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Veröffentlicht am 08.05.2023

Die große Kunst der präzisen Worte

Das dritte Licht
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Auf weniger als 100 Seiten begleiten wir ein namenloses Mädchen einen Sommer lang. Sie ist 7 oder 8 Jahre alt und wird von den Eltern zu entfernten Verwandten gebracht, wir sind Anfang der 80er Jahre in ...

Auf weniger als 100 Seiten begleiten wir ein namenloses Mädchen einen Sommer lang. Sie ist 7 oder 8 Jahre alt und wird von den Eltern zu entfernten Verwandten gebracht, wir sind Anfang der 80er Jahre in Irland auf dem Land. Nur langsam setzt sich das Milieu zusammen, in dem sie aufwächst, spärlich, in wenigen Sätzen. Ihre Mutter ist schon wieder schwanger, wieder ein Mund mehr zu stopfen. Der Vater, ein Spieler und Trinker. Es mangelt an vielem, vor allem aber an Liebe und Zuwendung. Doch sie kennt ja nichts anderes.

»Ein Teil von mir will, dass mein Vater mich hier lässt, ein anderer Teil, dass er mich wieder zurückbringt, zu dem, was ich kenne. Ich stecke in der Zwickmühle, wo ich weder die sein kann, die ich immer bin, noch zu der werden kann, die ich sein könnte.« S.15

In reduzierten Miniaturszenen erleben wir, wie sich die Welt des Mädchens ändert. Bei den Kinsellas gibt es Rhabarberkuchen und ein heißes Bad, in dem noch niemand vor ihr gebadet hat. Aber vor allem gibt es Liebe, Zuneigung und Verständnis. Doch es gibt auch ein trauriges Geheimnis, dass einen Schatten über die glücklichen Tage wirft.

Das Bedrückende an der Geschichte war die Tatsache, dass das Mädchen in eine völlig normale Welt kommt, doch allein durch ihre Gedanken fühlt man, wie groß der Unterschied zu ihrem bisherigen Leben ist.

»Hier gibt es Raum und Zeit zum Denken. Vielleicht bleibt sogar Geld übrig.«

Durch die Ich-Perspektive des Mädchens, geschrieben im Präsens, gelangen wir nur schrittweise in seine augenblickliche Welt. Was das Mädchen nicht weiß, was es sich nicht erklären kann, erfahren wir auch nicht als Leser. Es ist ein Herantasten, ein Miterleben. Aber immer schwingt eine latente Spannung mit. So, als würde die Idylle nur trügerisch sein und jeden Moment wie eine Seifenblase platzen.

Das gelingt Keegan vor allem durch die Präzision der Sprache, der wenigen Sätze, die ein exaktes Bild in unserer Vorstellung schaffen. Anderes wird verschwiegen oder nur angedeutet. Deshalb ist es so wichtig, jeden einzelnen Satz in Ruhe zu lesen, erst dann entsteht ein Bild, dessen Lücken nach und nach geschlossen werden.
In diesem Buch gibt es keine Effekthascherei, keine Bewertung oder Auseinandersetzung. Es ist ein leises, schweigsames Buch, dessen Kraft in der Erzählweise an sich liegt. Mit viel Sensibilität sich in die Welt eines Mädchens hineinzuversetzen, die von Lieblosigkeit geprägt war und Spuren hinterlassen hat.
Das Ende ist offen, lässt sich interpretieren und lädt dazu ein, das Buch gleich noch mal von vorn zu lesen. Und das werde ich jetzt auch tun, denn es hat mich zutiefst bewegt.

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Veröffentlicht am 03.05.2023

Camilleris Leben

Brief an Matilda
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Beim Blick auf das Cover könnte man einen Liebesbrief erwarten, doch dem ist nicht so. Camilleri hat 2017 im Alter von 91 Jahren seiner 4-jährigen Urenkelin Matilda dieses Buch geschrieben, weil ihm bewusst ...

