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Veröffentlicht am 05.10.2024

Düstere Zukunftsaussichten - ein Thriller mit Niveau

Bis in alle Endlichkeit
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Tenderloin, ein schäbiges, heruntergekommenes Viertel in San Francisco – Privatdetektiv Lee Crowe hat gerade die letzten Spuren seiner brisanten Ermittlung verwischt, als er vor einem Hotel einen verbeulten ...

Tenderloin, ein schäbiges, heruntergekommenes Viertel in San Francisco – Privatdetektiv Lee Crowe hat gerade die letzten Spuren seiner brisanten Ermittlung verwischt, als er vor einem Hotel einen verbeulten 300.000-Dollar-Rolls-Royce entdeckt, auf dem eine blonde Frau im Cocktailkleid liegt – tot. Statt die Polizei zu rufen, schießt Lee, der eigentlich gar nicht hier sein dürfte, ein paar Fotos, um sie später der Presse zu verkaufen. Ein willkommenes Zubrot, falls er mal wieder knapp bei Kasse sein sollte. Man weiß ja nie, vielleicht war die Tote ja berühmt, dann würde es sich finanziell lohnen. Dass Lee mit dieser Aktion in ein Wespennest stochert, ahnt er zu dem Zeitpunkt noch nicht. Für die Polizei ist der Fall klar, die junge Frau hat sich vom Hochhaus gestürzt. Doch damit findet sich Olivia Gravesend, eine der reichsten und einflussreichsten Frauen, nicht ab, und heuert Lee an, um den Tod ihrer Tochter Claire aufzuklären. Bei seinen Nachforschungen stößt er auf eine junge Frau, die Claire nicht nur zum Verwechseln ähnlich sieht, sondern auch noch die gleichen, kreisrunden Narben vom Hals abwärts auf ihrer Wirbelsäule trägt. Wie kann das sein, wenn Claire doch ein Einzelkind war?

Kestrel entführt uns mit seinem klassischen kalifornischen Detektivroman in die Welt der Schönen und Reichen im modernen San Francisco. Ein Hauch Silicon Valley, wo innovative Entwicklungen die Zukunft verändern können – falls man es sich leisten kann.

Mit Lee hat Kestrel eine Figur geschaffen, die serientauglich ist. Nicht ganz so hart gesotten wie ein Philip Marlowe, aber so sympathisch, dass ich gern mehr von ihm lesen würde. Der einsame Privatermittler, der nach einer Entgleisung tief gefallen ist, sowohl seine Zulassung an Anwalt als auch seine Frau verloren hat, arbeitet nicht immer mit legalen Mitteln, seine übermächtigen Gegner allerdings auch nicht. Denn wenn Geld keine Rolle spielt, schreckt man auch nicht vor einem Mordanschlag zurück, dem Lee nur knapp entgeht. Bald wird ihm klar, dass er Freund und Feind nicht mehr unterscheiden kann.

Kestrel hält sich nicht nur mit dem typischen Ich-Erzähler dicht am Noir-Stil, der perfekt in die Story reinzieht. Er zeichnet auch ein düsteres Bild von der realen Welt und deren Möglichkeiten, wenn moderne Technologie, grenzenlose Gier und Reichtum aufeinandertreffen.
An sein prämiertes Kriegsepos »Fünf Winter« reicht dieses Buch vielleicht nicht heran, aber ich habe die Noir-Vibes gespürt und er hat mich von der ersten Seite an nicht vom Haken gelassen. »Bis in alle Endlichkeit« kann durchaus mit der klassischen amerikanischen Detektivliteratur mithalten. Eine Empfehlung für alle, die Thriller mit Niveau mögen, bei denen es nicht nur spannend und blutig wird, sondern auch düster – vor allem was die Zukunftsaussichten angeht.

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Veröffentlicht am 27.09.2024

Ein brillanter Erzähler

Rost
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»Alles ist gut«, ein Satz, der Trost spenden soll und doch so falsch ist.

Im Leben des siebenjährigen Szymeks ist 2002 nichts mehr gut, denn seine Eltern sterben bei einem Autounfall und er wohnt ab sofort ...

»Alles ist gut«, ein Satz, der Trost spenden soll und doch so falsch ist.

