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Veröffentlicht am 11.07.2023

Schlaflos in Marseille

Drei Uhr morgens
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Wenn mir in einer Buchhandlung ein Italiener in die Hand fällt, kann ich nicht widerstehen – so auch diesmal. Ich kannte den Autor nicht, der etliche Krimis geschrieben und sich einen Namen als Antimafia-Staatsanwalt ...

Wenn mir in einer Buchhandlung ein Italiener in die Hand fällt, kann ich nicht widerstehen – so auch diesmal. Ich kannte den Autor nicht, der etliche Krimis geschrieben und sich einen Namen als Antimafia-Staatsanwalt gemacht hat. Aber der Klappentext hat mich sofort überzeugt und jetzt nach der Lektüre kann ich nur sagen – was für eine berührende Geschichte, wow.

Carofiglio erzählt auf 184 Seiten eine bewegende Vater-Sohn-Geschichte, ein Abenteuer, das uns in verruchte Jazzclubs führt, durch die zwielichtigen Hafengassen Marseilles und an Strände, schöner als Korsika oder Sardinien.
Antonio, der Ich-Erzähler, erhält als Kind die niederschmetternde Diagnose Idiopathische Epilepsie. Mit einem Schlag soll er auf alles verzichten, was seine Kindheit ausgemacht hat – kein Fußball, keine Limonade, keine Menschenansammlungen. Antonio muss zahlreiche Medikamente nehmen und verfällt in eine anhaltende Depression. Doch seine Eltern, seit Jahren geschieden, finden sich nicht mit der Diagnose ab. Professor Gastaut, ein Spezialist aus Marseille, macht Hoffnung. Nachdem dieser einige Berühmtheiten aufgezählt hat, u.a. Aristoteles und Michelangelo, die ebenfalls unter der Krankheit litten, nimmt sich Antonio in seiner Außenseiterrolle anders wahr. Denn bisher wagte er noch nicht einmal, das Wort Epilepsie auszusprechen. Drei Jahre später (Antonio ist fast 18) muss er sich einer Nachuntersuchung unterziehen, zu der ihn sein Vater begleitet.

Professor Gastaut, die einzige reale Person in dem fiktiven Roman, möchte mithilfe eines heute verbotenen Stresstests herausfinden, ob Antonios Epilepsie geheilt ist und dazu muss er 48 Stunden wach bleiben. Das hört sich für ihn zunächst unüberwindbar an, denn Vater und Sohn sind sich fremd. Nun, mit 50, blickt Antonio auf die zwei durchwachten Nächte zurück, in denen sie gemeinsam durch das Marseille der 80er Jahre streifen, und die für beide ein einschneidendes Erlebnis werden sollen.

Ohne sentimental oder kitschig zu werden gelingt Carofiglio ein atmosphärisch dichter Roman, der gern hätte doppelt so dick sein dürfen. Er lässt viel Raum zum Nachdenken und Nachspüren.

Durch seine Krankheit hat sich Antonio zu einem schüchternen, introvertierten jungen Mann entwickelt. Während sie die erste Nacht durch beängstigende, fremde Viertel streifen, traut er sich, seinem Vater Fragen zu stellen, und muss feststellen, dass der Mathematiker gar nicht so steif ist, wie er es sich immer vorgestellt hat. Sie entdecken Gemeinsamkeiten, wie ihre Liebe zur Literatur und ihr Verständnis für komplexe Zahlen.

