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Veröffentlicht am 13.05.2024

Familienbande und das emotionale Erbe

Martha und die Ihren
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In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts ...

In diesem autofiktionalen Buch hat Hartmann (Jahrgang 1944) seiner Familiengeschichte über drei Generationen nachgespürt. Er beginnt mit Martha, seiner Großmutter, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts in prekärer Armut aufwächst. Eine von der Nachbarin vor die Haustür gestellte Schüssel Haferbrei wird für die Kinder zum Festessen. Auch wenn Martha, abgezählt nach Altersjahren, nur sieben gestrichene Löffel voll davon bekommt. Nach dem frühen Tod des Vaters weiß die Mutter nicht mehr, wie sie die sechs Kinder satt bekommen soll. Und so kommt Martha, wie auch ihre Geschwister, als Verdingkind zu einer anderen Familie.

»Die Kinder werden verdingt, auch das ist ein neues Wort für Martha. Später wird sie denken, dass das Wort ja stimmt, sie sind zu Dingen geworden.« S.17

Dort ist sie als zusätzliche Arbeitskraft willkommen, aber nicht als zusätzlicher Esser. Die Schüssel mit den Kartoffeln ist oft schon leer, wenn sie bei ihr am Ende des Tischs ankommt. Doch Martha ist tapfer, kann zupacken und ist intelligent. Sie schafft es, eine Stelle in einer Strickerei in Bern zu ergattern und damit einen Weg aus der Armut zu finden. Doch das Erlebte hat längst einen Weg tief in ihr Inneres gefunden, und sich dort festgesetzt. Und es wird nicht nur ihr Leben beeinflussen, sondern auch das ihrer Söhne.
Toni, der Älteste, kennt kein anderes Ziel, als den Makel, Sohn eines Verdingkinds zu sein, durch eigene Anstrengungen auszulöschen. Wenn er von der Mutter etwas gelernt hat, dann das hart verdiente Geld zu sparen und mit Zuneigung zu geizen.
Erst Tonis ältester Sohn Bastian, der sich nach Aufmerksamkeit und Liebe sehnt, geht dem Gefühlsdefizit seiner Familie auf den Grund, rebelliert und versucht die Auswirkungen seiner Familiengeschichte zu verstehen.

Basis des Romans sind Hartmanns Gespräche mit seiner Großmutter, als sie schon alt ist, sich ein Leben lang verschlossen hat und nur bruchstückhaft über ihr Leben spricht. Diese Leerstellen füllt er mit einer hochemotionalen Geschichte, die so oder so ähnlich viele Familien ereilt hat. Armut war in der Schweiz nicht nur ein Makel, sondern ein Fehlverhalten und eine Gefahr für das Gemeinwohl, weshalb die Behörden bis in die 70er Jahre den Eltern die Kinder entzogen, sie auf Bauernhöfe schickte, in Armenhäuser und Heime. Und man kann Marthas ganzen Stolz, es aus diesem Milieu herausgeschafft zu haben, nachvollziehen.

»Sie ist für mich die prägende Figur der Familie geworden«, sagt der Autor im Nachwort und als Leser*in versteht man es im Laufe der Geschichte, wie sehr dieser Makel zur Triebkraft von Marthas Kindern wurde, quasi als Trauma vererbt wurde.

Obwohl es nur wenige Schnittstellen mit meiner eigenen Familiengeschichte hat, kamen mir doch vieles bekannt vor. Eine Generation, die schweigt, die sich Emotionen versagt. Bloß keine Schwäche zeigen, keine Nähe zulassen. Die sich auf der Karriereleiter nach oben abmüht, ständig mit der Angst im Nacken, zu versagen und trotzdem das Gleiche von den Kindern einfordert. Doch die Kinder träumen von einem freieren Leben und sehnen sich nach Liebe um ihrer selbst willen.

Die Essenz des Romans ist für mich, wenn wir das Leben der Vorgeneration verstehen, können wir begreifen, warum sie sind, wie sie sind – warum wir sind, wie wir sind. Und warum wir heute noch an diesem seelischen Erbe zu knabbern haben. Dass aufeinander zugehen, miteinander reden und verzeihen wichtige Schritte sind, um sich von den transgenerationalen Traumata zu befreien.

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Veröffentlicht am 10.05.2024

Zu konstruiert, zu gewollt

Der Wind kennt meinen Namen
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Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. ...