Im Leben des siebenjährigen Szymeks ist 2002 nichts mehr gut, denn seine Eltern sterben bei einem Autounfall und er wohnt ab sofort bei seiner Großmutter Tosia. Der Allmächtige habe sie zu sich genommen, sagt man ihm und so nimmt er seine gesamten Spielsachen und versteckt sie in der Waschmaschine, damit dieser Allmächtige sie nicht auch noch holt.
Auch Tosia kennt diesen Satz nur zu gut, als man sie 63 Jahre zuvor aus der Schule heimgeschickt wurde, weil ihr Dorf Chojny von deutschen Flugzeugen bombardiert wurde, meinte man, sie damit trösten zu können. Kurz darauf muss sie miterleben, wie 26 Flüchtlinge in einer Scheune verbrennen. Es wird nicht die einzige Gräueltat sein, die sie und die Bewohner von Chony im Krieg miterleben werden.

Wie schon in Saturnin (2022) und Beben in uns (2023) widmet sich Małecki in Rost (2019) mehreren Generationen der polnischen Landbevölkerung. Auf zwei verschiedenen Zeitebenen folgen wir zum einen Szymek, den alle Saurier nennen, weil er ein reptilienartiges Gesicht hat, bis er zu einem eigensinnigen jungen Mann heranwächst, als auch Tosia, die sich in ihrer Kindheit in »den Unsichtbaren« verliebt, den einzigen Menschen, den sie je geliebt hat, dem sie ins Ohr flüsterte: »Mit dir könnte ich sterben.« Wir begegnen Julka, die in ihrem Laden keine Rothaarigen bedient. Und Michał, den alle den Doktor nennen, der in seiner eigenen Welt aus Gerüchen lebt. Es ist eine eigenwillige Dorfgemeinschaft, die immer wieder dem Lauf der Geschichte trotzt – der Vertreibung durch die Deutschen, dann die Rückkehr, der Nachkriegszeit im Sozialismus, dann die Wende. Mit viel erzählerischen Talent verwebt Małecki die einzelnen Schicksale mit der Geschichte des Dorfes Chojny und zeichnet so die Geschichte Polens nach.

Małecki hat einen sehr eigenen, nüchternen spröden Erzählton, unter den sich eine leise Zärtlichkeit mischt. Hin und wieder blitzt sein Humor durch, den ich sehr zu schätzen weiß. Er legt so viel Augenmerk auf seine Nebenfiguren, dass sie fast zu Protagonisten werden, die letztlich zu einer Schicksalsgemeinschaft verschmelzen. Nur so gelingt es, trotz aller Trauer und Kriegsgewalt nicht an der Wirklichkeit zu zerbrechen. Es ist eine Geschichte über das Erwachsenwerden in schwierigen Zeiten, über Freundschaft und die Kraft der Liebe und einer Menge verpasster Gelegenheiten, die mich mal wieder zutiefst berührt hat.
Małecki gehört inzwischen für mich zu den besten zeitgenössischen Erzählern, gerade wegen seiner tieftraurigen Molltöne, den bodenständigen Figuren, die auf den ersten Blick wenig Heldenhaftes haben, voller Ecken und Kanten sind, manchmal auch sperrig und spröde, aber stets authentisch. Traurig schöne Geschichten, die mich immer wieder begeistern. Wieder hervorragend übersetzt von Renate Schmidgall. Ob am Ende alles gut ist, solltet ihr unbedingt selbst herausfinden, denn von mir gibt es eine absolute Leseempfehlung. Wie übrigens auch für seine anderen Bücher.

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Veröffentlicht am 25.09.2024

Wie weit muss man gehen, um sich selbst zu finden?

Spatriati
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»Spatriati, so nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, mitunter auch die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die nicht dazugehören.«
Francesco und Claudia gehen ...

