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Veröffentlicht am 05.07.2023

Humoriger Schreibstil mit einer Prise Gesellschaftskritik

Kaiser der Obdachlosen
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Fangen wir beim Augenscheinlichen an. Dem Milena Verlag ist hier ein originelles Cover gelungen, das mich neugierig gemacht hat. Aber auch das nackte Buch muss sich nicht verstecken, denn es kann mit Ankern ...

Fangen wir beim Augenscheinlichen an. Dem Milena Verlag ist hier ein originelles Cover gelungen, das mich neugierig gemacht hat. Aber auch das nackte Buch muss sich nicht verstecken, denn es kann mit Ankern bedruckten Vorsatzpapieren und einem standesgemäß güldenen Lesebändchen aufwarten. Standesgemäß? Ja, denn es geht um nichts Geringeres als die Wahl eines Monarchen auf österreichischem Mittelstadtboden. Die Kaiser-Tradition in dem Alpenländchen ist ja eher unbedeutend, daher hat der Autor sich wohl gedacht, sie nur von einer bestimmten Gesellschaftsschicht weiterführen zu lassen. Und zwar nicht irgendeiner, der ohnehin Macht und Einfluss zuzuschreiben ist, sondern den Obdachlosen.

Nachdem wir die mehr oder weniger stereotypischen Grüppchen kennengelernt und einigen Bewerbern gelauscht haben, kann sich ausgerechnet ein ehemaliger Käpt’n zu See bei der Wahl durchsetzen. Ich sag nur: Augen auf bei der Berufswahl, in einem Binnenstaat kann man dabei schnell auf der Straße landen. Gerhard, besagter »Schiffsbruchsepp«, verspricht dem bunten Haufen ein Dach über dem Kopf – genauer gesagt Kirchenasyl.

»… wir werden diese Steinpaläste mit Leben füllen, wir werden uns ein Dach über dem Kopf holen! Wir werden uns ein Haus machen, ein Haus für uns! In dem es keine Polizei gibt! Wo es keine Alktests gibt. Wo einem nichts geklaut wird. Wo man sich für ein paar Minuten niederlegen kann. … Wir werden uns nehmen, was wir verdienen! … Was uns gehören MUSS!« S. 22

Damit gewinnt man also in Österreich die Wahl zum Kaiser der Sandler. Das bleibt natürlich von der Polizei nicht unbeobachtet. Allen voran Leopold, der reichlich desillusioniert seinen Dienst versieht, aber letztlich in die ganze Sache reingezogen wird.

Die skurrile Story gipfelt in der Olympiade der Obdachlosen, die nicht nur den eigentlichen Höhepunkt darstellt, sondern augenöffnende Begleiterscheinungen hat. Und danach? Mhm, sind ihm die Ideen zu den Figuren ausgegangen? Das Ende war mir etwas zu schnell runtererzählt.
Alles in allem kein schlechtes Buch, denn es wird trotz des humorigen Stils mit einer scharfen Prise Gesellschaftskritik gewürzt, die dazu angeregt, uns mal wieder an die eigene Nase zu fassen, unseren Blick zu korrigieren auf die, die am Straßenrand die Hand aufhalten.
Allerdings scheint der Erzähler hier über der Geschichte zu thronen und die ganze Szenerie mit einem selbstherrlichen Blick zu betrachten. Muss man mögen, war nicht immer mein Gusto. Hätte er sich an mancher Stelle nicht zu sehr aufgeblasen (der Erzähler, nicht der Autor, denn als Leser weiß man ja, dass das nicht dasselbe ist), wäre die Geschichte wohl auch auf weniger als 115 Seiten erzählt gewesen. Jener Erzähler wendet sich also immer wieder an seine Leserschaft, um den Fortgang der Geschichte plausibel zu erklären, wortschwallartig Thesen zu untermauern und sicherzustellen, dass wir auch verstehen, was er von uns will. Klingt dann so:

»Und jetzt bitte nicht damit kommen, dass ich den Lesern nicht zutraue, aus den verfügbaren Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich respektiere auch die Schlüsse, die nicht mit meiner Intension übereinstimmen.« S. 42

Danke, Herr Wakolbinger.
Und wer bis zum Ende meiner Rezension gelesen hat, danke an der Stelle, kann einen Blick auf den Instagram-Account des Autors werfen. Denn er macht es sich zur Angewohnheit, Rezensent*innen »nicht mit allem durchkommen zu lassen«, was sie so verzapfen. Sei es nun die Ausdrucksweise, die Kritik oder Form und Länge.
Dabei möchte ich zu bedenken geben, dass ich nur meinen persönlichen Geschmack wiedergebe, obs ihm nun gefällt oder nicht. Immerhin muss ich mir mit meinem Geschreibsel kein Geld verdienen.
In dem Sinne »Pfiat di.«

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Veröffentlicht am 25.06.2023

Wer bezahlt für die Träume von einem besseren Leben?

