Profilbild von dr_y_schauch

dr_y_schauch

Lesejury Profi
offline

dr_y_schauch ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit dr_y_schauch über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.05.2020

Unterhaltsam wie ein Roman - und doch viel mehr als das

Dichterkinder
0

Es ist eine sehr spezielle Clique, die sich in den 1920er Jahren zusammenfindet: wild und doch bourgeois, künstlerisch begabt und doch überschattet von den übergroßen Vätern, sexuell freizügig und doch ...

Es ist eine sehr spezielle Clique, die sich in den 1920er Jahren zusammenfindet: wild und doch bourgeois, künstlerisch begabt und doch überschattet von den übergroßen Vätern, sexuell freizügig und doch gefesselt durch gesellschaftliche Zwänge. Sie heißen Erika und Klaus Mann, Pamela Wedekind, Dorothea „Mopsa“ Sternheim, sie sind eng miteinander befreundet (und in unterschiedlichen Konstellationen bisweilen auch mehr als das), sie experimentieren mit der Kunst, der Liebe und mit Drogen, und allesamt sind sie, wie der Titel sagt, „Dichterkinder“. Sie ziehen zeitweise andere in ihren Bann (oder umgekehrt): Gustaf Gründgens, Gottfried Benn, Annemarie Schwarzenbach. Sie erleben ungezügelte Jahre, sind mehr als einmal Gegenstand der Klatschpresse und Verursacher von Skandalen – bis das Jahr 1933 unwiderruflich das Ende einläutet.

Ich habe „Dichterkinder“ ausgesprochen gern gelesen. Zwar war mir vieles, was die Geschwister Mann betrifft, durchaus bekannt, doch durch die im Fokus stehende Freundschaft der beiden zu Mopsa Sternheim und Pamela Wedekind bekamen selbst vertraute Tatsachen für mich eine neue, intimere Qualität. Die Leidenschaft und Begabung, die Zerrissenheit und der Freiheitsdrang, die Suche nach künstlerischer und sexueller Selbstverwirklichung, der unselige, zerstörerische Hang zu Drogen und Schwermut, die alle vier „Dichterkinder“ in sich tragen, ziehen sich als roter Faden durch diese detailreiche und fesselnde Biografie. Einen besonderen Pluspunkt stellt für mich Armin Strohmeyrs ausgeprägtes erzählerisches Talent dar: „Dichterkinder“ liest sich so flüssig wie ein Roman, ohne dabei je ins Voyeuristische oder Sensationsheischende abzugleiten. Strohmeyr erzählt überaus unterhaltsam, bisweilen ein wenig anekdotenhaft, doch gleichzeitig eindringlich und sensibel.

Wer sich bereits ausführlich mit einem oder mehreren der vier Dichterkinder beschäftigt hat (bei den meisten dürften das die Mann-Geschwister sein), wird möglicherweise nicht allzu viele neue Erkenntnisse, aber vielleicht einen neuen Blickwinkel gewinnen. Wer indes einfach gerne Biografien liest und sich vor allem für die 1920er Jahre interessiert, findet in „Dichterkinder“ einen interessanten, informativen und fesselnden Lesestoff.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.05.2020

Nicht ganz, was ich erwartete

Erlöst
0

„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles ...

„‚Ich bin in einem Kult aufgewachsen‘, sagte ich. […] Wir trugen Kopftücher. […] Wir durften uns das Haar nicht schneiden. Fernsehen, Zeitungen, Radio, Kino, Ferien, Haustiere, Armbanduhren, das alles war verboten.‘“ (S. 24)

Rebecca Stott hat ihre Kindheit und Jugend bei den „Plymouth Brethren“, einer fundamentalistischen christlichen Sekte, der ihre Familie seit Generationen angehört, in Brighton verbracht. Während ihre Altersgenossen die freiheitsliebenden, bunten Sechziger und Siebzigerjahre genossen, war ihr Leben geprägt von strengen Regeln und drakonischen Strafen, von wortführenden, bestimmenden Männern und kuschenden, devoten Frauen. Ihre im Titel genannte „Erlösung“ hat sie ihrem Vater zu verdanken, der der Sekte schließlich den Rücken kehrte und seinen Kindern damit einen Weg in die Normalität ermöglichte. Auf dem Sterbebett bittet er seine Tochter, ihm bei seinen Memoiren zu helfen, um die Geschichte ihrer Familie, die mit der Geschichte der Sekte auf das Engste verbunden ist, festzuhalten.