»Spatriati, so nennt man in Apulien die Unbestimmten, die aus der Art schlagenden, die Spinner, mitunter auch die Ziellosen und Alleinstehenden, kurz: die nicht dazugehören.«
Francesco und Claudia gehen in Martina Franca, in der apulischen Provinz, aufs gleiche Gymnasium und könnten gegensätzlicher nicht sein. Er himmelt sie an, doch sie nimmt kaum Notiz vom ihm. Francesco kommt aus einfachen Verhältnissen, dessen Eltern eher eine Zweckehe führen. Desiati nennt es das grausame Gesetz des ruhigen Lebens, nach einem Verhaltenskodex zu leben, der einem einiges an Disziplin abverlangt, vor allem an so kleinen Orten, wo jeder zu wissen scheint, was sich gehört und was nicht.
Claudia kommt nicht nur aus einer anderen Gesellschaftsschicht, sondern fällt schon durch ihr Äußeres auf mit ihrer mondweißen Haut und ihren leuchtend roten Haaren. Sie ist sich von Beginn an ihrer Andersartigkeit bewusst und gibt Paroli, als sie gefragt wird, warum sie nicht wie die anderen sei. »Es ist schon schwer genug, so wie ich zu sein, wie sollte ich da auch noch wie die anderen sein.« S.10

Als Franks Mutter eine Affäre mit Claudias Vater beginnt, beschließt Claudia, in Frank eine Art Bruder, einen Verbündeten zu sehen. Frank, der in den Traditionen seiner Heimat und dem katholischen Glauben verhaftet ist, versteht nicht, warum sie seine Liebe nicht erwidern kann. Er kann es nur akzeptieren, dass sie schon bald weggehen will, weil sie sich vom Korsett – der Denkweise der Menschen ihrer Heimat – eingeengt fühlt. Während Frank versucht, sich dem Leben hier anzupassen, seine Homosexualität verleugnet, und immer wieder an Grenzen stößt, schlittert Claudia auf der Suche nach ihrer Identität von einer toxischen Beziehung in die nächste, sucht ihr Glück in der Fremde. Es wird Jahre dauern, bis Frank ihr nach Berlin folgt, um sich endlich selbst zu finden.

Berlin als Ort soll in der Geschichte eine zentrale Rolle spielen. Desiati, der selbst zeitweise dort lebt, sagt, Berlin sei die Heimat der zweiten Chance: »Eine Stadt, in der diejenigen, die sich gebrochen fühlen, Heilung finden können. In Berlin erzählten mir alle, die ich kennenlernte, fröhlich, kritisch, unbeschwert und diszipliniert von ihrem Scheitern.«

Spatriati ist ein komplexer Roman, der einige Tabus enthüllt. Es geht darum, das Anderssein zu akzeptieren, den Mut, dazu zu stehen, Grenzen aufzusprengen und Liebe als etwas zu verstehen, das weit mehr ist als die Verbindung zu nur einem anderen Menschen. In der es keine Regeln gibt, keine Eifersucht, keine Einschränkungen. Die Erkenntnis, dass der Weg dahin seine Narben hinterlässt, aber letztlich zur Befreiung und eigenen Identität führt.
Desiati lässt sich Zeit, den Irrungen und Wirrungen der Liebe und der damit verbundenen Selbstfindung zu folgen, zeigt, dass »coming of age« oft ein jahrzehntelanger Prozess der Leugnung, des Nichtwahrhabenwollens ist, viel Mut erfordert, auch Rückschläge und Verletzungen auszuhalten. Ich muss zugeben, dass er mich in der Mitte kurzzeitig verloren hatte, weil ich nicht verstand, wohin die Reise gehen soll. Nach einer Pause und einigen Recherchen bekam ich tatsächlich einen anderen Blick auf die Geschichte, begann nochmal von vorn und konnte ihm endlich mit Begeisterung folgen. Vielleicht waren es die Bezüge zu den mir unbekannten italienischen Autoren und apulischen Bräuchen, die er (hat man sie erstmal verstanden) in großartige Bilder verpackt, wie zum Beispiel den Biss der Tarantel.
Das Anderssein zieht sich als roter Faden durch den Roman, über die 25 Jahre, die wir die beiden begleiten. Immer wieder sind es die Erwartungshaltungen anderer, an denen man scheitert, zumindest in ihren Augen. Sich von der Meinung anderer unabhängig zu machen, zu akzeptieren, dass man ein Spatriato ist, bedeutet letztlich Befreiung und ändert vielleicht auch den Blick auf all jene, die in unseren Augen »anders« sind, um ihnen mit mehr Toleranz zu begegnen.

