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Veröffentlicht am 18.11.2024

Ein herausragender Roman

Oben in den Wäldern
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Der Wald – schon immer war er von zentraler Bedeutung in der Literatur, voller Symbolkraft und Mystik. Mason setzt mit seinem Werk den North Woods, den nördlichen Wäldern Massachusetts, ein literarisches ...

Der Wald – schon immer war er von zentraler Bedeutung in der Literatur, voller Symbolkraft und Mystik. Mason setzt mit seinem Werk den North Woods, den nördlichen Wäldern Massachusetts, ein literarisches Denkmal, dessen Üppigkeit an Sprachstilen, Genre und Figuren in meinen Augen der immensen Vielfalt des Waldes gleichkommt. Ein Meisterwerk, das zu meinen Jahreshighlights zählt.
Es beginnt mit der Flucht eines Paares aus einer puritanischen Kolonie, die in den North Woods endet, wo sie sich am siebten Tag niederlassen.

»Alles war so licht und rein … Am Bach fand er einen breiten, flachen Stein, brach ihn aus der Erde und trug ihn zurück zur Lichtung, wo er ihn behutsam auf den Boden legte. Hier.« S.15

Der Wald wird über 4 Jahrhunderte stummer Zeuge einer Vielzahl von Menschen, die sich an dessen Rand in einem kleinen gelben Haus niederlassen und eine Heimat in dieser verlassenen Gegend finden. Das Haus selbst ist es, das diese Geschichten bewahrt, die geprägt sind von Pioniergeist und Beharrlichkeit, aber auch Eifersucht, unglücklicher Liebe, Krankheit und Mord.
Eine von den Ureinwohnern Amerikas verschleppte Frau; ein englischer Soldat, der Apfelbauer werden will, in den Augen der Anderen aber von seiner »Pomomanie« geheilt werden muss; dessen Zwillingstöchtern, die zwar äußerlich gleich, aber charakterlich kaum verschiedener sein könnten; ein Sklavenjäger; eine Scharlatanin, die eine Séance abhält; ein Schizophrener, der von Waldspaziergängen besessen ist und seiner Schwester geheimnisvolle Super-8-Filme vererbt; ein True-Crime-Reporter, der einen Jahrhunderte zurückliegenden Massenmord aufklären will. Und ein liebestoller Käfer, der seiner Angebeteten in die kunstvollen Gänge ihrer Fresspuren folgt. Zu all den Zeitzeugen des Werdens und Vergehens gesellen sich noch viele klein und große Waldbewohner, eingeschleppte Sporen, Käfer, Berglöwen und unzählige Baumarten.

Mason gelingt es, die 12 kaleidoskopartigen Geschichten geschickt miteinander zu verweben. Mason passt seinen Schreibstil der jeweiligen Epoche an, wechselt zwischen den Perspektiven und Formen, reiht zwischen den Erzählungen Briefe, Gedichte und Zeitungsberichte aneinander und beweist damit größtes handwerkliches und schriftstellerisches Können, das mir bisher nur selten begegnet ist. Und dann sind da noch die kleinen »Oh«-Momente, die mir ein Schmunzeln entlocken. Während einzelne Protagonisten vor Rätseln stehen, bin ich als Leserin ihnen immer einen Schritt voraus, weiß von den losen Enden anderer Geschichten und bewundere Masons schriftstellerischen Kniffe, diese zu Ende zu führen.

Würde ich es beschreiben wollen, wäre es so ähnlich, wie einen dichten Wald zu betreten – wenn sich die Augen an die Dunkelheit gewöhnt haben, entdeckt man zuerst Umrisse, dann Einzelheiten, Geräusche, Gerüche. Und so wird auch dieses Buch zu einer Sinfonie an True Crime, Schauergeschichte, Nature Writing und verbindet sich letztlich zur Historie eines Landes. Es ist eine Geschichte des ständigen Wandels, unserer Beziehung zur Natur, unserem Zutun an deren Zerstörung. Was bleibt von uns übrig, was ist wirklich von Bedeutung?

Am Ende bin ich mir sicher, das nicht nur wir den Wald beobachten, sondern er uns – mit der gleichgültigen Gewissheit, dass er schon lange vor uns da war und es auch nach uns sein wird.