Wenn ich wiederkomme
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Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie ...

Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie verlässt, um in Italien als schlechtbezahlte Pflegerin zu arbeiten.
Im ersten Teil „Wo bist du“ erleben wir aus der Perspektive des zwölfjährige Manuels, wie es sich für ihn anfühlt, als seine Mutter eines Morgens verschwunden war. Der arbeitsscheue Vater hat schon lange keinen Job mehr und das bisschen Geld, das Daniela verdient, reicht nicht, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch Manuel träumt von einem einfachen Leben, für ihn zählt die Nähe der Familie, das Zusammensein.

„Zu Hause hieß es die ganze Zeit nur: „Das hat sie für uns getan“, „Wir sollten ihr dankbar sein“, „Was sie alles auf sich nimmt für die Familie“ … Mich überzeugte das kein bisschen. Und wenn mein Vater Sachen sagte wie: „Sie wischt den Alten den Arsch ab, damit du studieren kannst“, hätte ich ihm am liebsten geantwortet: und damit du dich auf dem Sofa mit Bier vollaufen lassen kannst.“ S.30

Im zweiten Teil „Weit weg“ kommt Daniela selbst zu Wort und schildert uns nicht nur ihre Beweggründe, sondern auch die harte Arbeit als 24/7-Pflegekraft in verschiedenen Familien, die mit der Pflege ihrer Angehörigen selbst überfordert sind. Wozu freie Tage nehmen, wo sie doch jeden Euro braucht, um ihn in die Heimat zu schicken. Also arbeitet sie bis zur Erschöpfung, die in ihrer Heimat einen eigenen Namen hat – Italienkrankheit. Doch mit dem, was sie zu Hause erwartet, hat sie nicht gerechnet.

Angelica, die älteste Tochter, hat sich in all den Jahren der Familie entfremdet und wir erfahren im dritten Teil „Bumerang“, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt.

Das Tolle an dem Buch war tatsächlich, dass Balzano sich hier für die drei unterschiedlichen Perspektiven entschieden hat. Das machte für mich das ganze Leid, das diese Entscheidung mit sich brachte, greifbar und nachfühlbar. Zu sehen, welche Auswirkungen das auf jeden Einzelnen hat, dass die eigenen Träume nicht immer die der Kinder sind, war sehr ergreifend. Das große Problem der Arbeitsmigration bekommt hier ein sehr persönliches Gesicht, mit all dem Leid, das daraus erwächst. Erschreckend war für mich auch, dass es speziell in Rumänien für die bis zur Erschöpfung arbeitenden Frauen einen eigenen Begriff gibt „Italienkrankheit“ oder „Italiensyndrom“. Dabei ereilt die Kinder hier noch das bessere Schicksal, denn sie haben ihre Großeltern, die sich liebevoll um sie kümmern. Andere Kinder landen einfach im Heim und werden somit zu „Eurowaisen“. Ein wirklich brisantes Thema, das er tief ausgearbeitet hat, was allerdings etwas zu Lasten der Charaktere ging, die mich diesmal nicht so tief berühren konnten wie in seinen anderen Romanen.
In seinem mehrseitigen Nachwort erläutert Balzano, wie er zu dieser Idee gekommen ist und dass er in Rumänien Einrichtungen besucht hat, die sich um die zurückgebliebenen „Home-Alone-Children“ kümmern.

Nichtsdestotrotz möchte ich das Buch schon allein der Thematik wegen wärmstens empfehlen. Denn die hallt auch jetzt nach Tagen noch immer in mir nach. Ich spüre die tragische Sehnsucht, die schon im Titel angelegt ist. Mit so vielen Träumen könnte man den Satz: „Wenn ich wiederkomme“ beenden und doch bleiben sie alle auf der Strecke.