Beim Blick auf das Cover könnte man einen Liebesbrief erwarten, doch dem ist nicht so. Camilleri hat 2017 im Alter von 91 Jahren seiner 4-jährigen Urenkelin Matilda dieses Buch geschrieben, weil ihm bewusst war, dass ihm nicht mehr viel Zeit bleiben wird.

»… ich werde keine Gespräche mehr mit dir führen können. Dieser Brief soll ein Ersatz für den Dialog sein, der niemals stattfinden wird.« S.6

Es ist wohl Camilleris persönlichstes Buch, in dem er Matilda über sein Leben erzählt. Eine Biografie auf 126 Seiten. Beim Schreiben, oder besser beim Diktieren, denn er ist bereits vor einiger Zeit erblindet, spielt seine Urenkelin unter seinem Schreibtisch. So, wie es zuvor schon seine Töchter und Enkel taten.
Voller Dankbarkeit blickt Camilleri auf sein Leben zurück, erzählt von seiner Kindheit und Jugend im Musolini-Faschismus und wie er zum Kommunisten wurde. Dass ihm seine Gesinnung oft die Verwirklichung seiner Träume kostete, er aber weder seine Gesinnung noch seine Träume aufgegeben hat.
Er schreibt über seinen steinigen Weg bis zum Theater, seinen späten Erfolg als Autor, seine Liebe zur Literatur, sein Verständnis über die Politik in Italien und Europa. Aber auch, wie er seine große Liebe Rosetta kennenlernte, über wichtige Freunde und Weggenossen.
Das alles gelingt ihm wie immer humorvoll, voller Gefühl und Aufrichtigkeit, mit camillerischer Leichtigkeit. Für alle Camilleri-Fans ein Muss.

»Ich habe keine Angst vor dem Sterben. Es schmerzt mich nur zutiefst, die Menschen verlassen zu müssen, die ich am meisten liebe.« S.123

Andrea Camilleri starb nur 2 Jahre später am 17.7. 2019 in Rom.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Bücher gegen das Vergessen

Ich war das Mädchen aus Auschwitz
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»Seit meiner Geburt hatte ich in einer Welt gelebt, in der jüdisch sein bedeutete, dass man zum Sterben bestimmt war. Es war völlig normal, zum Sterben abkommandiert zu werden. Alle jüdischen Kinder starben.« ...

»Seit meiner Geburt hatte ich in einer Welt gelebt, in der jüdisch sein bedeutete, dass man zum Sterben bestimmt war. Es war völlig normal, zum Sterben abkommandiert zu werden. Alle jüdischen Kinder starben.« S.24

Mit dieser Gewissheit wächst Tova Friedman im Ghetto von Tomaszów Mazowiecki auf. Als 4-Jährige muss sie mitansehen, wie Menschen aus ihrer Familie, Freude und Nachbarn selektiert und vor ihren Augen erschossen werden. Sie erzählt schonungslos von Hunger, von Entwürdigung, vom Sterben. Sie musste sich zwischen Toten verstecken, um zu überleben. Mit 6 Jahren wird sie zusammen mit ihren Eltern nach Auschwitz deportiert, hat eine Gaskammer von innen gesehen und überlebt mit 180 Kindern das KZ.

»Ich habe überlebt. Damit einher geht die Verpflichtung gegenüber den anderthalb Millionen jüdischen Kindern, die von den Nazis ermordet wurden. Sie können nicht mehr sprechen. Also spreche ich für sie.«

Klar und nüchtern beschreibt sie die unfassbaren Gräueltaten der Nazis. Immer wieder belegt sie ihre Schilderungen mit persönlichen Schicksalen und erschreckenden Zahlen. Durch ihre Erziehung ist sie tief verwurzelt im jüdischen Glauben, lernt von ihren Eltern, an Liebe und Hoffnung zu glauben. Eine starke Rolle spielte auch ihre Mutter, die ihr früh beibrachte, hinzusehen, damit sie die Warnungen und Folgen ernst nahm. Tova ist überzeugt, dass ihre Mutter ihr damit das Leben gerettet hat.
Tova Friedman erzählt auch über ihr späteres Leben in den USA, wo sie mit 11 Jahren ihren Mann kennengelernt hat. Über die Zeit, die sie mit ihrer Familie in Israel verbracht hat, wo sie auch den Sechstagekrieg miterleben musste. Zurück in den USA arbeitet sie als Psychotherapeutin mit traumatisierten Menschen. Ihr ganzes Leben widmet Tova Friedman der Aufklärung, vor allem jüngeren Menschen, von denen erschreckend viele immer noch glauben, der Holocaust sei eine Erfindung. Dies tut sie auch gemeinsam mit ihrem Enkel Aron auf TikTok.