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Veröffentlicht am 09.11.2024

Eine gelungene Mischung aus Krimi und Schauergeschichte

Das Haus der Bücher und Schatten
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1933
Der Ex-Kriminalkommissar Cornelius Frey rettet eine junge Frau, bevor sie sich vor einen Zug werfen kann. Sie scheint wenig erfreut und ihre letzten Worte gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf:

»Sie ...

1933
Der Ex-Kriminalkommissar Cornelius Frey rettet eine junge Frau, bevor sie sich vor einen Zug werfen kann. Sie scheint wenig erfreut und ihre letzten Worte gehen ihm nicht mehr aus dem Kopf:

»Sie weinen alle im Keller ohne Treppe.«

Keine 24 Stunden später findet er sie zusammen mit einem Polizisten ermordet im Hinterhof der Deutschen Bibliothek, in der Frey seit seiner Suspendierung Nachtschichten schiebt. Alles erscheint merkwürdig arrangiert und weckt seine Neugier. Aufgrund des Personalmangels bekommt er seinen Job zurück, doch das heißt noch lange nicht, dass seine Chefs an der wahrheitsgemäßen Aufklärung des Mordes interessiert sind. Auf der Suche nach dem Täter gerät Cornelius in ein undurchsichtiges Netz von Spitzeln, Okkultisten, Freimaurern und Fanatikern. Die Spur führt aber auch zu einem Ereignis vor 20 Jahren im fernen Baltikum.

1913
Die Lektorin Paula Engel reist mit ihrem Kollegen und Verlobten Jonathan ins verschneite Livland, um sich das längst überfällige Manuskript des egozentrischen Erfolgsautors Aschenbrand aushändigen zu lassen. Es könnte das Überleben des Verlags bedeuten, doch der Schriftsteller hält sie hin. Während sie immer mehr an der Existenz des Manuskripts zweifelt, weckt das verlassene alte Herrenhaus ihre Neugier, das nach und nach seine erschreckenden Geheimnisse preisgibt.

Was für ein großartiges Buch, für mich das beste aus der Reihe! Es ist ein bisschen wie Narnia, nur ohne Schrank. Ich schlage das Buch auf und betrete eine andere Welt, die ich mit allen Sinnen erleben kann.
Einmal mehr hat mir der Autor bewiesen, dass er zweifellos zu den besten Erzählern der Unterhaltungsliteratur gehört und eine so dichte Atmosphäre schafft, der man sich als Leser nicht entziehen kann. Diesmal ist ihm eine spannend-mytische Mischung aus historischem Krimi und bibliophiler Schauergeschichte gelungen, die er in ein historisch authentisches Setting einwebt, das den Zeitgeist widerspiegelt.
Mit seiner Reihe hat Kai Meyer Leipzig ein riesiges, lesenswertes Denkmal gesetzt. Das Graphische Viertel, einst schlagendes Herz der Bücherstadt, existiert nicht mehr. Bei einem alliierten Bombenangriff in der Nacht vom 3. auf den 4. Dezember 1943 wurde es fast vollständig zerstört. Doch Meyer lässt es ein ums andere Mal wieder auferstehen. Ich höre das Rumpeln der Lkws, die Bücher ausliefern, das Rattern der Züge im schwefelgelben Rauch, die für den Papiernachschub sorgen, fühle den Takt, wenn die Druckmaschinen Tag und Nacht ihre Arbeit verrichten, und irre mit Cornelius durch das Naundörfchen, »Leipzigs letztem Gassenlabyrinth aus dem Mittelalter, einem Irrgarten aus schimmelnden Bruchbuden und zweifelhaften Etablissements, begrenzt von Kanälen, die an den Fundamenten der uralten Häuser nagen.« Geschickt wechselt Meyer die Perspektive, nimmt mich mit in ein eisiges Livland, erzählt mir ganz nebenbei ein Stück baltisch-deutsche Geschichte, von der ich keine Ahnung hatte. Er lässt mich frösteln, ich kuschel mich unter die Felldecke während einer Fahrt mit dem Pferdeschlitten durch den Winterwald, »dessen Baumreihen mir wie Spaliere erstarrter Gespenster erscheinen, tote Riesen unter weißen Laken.«. Und er schaffte es, dass ich mich echt grusel. Auch weil ich jetzt endlich weiß, wo die Spinnen sind, deren verlassene, staubbedeckte Nester durch einen unsichtbaren Luftzug hin und her zuckend an Kellerwänden hängen.
Auch wenn es das dritte Buch aus der Reihe ist, jedes lässt sich für sich lesen. Jedes spielt an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit, doch feine unsichtbare Fäden führen immer wieder zurück ins Graphische Viertel. Es entlockt mir immer wieder ein Schmunzeln, wenn die eine oder andere Figur aus den vorigen Büchern kurz den Weg der neuen Protagonisten kreuzt, fast so, als wollten sie sich heimlich in die Geschichte schleichen.
Ganz großes Kino, das nicht nur Bücherherzen höher schlagen lässt.