„Es gibt Momente, in denen man reden muss und nichts für selbstverständlich nehmen darf. Und es gibt Momente, in denen man schweigen muss, weil etwas Hauchzartes und Kostbares in der Luft liegt, das sich beim kleinsten Wort verflüchtigen könnte. Beides ist einfach. Die Schwierigkeit liegt darin, zu entscheiden, wann man das eine tut und wann das andere.“ S.178f

Fast schon behutsam erzählt der Autor von der zarten Annäherung, findet wundervolle Worte für verborgene, teils auch nicht ausgesprochene männliche Gefühle. Ein Coming-of-Age-Kammerspiel vor der vielfältigen Kulisse der französischen Hafenstadt, deren Bilder und Eindrücke sich fast synchron zur Entwicklung der Geschichte verändern. Marseilles ist nicht von ungefähr gewählt, denn Carofiglio hat einige Monate dort während eines Schriftsteller-Stipendiums verbracht.
Mit jeder Begebenheit nähern sich Vater und Sohn an, als Leser spürt man förmlich, wie ihre Verbundenheit wächst und sie ihre gemeinsame Zeit intensiv nutzen.

„Man muss das Glück verprassen, das ist die einzige Art, es nicht zu vergeuden. Vergehen tut es sowieso.“ S.172
Wissen wir, wie viele Chancen uns das Schicksal noch gibt?

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Veröffentlicht am 09.07.2023

Wenn der amerikanische Traum ein Traum bleibt

Diese gottverdammten Träume
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Wenn du bereit bist, deine Zelte in einer öden Provinz von Maine aufzuschlagen, deine Abende im Empire Grill verbringen willst, um gewöhnliche Menschen zu beobachten, dann solltest du das Buch lesen. Denn ...

Wenn du bereit bist, deine Zelte in einer öden Provinz von Maine aufzuschlagen, deine Abende im Empire Grill verbringen willst, um gewöhnliche Menschen zu beobachten, dann solltest du das Buch lesen. Denn es wird nicht viel passieren auf den 750 Seiten, keine Action, kein Abenteuer, kein Held wird über sich hinauswachsen. Aber am Ende gehts dir vielleicht wie mir und du würdest gern wiederkommen in die Stadt, in der die Träume wie Treibgut am Flussufer hängen bleiben.

Empire Falls hat seine Blütezeit hinter sich, die Papierfabrik ist geschlossen. C.B. Whiting, der letzte Nachfahre des Familienimperiums, hat es vorgezogen, seine Frau Francine mit Tochter Cindy zurückzulassen und in Mexiko Gedichte zu schreiben. Jahre später, nach seinem Tod, gehört Mrs Whiting noch immer der halbe Ort, auch das Diner samt Miles Roby, dem Manager.
Hoffnungen köcheln in Empire Falls auf Sparflamme, ab und zu werden sie im Empire Grill gewendet unter der steten Beobachtung der Bewohner. Da ist der verschlagene Walt, der Miles mit Ansage die Frau ausgespannt hat und ihn regelmäßig zum Armdrücken herausfordert. Miles zukünftige Ex-Frau Janine, für die ein Orgasmus Grund genug zur erneuten Heirat ist. Max, Miles’ Vater, der sich durchs Leben gaunert und nicht davor zurückschreckt, für seine Sauftouren die Trinkgeldkasse des Diners zu plündern. Und Miles schaut bei allem recht tatenlos zu, denn er muss erkennen, dass er nicht das Leben führt, dass er sich einst erhofft hatte. Er scheint irgendwo zwischen seinen Träumen und dem Verantwortungsbewusstsein festzuhängen. Seine ganze Hoffnung liegt in seiner 14-jährigen klugen, sensiblen und künstlerisch begabten Tochter Tick.

