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Veröffentlicht am 17.04.2023

Eine gelungene andere Perspektive

Kalmann
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Kalmann ist ein ganz besonderer Held und von so liebenswerter Einfältigkeit, dass man ihn einfach mögen muss. Man lernt, seine überschaubare Welt aus seinen Augen zu betrachten – denn in seinem Kopf laufen ...

Kalmann ist ein ganz besonderer Held und von so liebenswerter Einfältigkeit, dass man ihn einfach mögen muss. Man lernt, seine überschaubare Welt aus seinen Augen zu betrachten – denn in seinem Kopf laufen die Räder manchmal rückwärts. Und das weiß er, also »kein Grund zur Sorge«.
In dem kleinen isländischen Dörfchen Raufarhöfn läuft auch einiges rückwärts, zum Beispiel die Einwohnerzahlen und die Fischfangquoten. Doch die restlichen Bewohner arrangieren mit dem harten Leben kurz vor dem Polarkreis. Das plötzliche Verschwinden des einzigen Hoteliers bringt etwas Aufregung in die Dorfgemeinschaft, denn es könnte verheerende Folgen für den Ort haben, da ihm auch die letzte Fangquote gehörte und er einen Plan hatte, Touristen in Islands Einöde zu locken. Und ausgerechnet Kalmann entdeckt die Blutlache. Das wird seinen beschaulichen Alltag gehörig durcheinanderbringen. Denn er will, dass alles seinen routinierten Gang geht. Na ja, eine Frau will er eigentlich auch noch.
Schmidt erzählt uns die Geschichte aus der Perspektive von Kalmann (34), dessen Weltsicht eine kindlich naive ist und doch von so einer bestechenden Logik. Alles, was er weiß, weiß er von seinem Großvater, bei dem er aufwuchs und der jetzt mit Demenz in einem Altenheim lebt. Ihm verdankt es Kalmann, dass er ein recht eigenständiges Leben führen kann, denn er ist leidenschaftlicher Haifischfänger und stellt den besten Gammelhai in der Gegend her. Kalmann wurde als Kind gemobbt, wird heute noch von den Bewohnern belächelt oder auch beschimpft, aber man akzeptiert ihn so wie er ist. Und er ist selbsternannter Sheriff des Dorfs, läuft nie ohne Cowboyhut, Sheriffstern und Mauser umher. Wenn man über ihn lacht, lacht er am liebsten mit – soviel hat er verstanden, dann fühlt er sich besser.

Aber Kalmann ist auch ein unzuverlässiger Erzähler, der manches durcheinanderbringt, ab und zu was vergisst und sich von seinen abschweifenden Gedanken leiten lässt. Für uns Leser macht es das nicht immer einfach, weil man sich ständig fragt, was er tatsächlich über das Verschwinden McKenzies weiß.
Wie anders Kalmann ist, kann man als Leser durchweg miterleben und spüren, denn Schmidt hat es sprachlich brillant umgesetzt. Es fühlte sich tatsächlich so an, als würde Kalmann denken und seine simple Logik brachte mich oft zum Schmunzeln. Doch er hat auch seine Schattenseiten, ist manchmal unwirsch, kann ziemlich heftig ausrasten und schreckt nicht davor zurück, sich und andere zu verletzen, wenn etwas nicht seinen Vorstellungen entspricht. Schmidt zeigt auch, wie viel Einfühlungsvermögen es bedarf, Kalmann so zu nehmen, wie er ist, gerade für Außenstehende wie die Polizistin Birna, die nicht sicher scheint, ob er nur ein Zeuge ist.

Die Geschichte spielt vor der wunderschönen Kulisse Islands, seiner überwältigenden Landschaft, der Ruhe und Gemächlichkeit der Abgeschiedenheit. Das alles schildert Schmidt so eindrucksvoll bildhaft, dass ich verstehe, weshalb der Schweizer Island zu seiner Wahlheimat gemacht hat. Er zeigt uns aber auch genauso eindringlich die Schattenseiten der abgelegenen Gegenden Islands, in denen die Menschen kaum noch eine Zukunft haben. Wohlgemerkt alles durch Kalmanns Augen, denn sogar der hat kapiert, das manch eine Entscheidung, die im entfernten Reykjavík getroffen wird, nicht zum Wohle aller ist.
Ein sehr außergewöhnliches Buch, das durch die einzigartige Perspektive besticht, ruhig und schnörkellos erzählt wird, mich sehr berührt hat und für das ich eine unbedingte Leseempfehlung aussprechen möchte.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Kein gewöhnlicher Psychothriller

Puppentod
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Auch wenn es sich hier um den 2. Teil nach »Scherbenseele« handelt, kann dieses Buch separat gelesen werden. Bitte überlegt euch gut, ob euch folgende Themen triggern könnten.
Kinderprostitution, Pornografie ...