Ich muss gestehen, dass „Erlöst“ mich nicht so gefesselt hat, wie ich es erwartet hatte. Ich vermutete eine Lebensgeschichte, die Deborah Feldmans „Unorthodox“ ähnelt – doch das ist sie nicht. Rebecca Stott beschreibt ausführlich die Geschichte der Sekte von ihren Anfängen bis zu ihren heutigen Ausprägungen. Und es ist zweifellos wichtig, die Charakteristika dieser Glaubensgemeinschaft ausführlicher zu beleuchten, da sie den wenigsten Leser*innen geläufig sein dürften. Diese chronikartige Abhandlung verquickt sie mit der generationenübergreifenden Geschichte ihrer Familie, ihren eigenen Lebenserfahrungen in der Bruderschaft sowie der Entstehungsgeschichte des Buches. Damit erschafft sie ein umfassendes und zugleich persönliches Panorama – das mich indes gerade aufgrund dieser vielen Facetten, die einander thematisch abwechseln, leider nicht wie erhofft berühren konnte.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 05.05.2020

Fesselnd und mit einer verblüffenden Auflösung, sprachlich leider nicht ganz überzeugend

In den Fängen des Waldes
0

Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar ...

Nein, er hat sich nicht einfach abgesetzt. Auch wenn die Tragödie, die die Familie heimgesucht hat, ein plausibles Motiv ergäbe. Nein, das hätte er nie getan, das hätte er ihr nie angetan. Und schon gar nicht hätte er die gemeinsame kleine Tochter mitgenommen. Ella ist fest überzeugt: Wochenendtrip, den ihr Mann vor einigen Wochen in die undurchdringlichen Wälder Eschheims in Begleitung der kleinen Tochter unternommen hat und von dem beide nicht zurückkehrten, hat ein furchtbares Ende genommen. Auch wenn der Kommissar mit dem gegelten Haar keinerlei Anhaltspunkte für ein Verbrechen findet und Ella mit schwindender Geduld zu beruhigen versucht. Ella macht sich selbst auf den Weg, um auf eigene Faust nach ihrem Mann und ihrer Tochter zu suchen – die nicht die ersten sind, die in den Wäldern spurlos verschwunden sind. Was ist mit der merkwürdigen Kommune, die weltabgeschieden im Wald haust und deren Mitglieder kaum jemand sieht? Könnten sie etwas mit dem Verschwinden ihrer Familie zu tun haben? Und was hat es überhaupt mit diesen Wäldern auf sich, in denen es zu spuken scheint? Schnell hat Ella einen Verdächtigen ausgemacht. Hat sie mit ihrer Vermutung recht? Ist ein Verbrechen geschehen? Und wie könnte sie ihre Vermutung beweisen? Ella erhält Hilfe von unerwarteter Seite – und bringt sich selbst in Gefahr …

„In den Fängen des Waldes“ ist zweifellos ein gelungener Thriller: spannend, lange Zeit undurchsichtig und ein bisschen gruselig. Die sich nach und nach enthüllende zugrundeliegende Geschichte ist überaus originell und bildet eine frische und neue Abwechslung zu den üblichen Thriller-Strickmustern.

Was mich allerdings gestört hat, ist die Sprache. Nein, ein Thriller muss nicht pulitzerpreisverdächtig geschrieben sein. Er soll in erster Linie spannend und unterhaltsam erzählen. Doch die zahlreichen – und bisweilen etwas verrutschten – Sprachbilder, Metaphern und Vergleiche riefen bei mir das eine oder andere unwillige Stirnrunzeln hervor. Da trifft eine Erkenntnis die Protagonistin „wie eine Tracht Prügel in die Magengrube“, in ihrem Kopf „wirbeln Schmerzen und Schwindelgefühle herum wie Wäsche in einer Waschmaschine“, Horrorszenarien „sausen wie Papierflieger“ durch ihren Kopf, jemand „summt ein Lied, so düster wie die schwarzen Tasten am Klavier“. Dazu kommt eine streckenweise recht eigenwillige Kommasetzung und der eine oder andere Schreibfehler. Das ist ausgesprochen schade, denn es hat meinen Lesegenuss doch ein wenig getrübt – und wäre gleichzeitig mit einem etwas sorgfältigeren Lektorat zu vermeiden gewesen. Wer sich indes, anders als ich, an solchen Feinheiten nicht stört, großzügig über sie hinwegliest oder sie nicht bemerkt, wird mit einer ausgesprochen fesselnden Geschichte und einer verblüffenden Auflösung belohnt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 24.04.2020

Schön schaurig

Das Dorf der toten Seelen
0

Es kommt selten vor, dass ich bis in die frühen Morgenstunden lese ... doch heute war es mal wieder soweit. Zu verdanken habe ich meine sehr kurze Nacht diesem Roman. Und darum geht‘s:

Schweden 1959. ...