»Es ist äußerst schmerzhaft, sein ganzes Leben lang nicht man selbst zu sein.« S.100

Es geht aber auch um Heimat, Herkunft und Zugehörigkeit. Dass man sich davon nie ganz befreien kann. »Unsere Himmel packen einen mit ihren verdammten scharfen Krallen, man kommt nicht ohne Kratzer von ihnen los.« S.66
Letztlich tun sich Welten auf zwischen dem kosmopolitischen Berlin mit seiner grenzenlosen sexuellen Freizügigkeit und dem provinziellen, miefigen Apulien, in denen Francesco einen Kompromiss finden, sich arrangieren muss.

»Unsere Herkunft haftet an uns wie ein riesiges Muttermal, du kannst es so sehr bedecken, wie du willst, es bleibt doch immer da.«

Nicht immer ein leichtes Stück Literatur, dass aber am Ende überzeugt hat. Desiati erhielt dafür 2022 den renommierten Literaturpreis Italiens, den Premio Strega. Übersetzt von Martin Hallmannsecker.

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Veröffentlicht am 22.09.2024

Islands deutsche Einwanderinnen

Moosflüstern
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In der Familie Lieber verdrängt man gern unangenehme Themen, vor allem solche aus der Vergangenheit. Und so ist es kein Wunder, dass Heinrich erst mit 40 erfährt, dass seine leibliche Mutter kürzlich verstorben ...

In der Familie Lieber verdrängt man gern unangenehme Themen, vor allem solche aus der Vergangenheit. Und so ist es kein Wunder, dass Heinrich erst mit 40 erfährt, dass seine leibliche Mutter kürzlich verstorben ist, und zwar in Island. Scheinbar gelassen nimmt Heinrich zunächst die Neuigkeiten auf, auch dass er noch eine Tante in Paris hat, hieß es doch immer, seine Familie sei verstorben. Doch das beschauliche, biedere Leben des korrekten Bauingenieurs aus Graubünden wird in den nächsten Wochen gehörig auf den Kopf gestellt. Nicht nur seine Karriere erleidet Schaden durch einen folgenschweren Fehler seinerseits. Und so nutzt Heinrich die Gunst der Stunde und reist nach Paris zu seiner Tante, um mehr über seine Mutter zu erfahren. Anschließend fliegt er nach Island, um ihr Grab zu besuchen, nichtsahnend, dass diese Reise zu einem Abenteuer werden wird.

20 Jahre nachdem Schmidt mit dem Schreiben begonnen hatte, erschien nun Moosflüstern im Diogenes Verlag. (2017 erstmals im Landverlag.) Die Geschichte hat einen wahren historischen Hintergrund und geht zurück zur Nachkriegszeit, als es in Island an Frauen mangelte und dringend Arbeitskräfte gebraucht wurden. 1949 wurden vom isländischen Bauernverband per Anzeige in Deutschland »Dienstmädchen für Landhaushalte« gesucht. »Bauer sucht Frau« in einer frühen Ausgabe sozusagen. Rund 200 Frauen kamen damals mit der MS »Esja« in Island an.
Im Roman ist auch Anna, Heinrichs Mutter, auf dem Schiff, die von ihrem entbehrungsreichen, anstrengenden Leben in der neuen Heimat, der harten, nicht enden wollenden Arbeit auf dem Hof berichtet und dem wahren Grund, warum sie ihre Familie damals verlassen hat. Vorbild für Anna war Ursula von Balszun, deren Geschichte in einem kurzen Nachwort erzählt wird.
Hauptsächlich folgen wir aber Heinrich auf seinem Roadtrip, der ihn ordentlich verändern soll.

Ich muss zugeben, ich hatte so meine Schwierigkeiten mit dem biederen, überkorrekten Spießer Heinrich mit seiner Modelleisenbahn im Keller. Auch seine Entwicklung, die er im Laufe seiner Reise durchmacht, erschien mir nicht immer glaubwürdig, eher etwas drüber. Um so mehr gefielen mir die Passagen, in denen seine Mutter zu Wort kommt. Davon hätte ich mir inhaltlich mehr gewünscht. Dass Schmidt erzählen kann, wissen wir spätestens seit Kalmann. Auch hier blitzt gelegentlich sein unverkennbarer Humor durch, den ich in seinen späteren Büchern so mochte. Unverkennbar auch sein Talent, uns als Leser*innen die raue, gewaltige Landschaft Island zu zeigen, der hier im Buch am Ende eine besondere Rolle zukommt. Ob man allerdings das Ende mag, ist wohl Geschmacksache.
Ich kann sehr gut verstehen, dass Schmidt neugierig war, als er zum ersten Mal von den »Esja-Frauen« erfahren hat. Die teils dramatischen Schicksale, die diese Frauen damals veranlasste, ihre Heimat zu verlassen, hat Schmidt erzählerisch gut und eindrücklich verpackt.