Neben den vielen tiefgründigen Charakteren, die wir durch die multiperspektivische Erzählweise erst allmählich verstehen, arbeitet Russo mit großartigen Bilder, die nicht immer gleich erkennbar sind, mit dem Fortgang der Geschichte aber mit aller Macht deutlich werden. In seinem langen Prolog sieht C.B. Whiting in dem Fluss Knox, der durch den Ort fließt und an dessen Ufer sämtlicher Müll einschließlich eines Elchkadavers angespült wird, einen Planungsfehler Gottes. Wider aller Warnungen lässt er den Fluss begradigen – weil er es kann, weil er Geld hat.
Das sagt nicht nur viel über den Ort aus, sondern wird 700 Seiten später seine Folgen präsentieren. Auch Miles ist einer der Gestrandeten, denn er hatte den Ort längst für sein Studium verlassen, als Mrs Whiting ihn „zurückbeordert“ kurz vor dem Tod seiner Mutter, um kurzfristig das Diner zu übernehmen.
Oder nehmen wir Tick, Miles’ Tochter, meine Lieblingsfigur. Wenn Russo sie mit hängenden Schultern, auf denen ihr viel zu schwerer Rucksack hängt, durch die Straße schleichen lässt, spürt man als LeserIn, dass die Erwartungen, die in sie gesetzt werden, für sie zur Last werden. Immer wieder sind es die Träume der Erwachsenen, die sie auf ihre Kinder projizieren, weil sie sie selbst nicht verwirklicht haben.

Russo hegt viel Empathie für die Menschen, die in ihrer sozialen Schicht festhängen und für die der amerikanische Traum immer ein Traum bleiben wird. Die wie Miles ein zu hohes Pflichtgefühl gegenüber ihrer Familie, ihren Freunden haben und zu viel Anstand besitzen, um sie im Stich zu lassen.
Alles treibt ruhig und gelassen dahin, bis Russo das Ende in einer Katastrophe münden lässt, die sich auf ein tatsächliches Ereignis aus dem Jahr 1999 stützt, das damals nicht nur die USA erschüttert hat. Wird das zum Weckruf für die Bewohner von Empire Falls, die samt ihrer »gottverdammten Träume« wie Treibgut am Ufer des Knox festhängen?
Alles läuft auf die Frage hinaus, wird es je einer schaffen, seinen Traum zu leben?

Fazit. Das Buch hat ein paar Längen, die es mir nicht immer leicht gemacht haben. Auch die Redudanzen hätte man im Lektorat ausmerzen können. Doch am Ende hat sich alles zu meiner Zufriedenheit gefügt. Erst als ich fertig war, wurde mir die Gewaltigkeit der Geschichte und allen liebevollen Details so richtig bewusst.

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Veröffentlicht am 07.07.2023

Ai revoir Bruno

Tête-à-Tête
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Im 14. Fall ist Bruno, Chef de police, in einem Museum fasziniert von der Nachbildung eines Neandertalerschädels, dem die bekannte Bildhauerin Élisabeth Daynès ein Gesicht gegeben hat. Das bringt ihn auf ...

Im 14. Fall ist Bruno, Chef de police, in einem Museum fasziniert von der Nachbildung eines Neandertalerschädels, dem die bekannte Bildhauerin Élisabeth Daynès ein Gesicht gegeben hat. Das bringt ihn auf die Idee, einen alten ungelösten Mordfall seines Freundes Jean-Jaques vielleicht doch noch aufzuklären. Mittels einer DNA-Analyse, die zum Zeitpunkt des Mordes noch nicht möglich war, finden sie schnell heraus, dass der Tote einen Sohn hatte, dessen Halbschwester ist inzwischen selbst Polizistin. Doch das bringt sie der Identität von »Oskar«, wie Jean-Jaques seinen Toten nennt, noch kein Stück näher.
Erst von der Freundin der Mutter erfahren sie von den Affären, die die beiden als junge Frauen auf einem Campingplatz bei Saint-Denis hatten. Doch eines Morgens waren beide Männer spurlos verschwunden. Einen von ihnen fand man ein Jahr später erschlagen und verwest in einem nahegelegenen Waldstück.
Die Ermittlungen führen ihn zurück in die Zeit des Kalten Krieges. Die von Frankreich begehrte »Rosenholz-Akte« taucht plötzlich wieder auf, eine Liste mit Tausenden von StasiagentInnen, die bereits in der Vergangenheit zu Spannungen zwischen den Geheimdiensten Frankreichs und der USA führten.
Doch damit nicht genug. Bruno wird Zeuge eines sexuellen Übergriffs durch einen Polizeibeamten. Leider ließ mich die Schilderung der Szene samt Fortgang etwas verwirrt zurück. Zudem macht sich im schönen Perigord der Klimawandel bemerkbar und Bruno muss die Feuerwehr unterstützen. Mittels einer unkonventionellen Idee, für die Bruno ja inzwischen bekannt ist, versucht er die Burg Castelnaud-la-Chapelle vor den Flammen zu schützen und wird unfreiwillig zum Helden.
Sein Bassett Balzac ist Vater geworden und seine ständige On-Off-Geliebte Isabelle hat auch wieder ihren Auftritt. Und wie gewohnt gehts viel ums Essen, Kochen und Weintrinken.