Es kommt selten vor, dass ich bis in die frühen Morgenstunden lese ... doch heute war es mal wieder soweit. Zu verdanken habe ich meine sehr kurze Nacht diesem Roman. Und darum geht‘s:

Schweden 1959. Von einem Tag auf den anderen verschwinden alle Einwohner*innen eines kleinen Bergarbeiterdorfes spurlos. Einzig ein Neugeborenes findet man, sich selbst überlassen, im Zimmer der Schulkrankenschwester - und die Leiche einer offenbar gesteinigten Frau an einem provisorischen Schandpfahl.
60 Jahre später macht sich ein kleines Filmteam auf den Weg in das Dorf, um dem Geheimnis auf den Grund zu gehen. Das Verhältnis unter den fünf jungen Menschen untereinander ist angespannt, nicht alle vertrauen einander, einige Mitglieder haben ein persönliches Interesse an dem mysteriösen Fall - wahrlich keine guten Startbedingungen. Vom ersten Tag an sehen sie sich mit unerklärlichen Vorfällen konfrontiert - oder doch nicht?
Da waren doch Schritte - oder doch nicht?
Da war doch ein Lachen - oder doch nicht?
Ein Summen? Ein Singen? Oder doch nicht?
Eine Gestalt im Regen - oder doch nicht?
Die Unfälle mehren sich, die Moral in der Gruppe sinkt. Ob alle dieses Abenteuer überleben?

"Das Dorf der toten Seelen" wird auf zwei Zeitebenen erzählt. Beide Erzählstränge bauen die schaurige Spannung kontinuierlich auf, und fast bis zum Ende ist unklar, ob die Geschehnisse einem Spuk, der Sabotage eines der Crewmitglieder oder doch etwas ganz Anderem geschuldet sind.

Wer "Kalte Wasser" mochte, der wird auch diesen Roman verschlingen. Deshalb: Große Leseempfehlung für alle, die es schaurig, spannend und mysteriös mögen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.04.2020

Sehr charmant

Munkey Diaries
0

Biografie, Autobiografie, Tagebücher – es gibt verschiedene Arten, sich als Leserin einer historischen oder prominenten Person zu nähern. Je nach Genre variiert die (vermeintliche) Intimität, gleichzeitig ...

Biografie, Autobiografie, Tagebücher – es gibt verschiedene Arten, sich als Leserin einer historischen oder prominenten Person zu nähern. Je nach Genre variiert die (vermeintliche) Intimität, gleichzeitig stelle ich mir die Frage, wie subjektiv oder kuratiert die Lebenseinblicke sein mögen.

Jane Birkin schreibt Tagebuch, seit sie elf Jahre alt ist. Und mit diesen Tagebucheinträgen der kleinen Jane beginnt ihr Buch „Munkey Diaries“ (aus dem Französischen von Barbara Heber-Schärer), das seinen Titel einem Plüschaffen verdankt, wie sie uns im Vorwort wissen lässt. Er hat sie ihr Leben lang begleitet – bis er mit Serge Gainsbourg bestattet wurde. Doch dies ist nur eines der beiläufigen Details, die Jane Birkin aus ihrem ereignisreichen Leben erzählt. Sie war bzw. ist Schauspielerin, Mutter, Tochter, Schwester – und nicht zuletzt eine große Liebende, eine, die ihr Herz mit jeder Faser verschenkt, die sich hingibt: emotional und mental.

Die Liebe ist das zentrale Motiv, das sich durch ihre Tagebücher zieht. Die Liebe zu ihrem Vater. Zu ihren Töchtern. Und natürlich auch zu ihren Männern. Birkins Tagebücher zu lesen – deren Einträge sie dankenswerterweise an zahlreichen Stellen erläutert und kommentiert – ist ein Ausflug in eine unwiederbringlich verlorene Zeit, eine ganz eigene Welt – die indes trotz aller Berühmtheit, aller illustren Freund
innen und allen Glamours verblüffend selbstverständlich und unspektakulär geschildert wird.

Ich habe Jane Birkins Tagebücher sehr gern gelesen und kann die Lektüre allen, die sich für diese außergewöhnliche und dabei offenbar so normale Frau, für Serge Gainsbourg und/oder die Zeit der Sechziger- und Siebzigerjahre interessiert, empfehlen. Und was den Grad des eingangs erwähnten Kuratierens betrifft, so äußert sich Jane Birkin wie folgt:

„Tagebücher sind zwangsläufig ungerecht, man deckt seine Karten auf, beklagt sich; sonst gibt es immer verschiedene Versionen, aber hier gibt es nur die meine … Ich habe mich entschlossen, nichts zu verändern, und glauben Sie mir, es wäre mir lieber, meine Reaktionen wären reifer und vernünftiger gewesen, als sie waren. ich habe weggelassen, was andere hätte verletzten können, aber es ist sehr wenig.“

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere