Können Pralinen alles wieder gutmachen?
Der berühmte TiefpunktMariekes Sommerklamotten stecken in der Maschine im Waschsalon fest und sie lebt mehr oder weniger in einem Mietwagen, nachdem ihr Freund Blok sie aus dem seelenlosen Reihenhaus geschmissen hat. Jetzt ...
Mariekes Sommerklamotten stecken in der Maschine im Waschsalon fest und sie lebt mehr oder weniger in einem Mietwagen, nachdem ihr Freund Blok sie aus dem seelenlosen Reihenhaus geschmissen hat. Jetzt läuft sie mit Jeans und Pullover durch die unerträgliche Sommerhitze, muffelt schon vernehmbar und Blok hat auch noch ihr gemeinsames Konto gesperrt. Ist das schon der berühmte Tiefpunkt? Nein, damit nicht genug. Im Altersheim muss sie allein Frühschicht schieben, das Haus ist bis auf ihre Station leer, denn alle anderen Bewohner sind bereits in den klimatisierten Neubau umgezogen. Nur gut, dass die meisten am nächsten Tag vergessen haben, dass es mal wieder Wurst mit Apfelmus gibt, so wie schon am Tag zuvor, und dem davor, und dem davor …
Na und wenn schon das ganze Leben über ihr zusammenstürzt, dann doch gleich richtig. In Mariekes Kindheit gab es einen Vater, an den sie sich nur bedingt erinnert, der ihr aber ausgerechnet jetzt über den Weg laufen muss.
Der niederländische Originaltitel »Varkensribben«, also Schweinerippen, zeigt, dass es hier ganz viel um Essen geht. Und das macht Marieke, alles in sich hineinfressen – im doppeldeutigen Sinn. Wie lange aber kann das gutgehen? Ich tat mich anfangs schwer, mit ihr warm zu werden. Das lag daran, dass ich nicht verstehen konnte, warum sie sich das alles von ihrem Freund, dem verwöhnten Muttersöhnchen und dessen übergriffiger Mutter gefallen ließ. Doch die persönliche Tragödie der nicht immer zuverlässigen Ich-Erzählerin entwickelt sich langsam zu einer Anklage gesellschaftlicher Missstände. Allen voran den Lebens- und Arbeitsbedingungen im Altenheim.
»Gleich geht meine Schicht los. Ich bin allein. Wenn ich meinen Pflegewagen von einem Zimmer ins nächste rolle, weiß ich genau, wie viel Zeit ich pro Person mit Waschen und Anziehen zubringen darf. Und ich weiß genau, vor welchem Zimmer ich erst noch mal tief durchatmen und mir sagen muss: ›Ich werde nicht die Geduld verlieren, weil ich keine Zeit habe für Gemächlichkeit oder Verwirrung oder beides.« S.25
Je mehr ich von Mariekes Leben erfuhr, umso mehr wuchs sie mir ans Herz, ich spürte ihre Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und Hilflosigkeit. Und das eint sie mit den Bewohnern des Heims. Ja manchmal wünscht sie sich, dass auch sie sich nicht mehr an ihre Vergangenheit erinnern könnte.
Es ist eine Geschichte über Einsamkeit, Fürsorge und Hilfsbereitschaft und zeigt, dass Essen eben doch nicht die wahren Gefühle ersetzen kann.
De Gryse ist hier ein wirklich beachtliches Debüt gelungen, das ständig zwischen Komik und Tragik schwankt. Ihr Schreibstil ist frisch und schnörkellos mit einem guten, trockenen Humor. Ihre Figurenpalette reicht vom Oberekel Blok bis zum liebenswerten »Opa« Jozef. Und am Ende mochte ich sie alle gar nicht loslassen. Sie hält die Spannung auf einem guten Level, weil man natürlich wissen will, warum sie nun bei ihrem Freund rausgeflogen ist. Dazu kredenzt De Gryse uns noch so manche Wendung, die alles ordentlich »durchrührt« – um jetzt mal beim Essen und Kochen zu bleiben. Ach ja, bitte nicht mit leerem Magen lesen, es könnte Spuren von Appetit enthalten.
Beeindruckend, mit welcher Leichtigkeit und doch Direktheit sie die Finger in die Wunde unserer Zeit legt, ohne anzuklagen oder zu bewerten. Und nach meinen kurzen Anfangsschwierigkeiten entwickelte sich eine Geschichte, die mir richtig ans Herz ging. Und die zeigte, dass ein Tiefpunkt noch lange kein Grund ist aufzugeben, wenn man die richtigen Menschen in sein Leben lässt und sein Leben selbst in die Hand nimmt.