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Veröffentlicht am 08.10.2024

Tee mit Betty

Tee auf Windsor Castle
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Die Queen ist tot, ihre Untertanen müssen sich noch an Langzeit-Thronfolger Charles III. als ihren neuen Monarchen gewöhnen und Schottin Kate wird von ihrer Freundin zu einem Besuch von Windsor Castle ...

Die Queen ist tot, ihre Untertanen müssen sich noch an Langzeit-Thronfolger Charles III. als ihren neuen Monarchen gewöhnen und Schottin Kate wird von ihrer Freundin zu einem Besuch von Windsor Castle nach Südengland verschleppt. Der royale Prunk liegt der jungen Frau so gar nicht, von der Aristokratie hält sie wenig und überhaupt hat sie ganz andere Probleme: Wo ist in all diesen Raumfluchten eigentlich eine Besuchertoilette?

Immerhin hat Kate beim bisherigen Verlauf der Schlussführung gut aufgepasst und sich den Standort einer Tapetentür gemerkt. In den für Besucher - und Royals - unsichtbaren Gängen der Dienstboten wird es ja wohl irgendwo eine Toilette geben! Das dringend benötigte Örtchen findet Kate zwar nicht, wohl aber eine Teeküche mit einer freundlichen alten Dame namens Betty, die sie prompt zum Tee einlädt. So das Eingangsszenario von Claire Parkers "Tee auf Windsor Castle", einer Wohlfühl-Novelle für alle Queen-Fans, mit gerade mal 160 Seiten auch recht überschaubar.

Zwischen Kate und Betty liegen nicht nur Generationen, sondern auch Welten. Schon Bettys Vater hat auf Windsor Castle gearbeitet, und offenbar hat sie ein recht behütetes Leben geführt, so war sie etwa noch nie in einem Pub - auch wenn sie sich als ausgesprochen trinkfest erweist. Kate dagegen steckt ewig in Finanznöten und ist auch schon mal mit dem Gesetz zusammengerasselt. Die Liebenswürdigkeit und Lebensweisheit ihrer ungleichen Freundin zieht sie dennoch in den Bann und in langen Gesprächen kommen sich die Frauen näher.

Was Bettys Geheimnis ist, dem Kate erst spät auf die Spur kommt - Leser*innen ahnen es schon früh, es bietet sich ja geradezu an. Insofern ist "Tee auf Windsor Castle" ein bißchen wie Fan-Lit für Bewunderer der Queen. Die Monarchie-Kritik, mit der Kate zunächst nach Windsor gefahren ist, wird im Laufe des Buches jedenfalls sehr viel leiser. Ein bißchen märchenhaft und sehr sehr cozy.

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Veröffentlicht am 06.10.2024

Letzte Stimmen

Israel, 7. Oktober
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Lee Yaron ist Journalistin der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz", einer Zeitung, die schon seit jeher immer wieder auch über die israelischen Palästinenser und die Geschehnisse in Gaza und im Westjordanland ...

Lee Yaron ist Journalistin der liberalen israelischen Zeitung "Haaretz", einer Zeitung, die schon seit jeher immer wieder auch über die israelischen Palästinenser und die Geschehnisse in Gaza und im Westjordanland berichtete, die kritisch zum Siedlungsbau und der Regierung Netanjahu steht. In ihrem Buch „Israel, 7. Oktober“ erzählt sie von den letzten Stunden der Menschen, die bei den Anschlägen ums Leben kamen, von denen, die zwar überlebt haben, aber schwer traumatisiert sind von dem Erlebten und dem Tod von Freunden und Angehörigen.

Damit ist sie nicht alleine - in den vergangenen Monaten erschienen mehrere Bücher, in denen der Terrorangriff aufgearbeitet wurde, in denen auch Angehörige der Geiseln ihre Perspektive schilderten, etwa wie Ron Leshems "Feuer". Doch Yaron blickt über die "heimischen" Opfer hinaus, widmet sich auch denen, die in den Geschichten über den 7. Oktober seltener erwähnt werden. So berichtet sie nicht nur von Kibbuzbewohnern, sondern auch von betroffenen Beduinen in der Negev-Wüste, die weder über Schutzräume verfügten noch über Warnanlagen.

Yaron beschreibt auch das Leben nepalesischer Landwirtschaftsstudenten und thailändischer Arbeiter, die von einem besseren Leben träumten und in einem Konflikt starben, den sie ebenso wenig verstanden wie die Sprache der Menschen, für die sie Obst oder Salat ernteten. Damit wird auch ein Blick auf die marginalisierten Menschen in der israelischen Gesellschaft geworfen, die am 7. Oktober ebenso von Terror und Gewalt betroffen waren wie die jüdischen Israelis.