Zentrales Thema in Allendes neustem Roman ist die Kinderflucht.
Es beginnt mit Samuel Adler, der mit 6 Jahren kurz nach der Pogromnacht mit Tausenden anderen jüdischen Kinder nach England geschickt wird. Er wird seine Eltern nie wieder sehen. 80 Jahre später flüchtet die 7-jährige Anita mit ihrer Mutter aus Angst vor der Gewalt in El Salvador in die USA. Unter der Regierung Trumps werden dort Kinder von ihren Eltern getrennt. Wie viele andere landet Anita in einem Lager, immer in der Hoffnung, ihre Mutter wiederzusehen.

Der Klappentext des Buches ist noch wesentlich blumiger und spektakulärer und es hätte eine emotionale Geschichte werden können. Hätte. Leider hat Allende es nicht geschafft, Emotionen bei mir zu wecken. Fast berichtartig jagt sie durch die Jahrzehnte, reiht auf eine bemühte Art Ereignis an Ereignis, streut alltägliche Nebensächlichkeiten ein und wenig glaubwürdige Dialoge. Alles wirkt reichlich konstruiert, um bei dem von ihr angestrebten Ende anzukommen. Umständliche Konjunktiv- und Passivkonstruktionen tun ihr Bestes, die Distanz zum Leser noch zu vergrößern. Es wird zusammengerafft, was nur geht. Für mich fühlte sich alles an, als würde ich Ähnliches bereits aus den Nachrichten oder aus Dokus kennen.

Zu viele Informationen werden vermittelt und ersticken die eh schon karge Handlung. Sie verliert sich in Einrichtungsbeschreibungen und reiht zahlreiche Menüfolgen aneinander, was leider keine Atmosphäre schafft, ja noch nicht mal authentisch wirkt, da oft um spanische Worte handelt, die übersetzt auch Bahnhof bedeuten können.

Zu viele schablonenhafte Figuren, die am Ende unwichtig sind, eine verschüttete Geschichte, die wahrscheinlich rührender gewesen wäre, hätte sie sich darauf konzentriert. Sie berichtet, kommentiert, streut Infos ein, um Zusammenhänge zu erklären, anstatt uns diese wirklich dramatischen Erlebnisse fühlen zu lassen. Und am Ende ist es einfach vorbei. Bisschen zu fix.

Ich denke, sie hat hier ein großes Anliegen gehabt, was vom Grundgedanken eine großartige Geschichte hätte werden können. Aber es fehlte an Tiefe, an Allendes magischem Realismus, kurzum, ich bin enttäuscht. Im Übrigen auch von der Übersetzung, die Anitas kindliche Gedanken in ein nacktes Schriftdeutsch übertragen hat, was völlig unglaubwürdig klingt.

Ich habe im letzten Jahr so viele großartige Bücher zum Thema Flucht gelesen, die mich berührt haben, deren Schicksale glaubhaft waren und die mir die vielen Zusammenhänge deutlich gemacht haben. Mag sein, dass es daran lag, dass mich Allende nicht erreichen konnte. Ich denke aber, sie wird ihre Leserinnen finden, die die nicht ganz so im Thema sind wie ich.

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Veröffentlicht am 07.05.2024

David Copperfield in den Apalachen

Demon Copperhead
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»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die ...

»Jeder weiß, dass alle, die in diese Welt geboren werden, von Anfang an gezeichnet sind – Gewinner wie Verlierer.«

Demons Leben beginnt unter undenkbar ungünstigen Voraussetzungen, in einer Gegend, die zuerst von den Bergwerksbesitzern verlassen wurde, dann von denen, die noch bei Verstand waren und zuletzt auch noch von Gott.
Seine Teenagermutter ist high, als er auf den dreckigen Vinylfliesen in einem Trailer auf die Welt kommt, sein Vater tot.

»Wenn die Mutter in ihrer eigenen Pisse liegt, rechts und links nichts als Pillenfläschchen, und man dem Kind, das sie rausgepresst hat, auf den Hintern patscht, damit es ein wenig lebendiger wird, dann siehts für den kleinen Bastard nicht gut aus. Das Kind einer Junkiebraut ist ein Junkie.« S.10

An seinem 11. Geburtstag knallt sich seine Mutter mit einer Überdosis Oxy weg und für ihn beginnt ein trauriges Leben in miesen Pflegefamilien. Gewalt, Hunger, harte Arbeit, Drogen sind seine ständigen Begleiter – der amerikanische Albtraum. Mit jedem neuen Kapitel wünscht man dem kleinen Rotschopf (daher sein Spitzname Copperhead), dass es diesmal für ihn gut ausgehen soll. Und immer wieder denke ich: Nein, bitte nicht auch das noch.