Auch wenn es sich hier um den 2. Teil nach »Scherbenseele« handelt, kann dieses Buch separat gelesen werden. Bitte überlegt euch gut, ob euch folgende Themen triggern könnten.
Kinderprostitution, Pornografie und Cybergrooming sind die Kernthemen und werden, wie wir es vom Autorenduo kennen, schonungslos und komplex mit allen Hintergründen beleuchtet. Es wird explizit und brutal, darauf sollte man sich vorbereiten.
In gewohntem Perspektivwechsel sind wir Leser sowohl im Kopf der Opfer als auch Täter. Allerdings kommt die Geschichte diesmal ungewohnt langsam daher, was ich in dem Fall nicht negativ bewerte. Im Vordergrund stehen die Schicksale zweier junger Mädchen. Mercy und Nova sind dicke Freundinnen, leben in einem Heim für missbrauchte Kinder, aus dem sie verschwinden. Was beide durchmachen mussten, mag ich gar nicht aussprechen.
Kevin Jonsson, der neue junge Ermittler, wurde als von seinem Onkel missbraucht. Doch er redet nie darüber und das wird ihn nun einholen und ihn an seine Grenzen bringen.
Als Leser erleben wir hautnah mit, wie schmal der Grat sein kann, wenn man Missbrauch erleben musste, und dann der Schritt in die Kriminalität nicht weit ist. Manchmal dachte ich, an welcher Stelle hätten die Mädchen den Absprung wohl noch geschafft. Wie immer wirkt auch dieses Buch lange noch nach, ist erschreckend realitätsnah und in manchen Teilen fast nicht zu ertragen, gerade als Frau.

Was das Niveau der Geschichte angeht, liegt die Messlatte wieder sehr hoch. Und genau das ist es, was sie so lesenswert macht. Das Erschreckende, bis ins Detail könnte sie täglich tausendfach auf der Welt passieren. Wie von den Autoren gewohnt, bekommen wir einen intensiven Blick in die Vorgeschichte der Charaktere, die mich komplett überzeugen konnte. Es geht um Täter-Opfer-Beziehungen, Machtmissbrauch, Manipulation von Minderjährigen und am Rand um ein Flüchtlingsdrama. Komplex, aber bis ins Detail glaubhaft ausgearbeitet, dass mir oft der Atem stockte. Aber genau das unterscheidet die Autoren von anderen, die sich wesentlich weiter in der Fiktion bewegen, weshalb mich dort die Schilderungen bei weitem nicht so erreichen.
Was Jerker Eriksson und Håkan Axlander Sundquist sehr gelungen ist, sind die feinen Verwebungen zum Vorgänger. Eine Randfigur, deren Schicksal mich betroffen machte, taucht hier in einer wichtigen Rolle wieder auf. Ich finde, das ist sehr gelungen, man hat fast das Gefühl, in einer Parallelstory zu sein.

Es mag nicht das beste Buch von ihnen gewesen sein, so zumindest fühlt es sich für mich an. Es hatte nicht die mitreißende Spannung eines Psychothrillers, das sollte man vielleicht wissen, bevor man es liest. Aber das ist letztlich Kritik auf hohem Niveau.

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Veröffentlicht am 12.04.2023

Billig gemachter Blockbuster!

Finstere Lügen
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So funktioniert Hollywood. Man nehme ein Thema, von dem der Durchschnittsbürger nur wenig Ahnung hat, das aber bedrohlich wirkt, in dem Fall Geldwäsche am Aktienmarkt von undurchsichtigen Wall-Street-Playern. ...