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Veröffentlicht am 09.11.2024

Die Ursachen der Gewalt

Das Mädchen und der Tod
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Lingyuans neuster Roman basiert auf dem abscheulichen Mord an der der chinesischen Studentin Li Yangjie 2016 in Dessau. Und gerade deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass es sehr explizite Szenen von ...

Lingyuans neuster Roman basiert auf dem abscheulichen Mord an der der chinesischen Studentin Li Yangjie 2016 in Dessau. Und gerade deshalb möchte ich darauf hinweisen, dass es sehr explizite Szenen von Kindesmisshandlung, psychischer, physischer und sexueller Gewalt gibt. Aber der Reihe nach.

Yanyan träumt von einer Karriere als Architektin und möchte vor allem ihre Eltern stolz machen. Sie ist ihnen dankbar, dass sie ihr Auslandsstudium finanzieren, und möchte sie keinesfalls enttäuschen. Die ersten Monate in Deutschland sind hart, da ihre Englischkenntnisse kaum reichen, um den Vorlesungen zu folgen. Doch Yanyan kniet sich rein, gönnt sich kaum eine Pause und schreibt immer bessere Noten. Sie ist eine freundliche, gesellige junge Frau, die oft mit ihren Freundinnen kocht, auch wenn ihr kaum Zeit dafür bleibt. Deutschland und dessen Menschen bleiben ihr hingegen fremd. So viel ist anders als bei ihr zu Hause in China, dass sie sich oft nur wundern kann.
Und da ist der Schulabbrecher Ben, kaum achtzehn aber schon einiges auf dem Kerbholz. Die Mutter trennt sich früh von Bens Vater und durch ihre wechselnden Männerbekanntschaften wächst Bens Neugier auf das, was hinter der Schlafzimmertür geschieht. Vom Stiefvater und der Mutter finanziell verwöhnt und vor allem in Schutz genommen, wächst seine Gewaltbereitschaft und Zerstörungswut. Hier eine Schlägerei, dort mal schnell einen Brand gelegt. Egal, er weiß, dass seine Mutter ihn überall raushauen wird. Sein übermäßiger P0rnokonsum weckt zunehmend Gewaltfantasien, die schon bald in einer ersten Vergewaltigung gipfeln.

Abwechselnd folgen wir beiden Perspektiven über mehrere Monate, die am Ende in einem abscheulichen Mord gipfeln. Die Autorin versucht in diesem True-Crime-Roman, den Ursachen der Gewalt auf die Spur zu kommen. Sie zeichnet fiktiv den Werdegang Bens nach, der uns Lesern vor Augen führt, warum er so ein Geltungsbedürfnis hat, so machtbesessen ist, so ein gespaltenes Verhältnis zu Frauen hat. Dies schreibt sie in einfachen, schlichten Worten, zum Teil auch sehr plakativ, ohne immer die nötige Tiefe zu erreichen.
Wesentlich besser und berührender gelingt ihr in meinen Augen die Perspektive Yanyans – ihr stabiles soziales Umfeld, den familiäre Rückhalt, das leise Anbahnen der ersten Liebe.
Ich bin eigentlich keine True-Crime-Leserin, die wenigen Bücher, die ich kenne, waren sehr oberflächlich und reißerisch. Daher kann ich keinen Vergleich innerhalb des Genres ziehen. Ich kann nur sagen, dass mich die detaillierte Darstellungen von Bens Gewalt am Ende erschüttert haben. Deshalb gibt es auch nur bedingt eine Empfehlung von mir, denn man sollte schon einiges wegstecken können.
Wer mehr über den Mord erfahren will, findet dazu einiges im Netz. Es wurde auch für einen Tatort adaptiert, den ich allerdings nicht gesehen habe.