»Es ist ein Wunder, dass man das Leben mit nichts beginnt und mit nichts beendet und dazwischen trotzdem so viel verliert.« S.741

Doch Demon hat eine Superkraft, na eigentlich zwei. Er liebt Comics und ist ein begnadeter Zeichner. Aus seinen Freunden macht er Superhelden, denn scheinbar mühelos erkennt er, was sie im Kern ausmacht. Nur seine eigene Superkraft zu erkennen, fällt ihm schwer. Aber er ist ein unverwüstliches Stehaufmännchen mit einer gehörigen Portion schwarzem Humor. Als der 11-Jährige gefragt wird, was er einmal werden wolle, sagt er: »Hauptsache, noch am Leben«.

Nicht zuletzt ist es Kingsolvers herausragendes schriftstellerisches Talent mit ausgefallenen Sätzen, auffälligen Metaphern und Demons flapsiger Stimme, sein Schicksal für uns Leser*innen aushaltbar zu machen.

Kingsolvers Roman ist eine Hommage an ihre Heimat, die Appalachen. Dort, in einem der ärmsten Gegenden Amerikas, in Lee County, Kentucky, wächst ihr Protagonist auf. Ein Landstrich, der verächtlich als der Fußabstreifer des Landes bezeichnet wird, ihre Bewohner als Hillbillys. Um sie aus der Vergessenheit herauszuholen, transferiert sie Dickens Sozialdrama »David Copperfield« auf eine tief beeindruckende und intensive Weise. Mit der wachsenden Reife von Demon erfahren wir viel über die geschichtliche Entwicklung seiner Heimat, darüber, warum keiner Interesse an den Menschen hat, die von Sozialschecks, Schwarzbrennerei und Eigenversorgung leben. Und warum ausgerechnet sie das bevorzugte Opfer der Pharmaindustrie wurden.
Sie übt Kritik am bestehenden Sozialsystem, das massiv überfordert ist, deren Schutzbedürftige nur eine Aktennummer und sich selbst überlassen sind. Das alles wird überschattet von der großen Opioid-Krise, die in den letzten Jahren hunderttausend Tote hinterlassen hat. Demon ist ein dieser Babys, die schon süchtig zur Welt kommen.

Missverstanden, auf Stereotype reduziert, wegen ihres Akzents verspottet und ungesehen vom Rest der Welt. Und daher sind die letzten Worte in der Danksagung ihnen gewidmet:

»Die Kinder, die an diesen dunklen Orten jeden Tag hungrig erwachen, die ihre Eltern durch Armut und Schmerzmittel verloren haben, deren Sachbearbeiterinnen ständig ihre Akten verlegen, die sich unsichtbar fühlen oder sich wünschen, sie wären es: Dieses Buch ist für euch.«

Eine schmerzhaft schöne Geschichte, die mit jeder Seite süchtig macht, die für immer einen Platz in meinem Herzen haben wird. 800 Seiten, die emotional fordern, aber ebenso spannend wie lehrreich sind, die viel zu schnell vorbei waren.

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Veröffentlicht am 07.05.2024

Ein Klassiker aus einer anderen Perspektive

James
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In letzter Zeit häufen sich ja die Adaptionen großer Werke aus der Weltliteratur, was nicht immer gelungen ist, wie ich festgestellt habe. Everett hat sich hier an einen Klassiker von Twain gewagt und ...

In letzter Zeit häufen sich ja die Adaptionen großer Werke aus der Weltliteratur, was nicht immer gelungen ist, wie ich festgestellt habe. Everett hat sich hier an einen Klassiker von Twain gewagt und dekonstruierte »Die Abenteuer des Huckleberry Finn« aus dem Jahr 1884, indem er die Flucht des Sklaven Jim nun aus dessen Perspektive erzählt. Ob es für mich diesmal funktioniert hat?

Zum Inhalt sei nur so viel gesagt: James flieht aus Hannibal, als er erfährt, dass er verkauft werden soll. Er sieht darin seine einzige Chance, um seine Familie nicht zu verlieren. Wie auch bei Twain ist Huck auf der Flucht vor seinem gewalttätigen Vater und begleitet James auf einigen Abschnitten der abenteuerlichen Reise auf dem Mississippi. Allerdings sucht man nun nach ihm nicht nur als »Entlaufenen« sondern auch als Mörder von Huck.
Doch aus dem ungebildeten, naiven Jim Twains macht Everett eine Figur, die aus ihrer Opferrolle heraustritt und nicht mehr auf die Gnade der Weißen angewiesen ist. Everett nutzt dazu das Stilmittel der Sprache, nicht nur indem er James vor den Weißen in einer Art Slang, einem Südstaatenenglisch sprechen lässt, damit diese den Eindruck bekommen, er sei ungebildet. Diesen Slang ins Deutsche zu übertragen war sicher eine Herausforderung, doch der Übersetzer Nikolaus Stingl hat hier ganze Arbeit geleistet, um die Authentizität zu erhalten. James muss seine Tarnung aufrechterhalten, genauso wie alle anderen. Denn Sklaven war es verboten, lesen und schreiben zu lernen.