So funktioniert Hollywood. Man nehme ein Thema, von dem der Durchschnittsbürger nur wenig Ahnung hat, das aber bedrohlich wirkt, in dem Fall Geldwäsche am Aktienmarkt von undurchsichtigen Wall-Street-Playern. Dann einen Action-Held, ein Ex-Soldat ist immer gut, schalte das Tempo hoch, dass der Zuschauer durch die Geschichte rasen muss, und fertig ist der Blockbuster.
Leider hat für mich in dem Buch nichts funktioniert. Angefangen bei Travis, der aus zweifelhaften Gründen (um sich mit seinem Vater zu versöhnen) aus dem Armeedienst ausscheidet und als Analyst bei einem Finanzriesen anfängt. (Wir erfahren eigentlich nichts über das, was er da tut.) Nachdem man in einem leeren Stockwerk der Firma seine Exfreundin erhängt auffindet, steht er unter Mordverdacht. (Allerdings hat die Polizei keine Beweise, nur so ein Gefühl.) Ein Ex-General vom Heimatschutzministerium erpresst ihn, dass er den zweifelhaften Vorgängen in Travis’ Firma auf die Schliche kommen soll. Unser muskelbepackter Held sollte also ordentlich in Schwierigkeiten kommen. Da er aber außer Kämpfen keinerlei weitere Eigenschaften besitzt, kann sich in Schlägereien gegen alles wehren, was haarsträubend geschildert wird. Obwohl er weder von seinem Job noch von Ermittlungen irgendeine Ahnung hat, ist er natürlich sofort Profi. Alle Achtung! Ein bisschen Jack Reacher für Arme.
Um weitere Verwirrung zu stiften, werden noch ein paar Leute umgebracht, die Polizei als Dilettanten dargestellt, ein paar Frauen als kleine Dummchen ins Rennen geschickt und ein paar falsche Fährten wie Leuchtbojen platziert. Und wie gesagt, damit die gesamte Unlogik der Story nicht auffällt, wird der Turbo eingeschaltet und die Action-Kanone gezündet. Und bitte nicht so genau über die Dialoge lesen, die teils hanebüchen sind. »Scheiße« ist so ziemlich das Lieblingswort von allen.

Die Figuren sind nicht mehr als ausreichend beschriebene Kleiderständer, die wahlweise einen Bugatti fahren oder ein Motorrad, sich mit einem Bikini am Pool in einem Palast räkeln und beim Überqueren der Straße ständig joggen müssen.
Das alles ist so lächerlich, so billig, so vorhersehbar, dass ich beinahe körperliche Schmerzen hatte. Die letzten 100 Seiten habe ich mir nicht mehr angetan, weil es mich schlichtweg nicht mehr interessiert hat und ich mir das nicht mehr antun wollte.

Auch wenn ich es lieber verschweigen würde, aber ich habe vor ungefähr fünfzehn Jahren Baldacci gern gelesen. Heute frage ich mich ernsthaft, was mich daran begeistert hat. War er damals besser? Hat sich mein Anspruch so sehr verändert? Man darf nicht vergessen, dass einige seiner Bücher erfolgreich verfilmt wurden, zum Beispiel »Der Präsident« unter »Absolut Power«. Klar, letztlich ist es nur Unterhaltung ohne jeglichen literarischen Anspruch, aber die Storys hatten Hand und Fuß und waren bei weitem nicht so an den Haaren herbeigezogen wie diese hier.
Das war das schlechteste Buch in diesem Jahr und definitiv mein letzter Baldacci.

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Veröffentlicht am 10.04.2023

Schöne Geschichte begraben unter wirren Zeitsprüngen

Tochter einer leuchtenden Stadt
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1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten ...

1905 – Smyrna, das heutige Izmir, ist ein kultureller Schmelztiegel verschiedener Nationen. Griechen, Türken, Armenier, Europäer und Juden leben in einem orientalischen, bunten, lauten Babel seit Jahrhunderten zusammen. 17 Jahre später werden alle Nicht-Muslime vertrieben und viele Stadtteile nur noch Schutt und Asche sein.