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Veröffentlicht am 29.10.2024

Brisante Themen leider mangelhaft umgesetzt

Um jeden Preis
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Die junge, unbedarfte Journalistin Michelle will ihrem Kollegen Hamza nicht glauben, als dieser ihr sagt, er sei einer rechtsradikalen Zelle in der Hamburger Polizei auf der Spur. Wenig später wird er ...

Die junge, unbedarfte Journalistin Michelle will ihrem Kollegen Hamza nicht glauben, als dieser ihr sagt, er sei einer rechtsradikalen Zelle in der Hamburger Polizei auf der Spur. Wenig später wird er angeschossen und Michelle, die eigentlich an ihrem Traumprojekt – ein Buch über einflussreiche Frauen in Deutschland – arbeitet, beginnt auf eigene Faust zu ermitteln und stößt auf ein weit verzweigtes Netz aus Korruption, Rechtsextremismus und Kriminalität.

Das hätte thematisch MEIN Thriller werden können. Hätte. Leider – und hier kommt gleich mein Fazit – leider hat mich das Buch sehr enttäuscht. Warum?

Zum einen klingt hier alles nach einem Drehbuch für einen schlechten Tatort. Was in einem Film funktioniert, weil die Szenen in kurzen Sequenzen folgen, wirkt hier steif und konstruiert und leider wenig glaubhaft. Es wird viel behauptet, wenig gezeigt, sodass die Figuren, allen voran Michelle, nur vorgeführt werden. Sie kam mir reichlich naiv vor. Weiß eine Journalistin wirklich nicht, dass Polizisten, die aus dem Dienst ausgeschieden sind, oft als Personenschützer arbeiten? Oder soll ich mich als Leserin darüber wundern? Und echt, ich kann in einem heimlich gedrehten Video die Seriennummer auf einem Gewehr erkennen? Oder sie wundert sich, dass sie keine Auskunft über eine Person bei einer Zeitarbeitsfirma bekommt, nur weil sie sagt, sie sei von der Presse. Ja, wir haben Datenschutz und das wissen auch die Leser*innen. (Nur ein paar von vielen Beispielen, wo ich nur mit dem Kopf geschüttelt habe.) Und warum wird von ihr behauptet, sie sei eine linke Journalistin? Ich konnte keinerlei Anhaltspunkte dafür finden. Überhaupt spielen die Autoren hier mit Klischees. Volkslieder singende Rechte auf einem Sommerfest, die ewig blaue Krawatte, die Mütter ihren Anwaltssöhnen schenken. Leider schon so verbraucht, dass ich nicht mal ein müdes Lächeln dafür übrig hatte.

Immer wieder lege ich das Buch weg, weil noch ne Baustelle aufgemacht wird, noch ein neues Thema, das sicherlich brisant ist, aber es fehlt durchweg an der nötigen Tiefe. Es beginnt beim Völkermord an den Herero und reicht bis zu Scheinfirmen auf den Bahamas. Shitstorms auf Social Media, Verschwörungstheorien, illegaler Waffenhandel, und und und.
Hinweise werden so subtil platziert wie ein Elefant in einem Vorgarten, dass eigentlich jede Wendung, wenn sie mal nicht konstruiert war, vorhersehbar wurde. (Ohne Beispiel, weil ich nicht spoilern will.) Sämtliche Figuren bleiben blass und unterentwickelt, ihre Handlungen sind teil so hanebüchen, dass ich echt keinen Spaß hatte und kurz vor Ende abgebrochen habe.
Mein Eindruck: Man wollte hier »um jeden Preis« einen gesellschaftlich hochaktuellen Thriller schreiben, was gründlich in die Hose ging. Ich vergebe einen Stern für ein wirklich tolles Cover und einen für die gute Idee, mehr ist leider nicht drin.
Ach ja, noch ein Hinweis. Falls ihr mal einen Hang in Hamburg runterpurzelt und spürt, wie Moskitos in die offene Wunde stechen, euch alle Knochen wehtun, dann lasst euch bitte nicht von eurem Freund zwei 800er Ibuprofen plus eine Novalgin geben, ihr könntet einen Leberschaden davontragen.