»Jim, ich frag dich jetzt was. Warst du in Richter Thatchers Bibliothekszimmer?«
»In seim was?«
»Seiner Bibliothek.«
»Nein, Ma’am. Gesehen habbich die Bücher, aber im Zimmer drin warch nich. … Was sollchn mim Buch?« S.15

Vielleicht mag es übertrieben erscheinen, dass James Rousseau und Locke gelesen hat, es finden sich einige philosophische Aussagen und Fragen in dem Buch, die nachdenklich stimmen. Doch das verleiht der vorherrschenden Denkweise der Weißen, sich überlegen zu fühlen, eine gewisse Ironie. James kehrt es um, indem er denkt:

»Es lohnt sich immer, Weißen zu geben, was sie wollen …« S.11

Denn das gibt den Schwarzen ein Mindestmaß an Sicherheit, auch wenn sie ihren unbegründeten Misshandlungen, Auspeitschungen und sexuellen Übergriffen schutzlos ausgeliefert sind. Und es entlarvt gleichzeitig die vorherrschende Überlegenheitstheorie der Sklavenhalter.

Was Sprache in dem Roman alles kann, solltet ihr selbst herausfinden, für mich ist es ein zentrales Thema, um das sich zahlreiche erschreckende Abenteuer ranken. Zum Beispiel ein gestohlener Bleistift, den James nutzen will, um seine Geschichte aufzuschreiben, für den ein anderer aber mit dem Leben bezahlt. Auch ein Grundgedanke – Bildung als Waffe.

In kurzen, temporeichen Kapiteln jagen wir den Mississippi rauf und runter, treffen dabei auf manch skurrile Gestalten, Trickbetrüger, Gauner und Sklavenhalter der übelsten Sorte, wodurch Everett dem Abenteuercharakter des Originals gerecht wird. Zwar verkürzt er etliche Ereignisse, was aber für das Gesamtverständnis des Romans nicht von Belang ist. Trotz aller Ironie, die sich oft hinter einigen Begegnungen versteckt, ist Everett on point, wenn es um die Darstellung von rassistischen Themen geht. Das geht stellenweise echt unter die Haut.

»Was ich verbrochen habe? Ich bin ein Sklave. Ich habe eingeatmet, als ich hätte ausatmen sollen. Was ich verbrochen habe?« S.234

Immer wieder wird Twain unterstellt, er sei ein Rassist gewesen, andere halten ihn für einen Chronisten seiner Zeit. Wiederholt fielen zahlreiche Passagen der Zensur zum Opfer, auch streitet man sich über das N-Wort in seinen Romanen und eine etwaige Bereinigung. Doch zeitkritische Literatur braucht m.E. auch eine authentische Sprache, egal, ob es heute einigen gefällt oder nicht. Auch Everett bleibt dabei, was zur Verdeutlichung der Brutalität von Sprache dient und mich einige Male heftig schlucken ließ. Das nur btw.
Für mich ist »James« eine Weiterführung der twainschen Grundidee. Eine Hommage an Twain, eine kritische Auseinandersetzung mit dem Rassismus, der heute noch tief verwurzelt ist. Radikal und scharfzüngig mit viel Humor, absolut lesenswert.

»Es ist eine schreckliche Welt. Die Weißen versuchen, uns einzureden, dass alles gut sein wird, wenn wir in den Himmel kommen. Meine Frage ist: Werden sie dann auch dort sein? Wenn ja, sehe ich mich vielleicht nach etwas anderem um.« S.162

»Ein Mann, der sich weigert, Sklaven zu besitzen, jedoch nicht dagegen war, dass andere welche besaßen, war in meinen Augen immer noch ein Sklavenhalter.« S.189

»Wenn man die Hölle als Heimat kennt, ist die Rückkehr in die Hölle dann eine Heimkehr?« S.293

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Vom Scheitern guter Absichten

Die goldene Stunde
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Seid ihr schon mal aus ganzen Herzen überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, und musstest hinterher feststellen, das es falsch war? Oder wolltet einem Menschen helfen, doch die Hilfe war nicht das, was ...