Wie man sieht, spart Walker auch diesmal nicht mit interessanten Themen. In einem Nachwort erklärt er uns, wie er auf die Idee dazu kam und was Fiktion bzw. Realität ist. War ich zunächst skeptisch, was die Stasiakten betraf, so muss ich sagen, dass mir diese Fakten doch gänzlich neu waren und Walker alles glaubhaft zusammengeführt hat. Um die forensische Gesichtsrekonstruktion geht es leider nur am Rande, aber das war in Ordnung.
Nun zu meinem Fazit. Das Buch ist wie immer lesenswert, denn Walker ist bekannt für seine tiefe und gründliche Recherche. Es bleibt wie gewohnt unblutig, Brunos freundschaftlichen Verbandelungen samt Kochsessions – diesmal sogar vegan – nehmen ihren gewohnten Raum ein. Pferde werden geritten, gestriegelt und gefüttert, Balzac gestreichelt und geknuddelt. Also alles beim Alten im malerischen Perigord.
Persönlich bin ich jetzt allerdings an einer Stelle, wo ich mich von Bruno verabschieden werde. Privat dreht er sich seit einigen Bänden nur noch im Kreis und auch die zehnte Zubereitung von Foie Gras macht mir nicht mehr den Mund wässig. Ich mag ihm einfach nicht mehr beim Zwiebeln schälen über die Schulter schauen.
Bitte nicht falsch verstehen, das ist meine ganz persönliche Empfindung. Was ich allerdings wirklich zu beanstanden habe, ist die fehlende Leichtigkeit in seinem Erzählstil. Sie ist da, sobald es um Brunos Privatleben geht. Sobald Walker aber seine Hintergrundrecherchen schildert, gerät er ins dozieren und wird langatmig. Das ist etwas, das ich bereits seit einigen Bänden zu bemängeln habe. Ich finde es sehr schade und lasse Bruno nur ungern ziehen. Aber ich behalte ihn ihm Auge, vielleicht wird’s ja noch was mit Isabelle, Pamela oder irgendeiner anderen Dame.

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Veröffentlicht am 05.07.2023

Humoriger Schreibstil mit einer Prise Gesellschaftskritik

Kaiser der Obdachlosen
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Fangen wir beim Augenscheinlichen an. Dem Milena Verlag ist hier ein originelles Cover gelungen, das mich neugierig gemacht hat. Aber auch das nackte Buch muss sich nicht verstecken, denn es kann mit Ankern ...

Fangen wir beim Augenscheinlichen an. Dem Milena Verlag ist hier ein originelles Cover gelungen, das mich neugierig gemacht hat. Aber auch das nackte Buch muss sich nicht verstecken, denn es kann mit Ankern bedruckten Vorsatzpapieren und einem standesgemäß güldenen Lesebändchen aufwarten. Standesgemäß? Ja, denn es geht um nichts Geringeres als die Wahl eines Monarchen auf österreichischem Mittelstadtboden. Die Kaiser-Tradition in dem Alpenländchen ist ja eher unbedeutend, daher hat der Autor sich wohl gedacht, sie nur von einer bestimmten Gesellschaftsschicht weiterführen zu lassen. Und zwar nicht irgendeiner, der ohnehin Macht und Einfluss zuzuschreiben ist, sondern den Obdachlosen.