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Veröffentlicht am 21.10.2024

Auf der Suche nach Zugehörigkeit

Abseits
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1954 in einem Dorf in Süddeutschland, der Krieg hängt den Menschen noch nach, es ist kein Platz für Sentimentalitäten und man möchte vergessen. Die (katholische?) Kirche hat leichtes Spiel mit ihrem Gefasel ...

1954 in einem Dorf in Süddeutschland, der Krieg hängt den Menschen noch nach, es ist kein Platz für Sentimentalitäten und man möchte vergessen. Die (katholische?) Kirche hat leichtes Spiel mit ihrem Gefasel von Demut und Gnade, von Sünde und Erbarmen. Gottesfürchtigkeit beherrscht die Menschen. Man möchte Absolution, möchte sie verdrängen, diese Mittäterschaft, diese Mitwisserschaft in der Nazizeit. Und dann ist es ausgerechnet ein Kind, das einen täglich wieder damit konfrontiert.
Dieses Kind ist der neunjährige Richard, er wächst bei einem herrschsüchtigen Onkel, einer lieblosen Tante mit den »falschen Geschwistern« auf, die ihn alle täglich spüren lassen, dass er nicht dazugehört.
Ein strenger Lehrer, ein prügelnder Pfarrer, harte Arbeit auf dem Hof, das ist der Alltag von Richard. Er spürt, dass er lästig ist, und versucht möglichst allen aus dem Weg zu gehen. Auch wir Leser spüren, dass seine Anwesenheit die anderen wohl an etwas erinnert, dass sie lieber verdrängen würden. Nur wenige im Ort meinen es gut mit Richard, allen voran sein Großvater, dessen Besuche aber rar sind, der einzige, der in seiner Not da ist, der ihn lobt, aber auch ein Gefangener seiner Zeit ist.

»Wir sprechen miteinander wie einer, der schweigend dasitzt, mit sich selber.« S.75

Ihn könnte er fragen, was mit seinen Eltern geschehen ist. Doch die Zeit hat keinen Platz für Fragen und Richard flüchtet sich immer mehr in die eigene Welt in seinem Kopf.
1954 ist auch das Jahr, in dem die Menschen wieder Zuversicht und Stolz verspüren. Der Fußball-WM-Sieg muss ein einschneidendes Ereignis gewesen sein, vor allem für die Kinder. Da sind plötzlich wieder Ideale, denen man nacheifern kann. Ein Hoffnungsschimmer, der vielleicht auch Richard aus seinem Abseits herausführen kann?

Es ist nicht mein erstes Buch über die kollektive Sprachlosigkeit dieser Generation, die durch ihr Schweigen so tiefe Narben hinterlassen hat. Aber diese 190 Seiten habe ich nicht mal eben so in einem Rutsch durchgelesen. Jeder Satz scheint hier geschliffen und poliert, ließ mich hineingleiten in die Gefühlswelt des kleinen Jungen und dort verankern. Sätze, an denen ich hängenbleibe, die ich erneut lese, die ich nachspüre.
Es sind viele Bruchstücke, die uns der gelegentlich auftauchende Erzähler zusammensetzt, der wohl Richards Geschichte aus dessen Erinnerung aufgeschrieben hat. Auch das ist dramaturgisch mit viel Fingerspitzengefühl eingeflochten.
Aber wie findet man heraus aus so einer brutalen Welt, wo sind die kleinen Lichtblicke, damit man als sensibles Kind nicht daran zerbricht? Ab und zu platziert der Autor kleine Hoffnungsschimmer, die mich die Ungerechtigkeiten in Richards Welt dann doch ertragen lassen.

»Nichts ist vorhersagbar. Nicht das Schlechte. Aber auch das Gute nicht. Das Gute geschieht vielleicht sogar öfter, aber man muss es erkennen, und dann muss man zugreifen.« S.186

Ein Buch, das mich inhaltlich und sprachlich zutiefst berührt hat, dass ich kaum Worte dafür finde. Jedes Wort, jede Szene, ja selbst das Cover – alles verbindet sich auf meisterhafte Weise zu einem fühlbaren Ganzen, denn auch die »Stuppacher Madonna« auf dem Einband hat eine tiefe Bedeutung für Richards Sehnsucht nach Zugehörigkeit. Doch das solltet ihr selbst lesen.
Ein wunderbares Debüt, das ich aus ganzem Herzen weiterempfehle. Ich hoffe, in Zukunft noch viel von dem Autor zu lesen.

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