Seid ihr schon mal aus ganzen Herzen überzeugt gewesen, das Richtige zu tun, und musstest hinterher feststellen, das es falsch war? Oder wolltet einem Menschen helfen, doch die Hilfe war nicht das, was dieser Mensch in dem Moment brauchte? Diesen und ähnlichen Fragen geht Wytske Versteeg in ihrem Debütroman nach.

Mari, die eigentlich Archäologin ist, wollte es anders machen und engagierte sich für ein Projekt, das Geflüchteten helfen soll, in den Niederlanden anzukommen. In einer spießigen Kleingartenanlage namens Paradies. Einer von ihnen ist Ahmad, ein arabischer Flüchtling, mit dem sie eine kurze Beziehung hat und der just an dem Tag verschwindet, als das Gartenhaus abbrennt. Mari, zutiefst enttäuscht, verlässt ihr Zuhause und begibt sich auf die Suche nach Felsmalereien in Ahmads Heimatland. Wieder mit guten Absichten, denn sie denkt, mit ihrer Arbeit den Tourismus ankurbeln zu können. Doch das Land hat ganz andere Problem, wie schnell deutlich wird. Dort begegnet sie Tarik, der vor seiner Vergangenheit in ein kleines Dorf geflüchtet ist. Niemand in dem Dorf weiß, dass er als Aufseher in einem Lager gearbeitet hat, aus dem Menschen verschwanden, die gegen die Regierung rebelliert haben. Immer wieder werden Leichen vom Fluss angeschwemmt, die er wortlos beerdigt. Doch dann holt ihn seine Vergangenheit ein, denn Mari bittet ihn, Ahmads Aufzeichnungen vorzulesen, die er ihr hinterlassen und in seiner Muttersprache verfasst hat. Er schrieb sich alles von der Seele, worüber er geschwiegen oder gelogen hat. Nicht nur über die Gründe seiner Flucht, die lange Odyssee durch Flüchtlingslager mit katastrophalen Verhältnissen. Er findet auch harsche Worte für ihre erdrückend guten Absichten, seine Verachtung für sie und ihre sensationslüsternen Landsleute.

»Ich bin nicht die Geschichte, die du aus mir machst und anderen gegenüber im immer selben Wortlaut wiederholst, ich bin keine Puppe, die du verbiegen, verrenken, hinsetzen kannst, wie es dir gefällt, das Rot, das du siehst, ist eine blutende Wunde.« S.147

Versteegs Buch lässt sich nicht leicht in Worte fassen, auch hatte ich so meine Startschwierigkeiten, und sicherlich lässt es sich auf verschiedene Weise lesen, denn sie wirft viele Fragen auf. Eine davon ist, wie wir mit Flüchtlingen umgehen. Sachbearbeiter, die ausgelaugt, müde sind, immer wieder die gleichen Fragen stellen, sich aber nicht wirklich für die Schicksale der Menschen interessieren. Flüchtlinge, die schnell lernen, dass die Wahrheit einen nicht weiterbringt, es besser ist, zu lügen und sich zu verbiegen.

»So freundlich sie hier auch alle waren: Alles schien darauf ausgelegt zu sein, mich nicht zu hören.« S.150

Versteeg schreibt von einer katastrophalen europäischen Flüchtlingspolitik, von gescheiterten guten Absichten und dennoch heißt der letzte Satz im Buch:

»Und da ist so viel Hoffnung.«

Sie widmet allen drei Figuren eine eigene Perspektive, verwebt sie miteinander. Jeder der drei ist auf der Suche nach sich selbst und gleichzeitig auf der Flucht, fühlt, was Fremdsein bedeutet. Immer wieder kreist sie um richtig und falsch, kurbelt mein Gedankenkarussell an, hält mir den Spiegel vor, stellt Fragen, gibt mir aber keine Antworten, die muss ich schon selbst finden. Am Ende liegt sehr viel darin, was nicht gesagt wird.

Sie schreibt zärtlich, fast schon leise, an anderer Stelle wird sie laut. Ihr Text ist oft schmerzhaft, wenn sich beim Lesen eine Erkenntnis einstellt, dass unser Leben oft aus vielen Missverständnissen besteht, aus Ängsten, Schweigen und falschen Erwartungen. Herausragend war für mich, wie sie sich in die einzelnen Charaktere hineinversetzen konnte. Ein großartiges Stück Literatur von brisanter Aktualität, das sehr lange nachhallt.

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