Vom ersten Teil des Buchs war ich so schockiert und ergriffen, dass ich noch nicht mal weinen konnte. Das gelang mir erst, als Tova Friedman über ihr Leben nach Auschwitz erzählt hat. Denn das hat mir gezeigt, wie stark diese Frau ist, sogar ihre Stärke mit anderen teilt. Sie hat nie den Glauben an die Menschlichkeit verloren, all ihrer Erfahrungen zum Trotz.
Ich weiß, dass viele solche Bücher nicht aushalten können, aufgrund der schrecklichen Schilderungen. Aber sie sind so unendlich wichtig, dass diese Schicksale nicht vergessen werden. Gerade in einer Zeit wo Hass und Hetze zunehmen, Antisemitismus wieder aufflammt, die Rechtsradikalen zunehmend Anhänger finden. Vergessen wir niemals, dass genau darum Hitler ein leichtes Spiel hatte, einen Vernichtungskrieg gegen ein ganzes Volk zu führen und den barbarischsten Krieg aller Zeiten anzuzetteln.
Ihr Zeugnis ist eine Mahnung an uns, diese Zeit nicht zu vergessen, dieses unsägliche Leid, die Vernichtung eines ganzen Volkes auf die schändlichste Weise.
Es ist ein Buch gegen das Vergessen, Tova Friedman ist mit 84 eine der letzten Überlebenden.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Commissario Montalbano entdeckt eine neue Welt

Die Botschaft der verborgenen Bilder
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Seit 23 Jahren begleite ich Commissario Salvo Montalbano nun schon bei seinen Ermittlungen in der fiktiven Stadt Vigata. Damals noch in der Blüte seiner Jahre, steht er heute kurz vor der Rente und hadert ...

Seit 23 Jahren begleite ich Commissario Salvo Montalbano nun schon bei seinen Ermittlungen in der fiktiven Stadt Vigata. Damals noch in der Blüte seiner Jahre, steht er heute kurz vor der Rente und hadert mit dem Älterwerden. Sein neuster Fall konfrontiert ihn mit einem Überfall an einer Schule. Montalbano muss sich eingestehen, dass er nur wenig von dem Leben der Jugendlichen weiß.
Während die Verbrecher scheinbar untätig sind, gibt es auf dem Polizeirevier nicht viel zu tun. Trotzdem ist Montalbano genervt, denn eine schwedische Filmcrew hat den Ort auf den Kopf gestellt, um einen Film zu drehen, der in den 50ern spielt. Die Bewohner sind aufgerufen, Foto- und Filmmaterial aus der Zeit aufzutreiben. Ingegnere Sabatello hat einen alten Film seines Vaters gefunden, der über Jahre hinweg nur eine Mauer aufgenommen – immer am gleichen Tag zur gleichen Uhrzeit. Als er ihn dem Kommissar bringt, kann auch der sich keinen Reim darauf machen, aber seine Neugier ist geweckt und er stößt auf ein mörderisches Familiengeheimnis.

Dank der Verfilmungen habe ich die Gesichter und Örtlichkeiten jedes Mal vor Augen, deshalb ist es ein bisschen wie »nach Hause kommen«, man kennt sich inzwischen. Montalbano, bekannt für seine Reizbarkeit und Launen, wird langsam altersmilde. Längst löst er seine Fälle nicht mehr auf Teufel komm raus, interessiert sich aber nach wie vor für die Irrungen und Wirrungen der menschlichen Seele. So ist es kein Wunder, dass er hin und wieder unorthodoxe Methoden anwendet, die Wahrheit etwas verbiegt, wenn es zum Schutz seiner Mitmenschen dient. Diesmal hat er allerdings den Bogen etwas überspannt, doch er hat auch den Mumm, sich bei den Betroffenen zu entschuldigen.