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Veröffentlicht am 23.06.2023

Überkonstruierter Plot, voller Klischees

Die Wahrheit über den Fall Harry Quebert
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In der Kleinstadt Aurora verschwand vor 33 Jahren die 15-jährige Nola. Nun wird ihre Leiche gefunden, und zwar im Garten des berühmten Schriftstellers Harry Quebert. Er wird zum landesweiten Skandal, denn ...

In der Kleinstadt Aurora verschwand vor 33 Jahren die 15-jährige Nola. Nun wird ihre Leiche gefunden, und zwar im Garten des berühmten Schriftstellers Harry Quebert. Er wird zum landesweiten Skandal, denn er gibt zu, damals ihr Geliebter gewesen zu sein, obwohl er viele Jahre älter war als sie. Die Anklage lautet Mord, denn bei dem Skelett wird Qs Manuskript gefunden. Marcus Goldman, sein ehemaliger Schüler und einziger Freund hält zu ihm und will seine Unschuld beweisen. Goldman, inzwischen selbst ein erfolgreicher Schriftsteller, hat eine Schaffenskrise und beginnt er auf eigene Faust zu ermitteln, da er von Qs Unschuld überzeugt ist. Und sein Verleger wittert das große Geschäft.

Dicker schreibt flüssig und gut lesbar, weshalb ich das Buch mit über 700 Seiten in Kürze verschlungen hatte. Seine Zeitsprünge zwischen 2008 und 1975 gelingen mühelos, so dass wir Leser immer mitten im Geschehen sind.

Aber es gibt viel, das mich gespalten zurücklässt. Auch wenn die Ausgangslage vielversprechend war, hat mich mit der Zeit immer mehr genervt. Was kriegen wir hier eigentlich? Eine zweifelhafte Lolita-Liebesgeschichte, ein Whodunnit-Krimi in einer amerikanischen Kleinstadt von einem Schweizer und einen Seitenhieb auf die Verlagsbranche wie man Bestseller macht. Wir suhlen uns ein wenig in der »Schriftstellerkrankheit«, erhalten Schreibtipps in Form von Kalendersprüchen und müssen uns mit einer Menge Figuren rumschlagen, die entweder stereotyp, platt oder überzeichnet sind, bestenfalls noch angestrengt komisch, manche sogar überflüssig. Ich denke da an Marcus’ Mutter, die ich am liebsten an die Wand geklatscht hätte und die nichts für die Geschichte getan hat. Und sprachlich entgleist er ab und zu auf das Niveau einer Vorabendserie.

Kleine Kostprobe?
»Oh, allerliebster Harry, ich bin ja so glücklich!«
»Meine Nola, allerliebste Nola, Nola, meine Liebe! … Ich liebe Dich, ich liebe Dich über alles. Verlass mich nicht. Wenn Du stirbst, sterbe auch ich. Du bist das Einzige in meinem Leben, was zählt. Vier Buchstaben: N-O-L-A.«

Dieses ganze Gesülze zwischen Q und Nola war so ziemlich das Einzige, das wir über die Liebe erfahren, warum und wieso sie zu seiner Muse wird – keine Ahnung.

Erscheint mir wie eine riesige Selbstbeweihräucherung, denn der Autor wird nicht müde, seine Nebenfiguren permanent wiederholen zu lassen, wie genial und großartig doch die beiden Autoren sind. Es mag viel über die Dummheit der Figuren aussagen, aber beim Lesen nervt es. Übrigens wie alle seine Redundanzen und davon gibt es viele. Hätte man den zwanghaft überkonstruierten Plot um mindestens 200 Seiten gekürzt, wäre es leichter zu ertragen gewesen.

Die einzig wahre Enthüllung an dem Buch mag für manche sein, dass es vor Augen führt, wie Bestseller gemacht werden. Und das hat erstaunlich viel mit der Realität zu tun. Reichlich mit der Werbetrommel Krawall machen und Millionen fallen darauf rein – und das, bevor auch nur eine einzige Zeile je gelesen wurde. Ja, so funktioniert der Literaturbetrieb und deshalb schlagen bei mir alle Alarmglocken an, wenn Bücher Vorschusslorbeeren bekommen und mit der Gießkanne an Vorableser verteilt werden.

Tja und so sind Dickers Voraussagungen eingetroffen, auch aus seinem Buch wurde ein Bestseller gemacht!