Nachdem wir die mehr oder weniger stereotypischen Grüppchen kennengelernt und einigen Bewerbern gelauscht haben, kann sich ausgerechnet ein ehemaliger Käpt’n zu See bei der Wahl durchsetzen. Ich sag nur: Augen auf bei der Berufswahl, in einem Binnenstaat kann man dabei schnell auf der Straße landen. Gerhard, besagter »Schiffsbruchsepp«, verspricht dem bunten Haufen ein Dach über dem Kopf – genauer gesagt Kirchenasyl.

»… wir werden diese Steinpaläste mit Leben füllen, wir werden uns ein Dach über dem Kopf holen! Wir werden uns ein Haus machen, ein Haus für uns! In dem es keine Polizei gibt! Wo es keine Alktests gibt. Wo einem nichts geklaut wird. Wo man sich für ein paar Minuten niederlegen kann. … Wir werden uns nehmen, was wir verdienen! … Was uns gehören MUSS!« S. 22

Damit gewinnt man also in Österreich die Wahl zum Kaiser der Sandler. Das bleibt natürlich von der Polizei nicht unbeobachtet. Allen voran Leopold, der reichlich desillusioniert seinen Dienst versieht, aber letztlich in die ganze Sache reingezogen wird.

Die skurrile Story gipfelt in der Olympiade der Obdachlosen, die nicht nur den eigentlichen Höhepunkt darstellt, sondern augenöffnende Begleiterscheinungen hat. Und danach? Mhm, sind ihm die Ideen zu den Figuren ausgegangen? Das Ende war mir etwas zu schnell runtererzählt.
Alles in allem kein schlechtes Buch, denn es wird trotz des humorigen Stils mit einer scharfen Prise Gesellschaftskritik gewürzt, die dazu angeregt, uns mal wieder an die eigene Nase zu fassen, unseren Blick zu korrigieren auf die, die am Straßenrand die Hand aufhalten.
Allerdings scheint der Erzähler hier über der Geschichte zu thronen und die ganze Szenerie mit einem selbstherrlichen Blick zu betrachten. Muss man mögen, war nicht immer mein Gusto. Hätte er sich an mancher Stelle nicht zu sehr aufgeblasen (der Erzähler, nicht der Autor, denn als Leser weiß man ja, dass das nicht dasselbe ist), wäre die Geschichte wohl auch auf weniger als 115 Seiten erzählt gewesen. Jener Erzähler wendet sich also immer wieder an seine Leserschaft, um den Fortgang der Geschichte plausibel zu erklären, wortschwallartig Thesen zu untermauern und sicherzustellen, dass wir auch verstehen, was er von uns will. Klingt dann so:

»Und jetzt bitte nicht damit kommen, dass ich den Lesern nicht zutraue, aus den verfügbaren Informationen die richtigen Schlüsse zu ziehen. Ich respektiere auch die Schlüsse, die nicht mit meiner Intension übereinstimmen.« S. 42

Danke, Herr Wakolbinger.
Und wer bis zum Ende meiner Rezension gelesen hat, danke an der Stelle, kann einen Blick auf den Instagram-Account des Autors werfen. Denn er macht es sich zur Angewohnheit, Rezensent*innen »nicht mit allem durchkommen zu lassen«, was sie so verzapfen. Sei es nun die Ausdrucksweise, die Kritik oder Form und Länge.
Dabei möchte ich zu bedenken geben, dass ich nur meinen persönlichen Geschmack wiedergebe, obs ihm nun gefällt oder nicht. Immerhin muss ich mir mit meinem Geschreibsel kein Geld verdienen.
In dem Sinne »Pfiat di.«

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Veröffentlicht am 25.06.2023

Wer bezahlt für die Träume von einem besseren Leben?

Wenn ich wiederkomme
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Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie ...

