwohl fesselnder Krimi mit einer ausgesprochen interessanten Hauptfigur, die auf angenehme Weise bekannte Settings und Figuren konterkariert. Und darum geht’s:

Nürnberg, 1942: Isaak Rubinstein, ehemaliger Antiquar und nun, nach der „Arisierung“ seines Antiquariats Zwangsarbeiter in einer Munitionsfabrik, erhält einen „Evakuierungsbescheid“ für sich und seine Familie, bestehend aus seinen betagten Eltern, der alleinstehenden Schwester und ihren beiden Kindern. Noch sind es nur Gerüchte, die sich um diese „Evakuierungsmaßnahmen“ ranken, doch insgeheim ahnt jede*r, dass es keine Wiederkehr gibt. In seiner Verzweiflung wendet Isaak sich an seine ehemalige Geliebte, der Kontakte zum Widerstand nachgesagt werden. Clara erklärt sich bereit, Isaak zu helfen, allerdings unter einer Bedingung: Er soll sich als der stramm nationalsozialistische Kriminalbeamte Adolf Weissmann ausgeben, der aus Berlin angefordert wurde, um den Mord an einer bekannten und beliebten Schauspielerin aufzuklären. Sie war pikanterweise die Geliebte des Leiters des sog. Judenreferats, in dessen Räumlichkeiten auch ihre Leiche aufgefunden wurde. Isaak soll die Gestapo infiltrieren und jene brisanten Dokumente beschaffen, die „die“ Konferenz am Wannsee protokollieren. Was weder Isaak noch Clara wissen, ist, dass der echte Adolf Weissmann den Anschlag, der auf ihn verübt wurde, überlebt hat …

Krimis, die während der Nazidiktatur spielen, sind kein Novum. Doch das Besondere an Alex Beers Buch ist, dass es ihr gelingt, gängige Klischees zu umgehen und allen Figuren, auch den zweifellos unsympathischen, eine Tiefe zu verleihen, die sie weniger als Typen denn als Charaktere erscheinen lassen. Isaaks moralischer Zwiespalt, seine zunehmende Angst, enttarnt zu werden, seine Versuche, trotz fehlender kriminalistischer Ausbildung den Fall zu lösen und gleichzeitig Menschenleben zu retten, werden so eindringlich skizziert, dass ich förmlich mit ihm mitgefiebert habe. Dabei lässt die Autorin keinen Zweifel an der Unmenschlichkeit und Monstrosität des Nationalsozialismus, verfällt aber nichtsdestotrotz nie ins Reißerische oder in Effekthascherei.

Große Leseempfehlung an alle, die einen klugen historischen Kriminalroman zu schätzen wissen!

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Veröffentlicht am 25.05.2020

Ein dichtes, intensives Leseerlebnis

Max, Mischa und die Tet-Offensive
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„Mensch zu sein, ist ein Vollzeitjob, Max.“

Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel ...

„Mensch zu sein, ist ein Vollzeitjob, Max.“

Den Inhalt dieses Romans so zusammenzufassen, dass man ihm gerecht wird, ist schwierig, wenn nicht gar unmöglich. Es ist ein bisschen Coming-out und ganz viel Coming-of-Age, es handelt von Freundschaft und Einsamkeit, von Liebe und Trennung. Es geht um Kunst und Literatur, Theater und Film, um Selbstsuche, Selbstfindung, Selbstausdruck. Und es geht um nationale Traumata und individuelle Bewältigungsversuche, all das dicht beschrieben und geschrieben auf über 1200 Seiten.

Ich habe eine Weile gebraucht, um in das Buch hineinzufinden und mich auf die Geschichte einzulassen. Doch es hat sich mehr als gelohnt. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt während einer Romanlektüre so viel nebenher recherchiert habe (was allerdings auch meinen bis dato sehr überschaubaren Kenntnissen über den Vietnam-Krieg geschuldet war).

Johan Harstad schreibt detailliert und ausführlich, ohne dass ich es je als Länge oder Redundanz empfunden hätte. Die Geschichte, die er erzählt, ist durchzogen von Melancholie, dabei doch stets von einer unterschwelligen Hoffnung getragen, denn:

„Es gibt keine Helden; es gibt nur Leute, die sich abmühen, Leute, die versuchen, ihr Bestes zu tun.“

Max, Mischa und die Tet-Offensive (aus dem Norwegischen von Ursel Allenstein) ist eine intensive, lohnenswerte Lektüre und schon jetzt eines meiner Jahres-Highlights 2020.

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