Andrea Camilleris Figuren sind meisterhaft und bis ins Detail authentisch, die Landschaft in Sizilien, als Ausdruck seiner Heimatliebe, wird so bildlich geschildert, dass es jedes Mal wie ein Urlaub ist, wenn ich eins seiner Bücher lese. Die Dialoge sind unterhaltsam, mit feinem Humor gespickt und glaubwürdig gestaltet.
Aber Camilleri lässt es sich auch nicht nehmen, die Finger in die Wunde des Zeitgeschehens zu legen. Durch die Augen seines Protagonisten kommentiert er die Vereinsamung der Jugend, die nur noch an ihren Handys hängt. Er macht sich Gedanken über die Verschmutzung der Abwässer und den Tod tausender Flüchtlinge im Mittelmeer. Spielerisch lässt er es in die Handlung einfließen, was ihn letztlich immer ein Stück näher an die Lösung seines Falls bringt.
Einige seiner Fälle wurden verfilmt und sind in der ZDF-Mediathek zu finden.
Der Originaltitel »La rete di protezione«, übersetzt Sicherheit(Schutz-)netz, passt etwas besser zum Inhalt. Es ist das erste Buch, dass er aufgrund seiner Erblindung mit 92 Jahren nicht mehr selbst geschrieben, sondern diktiert hat. Und, wie ich finde, eins seiner besten.

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Schuld und Gerechtigkeit

Der Fall Collini - Filmausgabe
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Collini tötet in einem Hotel einen alten Industriellen mit 4 Schüssen und tritt noch mehrmals auf ihn ein, es gleicht einer Hinrichtung. Anschließend setzt er sich in die Hotelhalle, lässt sich festnehmen ...

Collini tötet in einem Hotel einen alten Industriellen mit 4 Schüssen und tritt noch mehrmals auf ihn ein, es gleicht einer Hinrichtung. Anschließend setzt er sich in die Hotelhalle, lässt sich festnehmen und gesteht den Mord. Es schein ein klarer Fall zu sein, den der junge, unerfahrene Anwalt Caspar Leinen übernimmt. Nur zu seinem Motiv will Collini nichts sagen. Kurze Zeit später erfährt Leinen, dass es sich bei dem Opfer um den Großvater seines besten Freundes handelt und sieht einen Interessenskonflikt. Er kann sich nicht vorstellen, weshalb man alten, liebenswerten Mann hätte umbringen sollen.
Aber was treibt Fabrizio Collini dazu, einen Mord zu begehen? Vierunddreißig Jahre hat er als Werkzeugmacher bei Mercedes gearbeitet. Nie ist er mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Mit der Zeit verschiebt sich die Wahrnehmung auf die einzelnen Charaktere, deren Vergangenheit langsam an die Oberfläche kommt. Bei seinen Recherchen stößt Leinen auf ein erschreckendes Kapitel der deutschen Justizgeschichte.
Ich kannte bereits die Verfilmung mit Elyas M’Barek, war aber neugierig, wie von Schirach mir die Geschichte erzählt. Sprachlich wie immer in seiner gewohnt unaufgeregten, nüchternen Art, die ich sehr mag. Seine Sätze sind auf den Punkt und bewusst distanziert, um keine Emotionen vorwegzunehmen. Denn wie alle seine Geschichten will er uns zum Nachdenken anregen.
Wieder ist es von Schirachs Frage nach Schuld, Sühne und Gerechtigkeit, die alle seine Werke spannend und aufwühlend machen. Darf man mit einem Täter Mitleid haben, Verständnis für dessen Tat? Wo ist der Unterschied zwischen Recht und Gerechtigkeit? Kann es auf jede Frage eine eindeutige Antwort geben?
Für mich sind die Bücher von Ferdinand von Schirach immer wieder ein Genuss. Deshalb bekommt auch dieses eine eindeutige Leseempfehlung von mir.

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