Ja, man kann einige Wendungen in einem Krimi konstruieren. Aber hier waren es mir zu viele. Am Ende haut uns Dicker eine vermeintliche Wahrheit nach der anderen um die Ohren, gibt auf den letzten 200 Seiten noch mal richtig Gas, dass ich fast erschlagen wurde von dem Tempo und den Enthüllungen. Aber letztlich war es mir auch egal, wer sie nun warum umgebracht hat, und ehrlich – ich habs auch schon wieder vergessen.

Zum Schluss noch ein Kalender-Schreibtipp von Q oder Dicker, je nachdem wie man es sieht:
»Ein gutes Buch, Marcus, ist ein Buch, bei dem man bedauert, dass man es ausgelesen hat!«
Stimmt, trifft nur hier nicht zu!

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Veröffentlicht am 21.06.2023

Sprachlich 1A

Auf die sanfte Tour
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Das Buch ist der Auftakt der Sheriff-Lucian-Wing-Reihe und das erste Buch, das ich von Freeman gelesen habe – aber bestimmt nicht das letzte.

Wing ist Sheriff über 17 kleine Ortschaften im ländlichen ...

Das Buch ist der Auftakt der Sheriff-Lucian-Wing-Reihe und das erste Buch, das ich von Freeman gelesen habe – aber bestimmt nicht das letzte.

Wing ist Sheriff über 17 kleine Ortschaften im ländlichen Vermont. In einer Villa, die den Russen gehört, wurde ein Safe gestohlen und Wing muss den Dieb finden, bevor die Russen es tun. Doch Wing hat seine eigene Vorstellung vom Sheriffsein und dazu gehört, sich aus dem Lauf der Dinge rauszuhalten und hinterher aufzuräumen. Wing hat einen unerschütterlichen Glauben daran, dass Menschen nach kleinen Ausrutschern von selbst auf den rechten Weg zurückfinden.

»Sheriffsein ist ungefähr so, als wäre man Rausschmeißer beim Wohltätigkeitsball: Wenn alles normal läuft, hat man nicht viel zu tun.« S.25

Sheriffsein bedeutet, dass seine Waffe in der Sockenschublade liegt, er keine Uniform besitzt und lieber seinen alten Pick-Up fährt, um dem County ein paar Dollar für den Dienstwagen zu sparen. Was ihn auszeichnet, sind Geduld, Fingerspitzengefühl und Toleranz.

Sein Deputy ist da anderer Ansicht und will lieber schnell eingreifen und Duke, einen Kleinkriminellen, verhaften. Doch das ist nicht Wings einziges Problem. Nach einem »kleinen Sparringsmatch«, wie er es nennt, zeigt ihm seine Frau Clemmie mal wieder ihren »Morgenrücken«, was für ihn eine Nacht auf der Couch bedeutet. Wing schläft viel auf der Couch und dort hat er Zeit, über alles nachzudenken.

Und so lässt Freeman seinen Sheriff erzählen. Über sich, die Menschen und über den Ort, in dem manchmal etwas Staub aufgewirbelt wird, der sich dann aber wieder legt. Take it easy. Denn nicht mal ein nackter, an einen Baum gefesselter Russe bringt Wing aus der Ruhe. Sein lakonischer, selbstironischer, trockener Humor und seine Sicht auf die Welt ließen mich oft schmunzeln, ich konnte gar nicht anders, als ihn in mein Herz zu schließen.

Freeman kurzer Roman (186 Seiten) lebt von seien spröde Charakteren, seinen trockenen Dialogen und den vielen, präzise formulierten Details, die zeigen, welch scharfe Beobachtungsgabe der Autor hat. Zum Beispiel erfahren wir Wings Meinung über seinen Schwiegervater, einem Kleinstadtanwalt, dem er nicht gutgenug ist.

»Addison ist das, was an eine Stütze der Gesellschaft nennt – allerdings eine Stütze, deren Außenseite ein bisschen schöner zurechtgemacht ist als die Innenseite.« S.43

Oder ein anderes treffendes Bild, das mich schmunzel ließ, ist seine Unfruchtbarkeit:

»Das Problem war ich. Wie sich herausstellte, hatten meine Spermien viel mit den ausgemergelten Vermonter Farmern meiner Kindheit gemein: Sie waren wenige, kamen kaum über die Runden und hatten nie schwimmen gelernt.« S.103

Wie schön bitte können Bilder sein?!