Suman macht die Stadt mit all ihren Farben, Gerüchen, Bräuchen und Sprachen lebendig. Das Leid und die Zerstörung waren für mich spürbar. Ihr atmosphärischer Schreibstil ist sicher der größte Pluspunkt an dem Buch. Aber die Autorin hat es mir echt schwer gemacht. Ich habe mich gefreut, mehr über ein Land zu erfahren, dessen Historie ich kaum kenne.
Die Geschichte um die drei Familien (levantinische, griechische und türkische) ist das reinste Chaos. Als wäre ein Tsunami über die ägäische Hafenstadt hinweggefegt und hätte überall nur Fragmente und Andeutungen hinterlassen, die ich mir mühsam zusammenklauben musste. Alle historischen Zusammenhänge musste ich mir im Netz suchen, um ansatzweise die Beweggründe der Figuren zu verstehen, Hintergründe fehlen hier völlig. Warum zerbrach das Osmanische Reich nach dem 1. WK? Weshalb waren die Menschen froh, dass die Griechen das Land übernahmen?

Die Erzählerin Scheherazade taucht nur sporadisch auf, ergeht sich in Rückblicken und Voraussagungen, die zeitlich nicht einzuordnen sind, die mich immer wieder den Faden verlieren ließen. Schon nach 100 Seiten hatte ich mehr Fragen im Kopf als Antworten. Die einzelnen Geschichten der Familien laufen zeitlich ebenso wenig synchron, ohne erkennbare Zuordnung. Ist die eine Frau im vorigen Kapitel bereits tot, steht sie im nächsten wieder in der Küche.
Doch damit nicht genug.

Um die sprachlichen Eigenheiten der Familien zu unterstreichen, nutzt die Autorin zahlreichen Vokabeln, die sie permanent in den Dialogen einflechtet. Wer wie ich weder gr, fr, ar noch tr beherrscht, findet die Übersetzung in einem anhängenden Glossar. Das empfand ich als äußerst mühsam und nervig.

Fazit: Unter dem ganzen Chaos ist eine wunderschöne Geschichte begraben, die ich wirklich gern gemocht hätte. Wer historische Vorkenntnisse hat und mit den Sprachen vertraut ist, wird hier vielleicht mehr Freude haben. Ich empfand sie lediglich als anstrengend und unbefriedigend. Am Ende hatte ich mich im kosmopolitischen Smyrna hoffnungslos verirrt.

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Veröffentlicht am 08.04.2023

Langweilig, klischeehaft, unitalienisch

Schwarze Tage
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Prolog: Ein kleines Mädchen wurde entführt, die Geldübergabe misslingt, weil der Fahrer tödlich verunglückt. Damit versucht er, eine B-Story in Gang zu bringen, die hineinkonstruiert wirkt. Nur zu dem ...

Prolog: Ein kleines Mädchen wurde entführt, die Geldübergabe misslingt, weil der Fahrer tödlich verunglückt. Damit versucht er, eine B-Story in Gang zu bringen, die hineinkonstruiert wirkt. Nur zu dem Zweck, die Neugier auf den nächsten Band anzufüttern, aber sie wird nur noch 2 Mal im Buch erwähnt und steht in keinem Zusammenhang mit der Story. Und hinterm Ofen konnte sie mich nicht vorlocken.
Den eigentlichen Fall, ein Mord an dem Besitzer eines mit Sternen dekorierten Trüffel-Restaurants, übernehmen Commissario Vito Carlucci und seine neue Kollegin Laura Gabbiano. Wenn man das weiß, weiß man auch schon alles von dem Buch.
Nach wenigen Seiten entpuppte sich die Story als 0-8-15-Tatort-Plot, dem es an allem fehlte, vor allem aber an Italien. Man hätte ihn auch in Hintertupfingen spielen lassen können. Die Figuren waren so unitalienisch wie Fr. Meier, meine sächsische Nachbarin. Da half es auch nicht, ihnen Schimpfwörter wie bastardo oder pazzo in den Mund zu legen.
An Laura hätte der Autor wohl noch eine Weile basteln sollen, denn zu Beginn überhäuft er uns mit Klischees, Frau findet nichts in ihrer zu großen Tasche, Frau kommt am ersten Tag zu spät, Frau fährt mit Highheels zum matschigen Tatort. Der Rest von ihr war auch eher stereotyp aus der Presse gestanzt.
Anstatt mir irgendetwas Neues zu präsentieren, langweilt er mich mit so erstaunlichen »Neuigkeiten«, dass Giftmorde meist von Frauen begangen werden. Man verbeißt sich in eine Verdächtige, wo doch längst allen klar ist, dass die Dame es nicht war. Das Buch war kein Appetitanreger, obwohl lecker gekocht wurde, leider auf einer Spannungsparflamme.

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