Der vierte und damit letzte Roman, den ich von Balzano gelesen habe, dreht sich wieder um sein Kernthema „Fortgehen und Dableiben“. Er erzählt die Geschichte von Daniela, eine Rumänin, die ihre Familie verlässt, um in Italien als schlechtbezahlte Pflegerin zu arbeiten.
Im ersten Teil „Wo bist du“ erleben wir aus der Perspektive des zwölfjährige Manuels, wie es sich für ihn anfühlt, als seine Mutter eines Morgens verschwunden war. Der arbeitsscheue Vater hat schon lange keinen Job mehr und das bisschen Geld, das Daniela verdient, reicht nicht, um ihren Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen.
Doch Manuel träumt von einem einfachen Leben, für ihn zählt die Nähe der Familie, das Zusammensein.

„Zu Hause hieß es die ganze Zeit nur: „Das hat sie für uns getan“, „Wir sollten ihr dankbar sein“, „Was sie alles auf sich nimmt für die Familie“ … Mich überzeugte das kein bisschen. Und wenn mein Vater Sachen sagte wie: „Sie wischt den Alten den Arsch ab, damit du studieren kannst“, hätte ich ihm am liebsten geantwortet: und damit du dich auf dem Sofa mit Bier vollaufen lassen kannst.“ S.30

Im zweiten Teil „Weit weg“ kommt Daniela selbst zu Wort und schildert uns nicht nur ihre Beweggründe, sondern auch die harte Arbeit als 24/7-Pflegekraft in verschiedenen Familien, die mit der Pflege ihrer Angehörigen selbst überfordert sind. Wozu freie Tage nehmen, wo sie doch jeden Euro braucht, um ihn in die Heimat zu schicken. Also arbeitet sie bis zur Erschöpfung, die in ihrer Heimat einen eigenen Namen hat – Italienkrankheit. Doch mit dem, was sie zu Hause erwartet, hat sie nicht gerechnet.

Angelica, die älteste Tochter, hat sich in all den Jahren der Familie entfremdet und wir erfahren im dritten Teil „Bumerang“, wie sie sich ihre Zukunft vorstellt.

Das Tolle an dem Buch war tatsächlich, dass Balzano sich hier für die drei unterschiedlichen Perspektiven entschieden hat. Das machte für mich das ganze Leid, das diese Entscheidung mit sich brachte, greifbar und nachfühlbar. Zu sehen, welche Auswirkungen das auf jeden Einzelnen hat, dass die eigenen Träume nicht immer die der Kinder sind, war sehr ergreifend. Das große Problem der Arbeitsmigration bekommt hier ein sehr persönliches Gesicht, mit all dem Leid, das daraus erwächst. Erschreckend war für mich auch, dass es speziell in Rumänien für die bis zur Erschöpfung arbeitenden Frauen einen eigenen Begriff gibt „Italienkrankheit“ oder „Italiensyndrom“. Dabei ereilt die Kinder hier noch das bessere Schicksal, denn sie haben ihre Großeltern, die sich liebevoll um sie kümmern. Andere Kinder landen einfach im Heim und werden somit zu „Eurowaisen“. Ein wirklich brisantes Thema, das er tief ausgearbeitet hat, was allerdings etwas zu Lasten der Charaktere ging, die mich diesmal nicht so tief berühren konnten wie in seinen anderen Romanen.
In seinem mehrseitigen Nachwort erläutert Balzano, wie er zu dieser Idee gekommen ist und dass er in Rumänien Einrichtungen besucht hat, die sich um die zurückgebliebenen „Home-Alone-Children“ kümmern.

Nichtsdestotrotz möchte ich das Buch schon allein der Thematik wegen wärmstens empfehlen. Denn die hallt auch jetzt nach Tagen noch immer in mir nach. Ich spüre die tragische Sehnsucht, die schon im Titel angelegt ist. Mit so vielen Träumen könnte man den Satz: „Wenn ich wiederkomme“ beenden und doch bleiben sie alle auf der Strecke.

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