Ich denke, mehr muss ich nicht sagen. Es war ein Genuss, das Buch zu lesen, das gern 400 Seiten hätte haben dürfen, kurzweilig, sprachlich top und mit Sicherheit unvergesslich.

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Veröffentlicht am 19.06.2023

Großartiges Familienepos

Terra di Sicilia. Die Rückkehr des Patriarchen
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»Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wunderheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet.« S.9

Inspiriert von ...

»Mein Urgroßvater Barnaba Carbonaro, Sohn eines Priesters und einer Wunderheilerin, hat vierundzwanzig Kinder gezeugt, einen Menschen getötet und ein Mandarinenimperium gegründet.« S.9

Inspiriert von der Geschichte seiner eigenen Familie schreibt Giordano ein großartiges Familienepos. Barnaba wird 1880 in Taormina geboren und muss sich schon als Kind, als sogenannter Carusi, auf den Orangenfeldern verdingen. Mit 10 Jahren steht er als Aktmodel vor der Kamera des Barons von Goedel und ab da weiß er, er will reich werden. Lesen und Schreiben wird er nie lernen, aber rechnen kann er wie kein anderer, denn Zahlen sind für ihn wie Magie. Und Mandarinen werden seine Passion. Mit viel Einfallsreichtum und Mut wird er vom Dandy zum geachteten Zitrushändler auf dem Münchner Großmarkt. Doch sein Leben ist wie eine lange Odyssee, nicht immer ist das ersehnte Glück an seiner Seite, mal gewinnt, mal verliert er. 1960 blickt der Patriarch im verschneiten München auf ein abenteuerliches Leben zurück, in dem ihm so mancher Streich gelungen ist, er seine erste große Liebe nie vergessen hat und auf dem Rücksitz seines Mercedes noch immer die Toten sitzen, die ihn nicht loslassen.

Was für eine imposante Geschichte, die doch so viel mehr ist als nur ein Familienepos. Es ist ein Stück sizilianische Geschichte, voller Sinnlichkeit und Temperament, voller süßer und auch trauriger Momente. Doch es wird auch magisch, denn der Aberglaube hat auf Sizilien eine lange Tradition, selbst wenn man weiß, dass die Hausgeister (Padruneddi) nicht wirklich existieren, besser, man arrangiert sich mit ihnen, gibt ihnen, was sie wollen, damit man sie loswird.
Die Zitrusfrüchte sind eine Metapher für das Leben auf Sizilien, so süß und saftig sie auch sind, bevor man sie genießen kann, steht ein hartes Stück Arbeit. Und die wenigen, die das Geld besitzen, die Macht haben – auch mit ihnen muss Barnaba sich arrangieren, wenn er den Göttern das Glück abtrotzen will.

Es ist aber auch eine Geschichte von Armut, Korruption, Hunger und Krieg. Sizilien ist noch wirtschaftlich rückständig, als der Rest Europas schon elektrifiziert ist. Das Patriarchat ist tief verwurzelt, die Bevölkerung hungert, ein täglicher Überlebenskampf, den viele verlieren. Um als Tagelöhner diesen Strukturen zu entkommen, bedarf es einer Menge Mut und Unverdrossenheit. Und das hat Barnaba.
Es wird zu keiner Zeit langweilig, Barnaba durch sein Leben zu begleiten, der unbeirrbar seinem Traum folgt. Obwohl mich natürlich die Kapitel in Sizilien mehr einnehmen konnten, fand ich es auch interessant, was er als Gastarbeiter in Deutschland erlebt hat. Giordano sind hier sehr authentische Charaktere gelungen, die ihrer Rolle gerecht wurden. Sprachlich ist es für mich ein Genuss, jede Zeile ist ein Stück Sizilien, humorvoll, bildgewaltig, voller Lebenslust.

Die Geschichte hat den Geruch von Mandarinenblüten, schmeckt wie ein Cannolo und wärmt die Seele wie die sizilianische Sonne – eine Eruption der Sinne. Ich freue mich jetzt schon auf den Fortgang der Geschichte, den Giordano bereits schreibt.
Am Ende steht die Frage, die sich alle Sizilianer stellen: Wer sind wir? Sind sie mehr als nur die Nachfahren von Zyklopen und griechischen Piraten? Ob Giordano eine Antwort weiß, müsst ihr selbst lesen.

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