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Veröffentlicht am 21.09.2024

Wütend, eindringlich, poetisch

Als wir Schwäne waren
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»Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht wessen.«

… lese ich hinten auf dem Einband und muss schlucken. Ein Satz, der umhaut, genau wie die Geschichte zwischen den Buchdeckeln.

Rezas Leben in der Plattenbausiedlung ...

»Wir sind ein Alptraum. Ich weiß nur nicht wessen.«

… lese ich hinten auf dem Einband und muss schlucken. Ein Satz, der umhaut, genau wie die Geschichte zwischen den Buchdeckeln.

Rezas Leben in der Plattenbausiedlung ist ein Alptraum. Geprägt von Gewalt, Diskriminierung und Kriminalität. Er war 9, als er mit seinen Eltern aus dem Iran floh und nun in den 90ern versucht, seinen Platz in einer fremden Gesellschaft zu finden, irgendwo zwischen Kinderbanden, Kleinkriminellen und Dealern, wovon seine Eltern kaum etwas mitbekommen. Beide sind Akademiker, ihre Abschlüsse werden aber nicht anerkannt. Auch wenn sein Vater nun Taxi fährt, hält er an seinen Werten, seinem Stolz fest. Doch was helfen Reza Werte, wenn er jeden Tag auf der Straße um Anerkennung kämpfen muss, sich durchsetzen muss. Hier herrscht das Gesetz des Stärkeren, wenige gewinnen, die meisten verlieren. Manchmal auch ihr Leben.

In kurzen Episoden aber mit sprachgewaltiger Poesie in seinen direkten Worten schreibt Karim Kahni von der Suche nach Heimat, von Chancenlosigkeit, von Erniedrigung und Wut. Sehr viel Wut! Wut auf ein ganzes Land, in dem es keinen Platz gibt für Menschen wie Reza und seine Familie. Keine Zukunft – einst sozialer Wohnungsbau, jetzt Endstation für die meisten. Die Realität hat ihnen die Flügel gestutzt, sie ziehen nicht mehr weiter, suchen nicht mehr nach einem besseren Dasein, dümpeln genau wie die Schwäne im Teich vor sich hin. Nichts ist geblieben von den stolzen Zugvögeln seiner einstigen Heimat.

Dass sich Reza vielleicht auch dank seiner Bildung aus dem Milieu befreien kann, wird deutlich, wenn man sich die Biografie des Autors betrachtet, denn das Buch trägt einige autobiografische Züge. Doch er wird ein Heimatloser bleiben, auf der Suche nach sich selbst, der sein Trauma in Therapien verarbeiten lernt.

Es ist ein unbequemes Buch, das uns den Spiegel vorhält. Von wegen Willkommenskultur! »Wo »Du bist Gast hier!« eine Drohung ist …«, schreibt Karim Khani. Kalt, unfreundlich und herzlos. Nur nicht hinschauen, wenn wir die unterschiedlichsten Kulturen in Ghettos zusammenstecken – Hauptsache, sie bleiben da, wo sie sind. Ich kann seine Wut nicht nur verstehen, ich kann sie auch fühlen. Und in meinem Kopf läuft in Endlosschleife »Bochum«, in dem sich die Ruhrpottler für ihren Zusammenhalt und ihre Menschlichkeit feiern. »Du Blume im Revier« … Ob Menschen wie Reza die Hymne mitgrölen würden?

Fazit: Ein Buch, das alles auf den Punkt bringt, kraftvoll, schonungslos und doch mit poetischen Worten und Bildern. Das das typische Leben in der Diaspora zeigt, Wut begreifbar macht. Das zeigt, dass Integration nicht nur von einer Seite ausgeht. Ein Heimatbuch eines Heimatlosen, wie er selbst sagt.

Ich bedaure, dass ich »Hund, Wolf, Schakal« noch nicht gelesen habe, werde das aber umgehend nachholen. »Als wir Schwäne waren« ist definitiv ein Highlight für mich.

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