Abschriften von Messenger-Nachrichten, von Telefongesprächen aus Schutzräumen, beschossenen Fahrzeugen und Gebüsch lassen auch diejenigen zu Wort kommen, die wussten, dass sie den Tag wohl nicht überleben würden. Gerade diese letzten Worte und Stimmen lassen die Angst der angegriffenen Menschen ganz besonders intensiv wirken.

Zugleich unterscheidet Yaron, die auch auf die Geschichte des israelisch-palästinensischen Konflikts eingeht, zwischen Hamas-Kämpfern und Zivilisten in Gaza, stellt Überlegungen an, ob und wann eine Versöhnung doch noch möglich ist und wirft einen kritischen Blick auf den Preis des andauernden Krieges. In der Tradition von oral history/reporting geschrieben, ist ihr Buch nachdenklich und voll nachklingender Trauer der Hinterbliebenen und Überlebenden.

Veröffentlicht am 21.09.2024

Götter, Sterne, Lügen

Hey guten Morgen, wie geht es dir?
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Sie haben die Namen von Göttern, aber die Realität von Juno und Jupiter ist eher irdisches Elend: Er leidet an fortgeschrittener Multipler Sklerose, die Welt des Schriftstellers ist im wesentlichen auf ...

Sie haben die Namen von Göttern, aber die Realität von Juno und Jupiter ist eher irdisches Elend: Er leidet an fortgeschrittener Multipler Sklerose, die Welt des Schriftstellers ist im wesentlichen auf das Schlafzimmer mit Pflegebett zusammengeschrumpft. Sie ist Performancekünstlerin in der freien Theaterszen, sprich, ein regelmäßiges Einkommen ist eher nicht vorhanden, mal läuft es finanziell besser, mal schlechter. Neben Balletttraining und Aufführungen sowie einer wachsenden Leidenschaft für Tätowierungen werden nächtliche Chats mit Love Scammern zu Junos kleiner Flucht aus dem Alltag, ebenso wie das Nachdenken über Sterne und planetare Katastrophen.

"Guten Morgen, wie geht es Dir?" von Martina Hefter ist für den Deutschen Buchpreis nominiert und hat sich ziemlich viel aufgeladen: Liebesversprechen und Lügen, Reflektionen übers Älterwerden und die etwas kühne Argumentation von afrikanischen Scammern als späte Rächer kolonialer Ausbeutung. Eine ordentliche Portion Ironie sorgt dafür, dass es nicht zu depressiv wird.

Juno ist kein Opfer von Liebesbetrug, ihr ist nur zu bewusst, dass sich hinter den sonnengebräunten Männern mittleren Alters mit Segelyacht oder Swimming-Pool im Hintergrund junge afrikanische Männer verbergen, die das Vertrauen und die Liebe einsamer Europäerinnen gewinnen wollen, um sie dann umso mehr zu schröpfen. Juni dreht den Spieß um, erzählt den Männern allerlei Lügen, bis diese irgendwann einmal feststellen, dass sie gewaltig verschaukelt werden und sie ihrerseits blockieren.

Und dennoch: Als sie den jungen Nigerianer Benu kennenlernt und sein Fake-Profil schon bald enttarnt, ist nicht etwa Schluss, sondern die Gespräche dauern an, ja werden persönlicher. Einerseits merkt Juno, dass sie Benu mehr Wahrheiten über sich erzählen möchte, andererseits wartet sie nur, dass er sich ebenso als Scammer erweist wie alle anderen und mit einer Geschichte über eine kranke Mutter, einen plötzlichen Unfall oder sonstige Geldnot beginnt.

Letztendlich bleibt offen, was Juno eigentlich zu den Scammern zieht. Nur die einsamen Nachtstunden voller Schlaflosigkeit können es eigentlich nicht sein. Das Internet als Fluchtort in einer Realität zunehmend beschränkter Möglichkeiten? So originell ist das nun nicht. Und auch Benu bleibt ( no pun intended) blass, sowohl als Person als auch mit seinen Motiven, die für ihn finanziell uninteressanten Chats fortzusetzen. Immerhin mal ein anderer Ansatz zum Thema love scamming mit der Einsicht: Jeder lügt.

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Veröffentlicht am 19.09.2024

Sinnkrise und Identitätssuche

Juli, August, September
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Einst arbeitete sie an einer New Yorker Galerie, jetzt ist sie vor allem Mutter einer kleinen Tochter in Berlin, während Ehemann Sergej als Konzertpianist ständig unterwegs ist. Da wären wohl viele Frauen ...

Einst arbeitete sie an einer New Yorker Galerie, jetzt ist sie vor allem Mutter einer kleinen Tochter in Berlin, während Ehemann Sergej als Konzertpianist ständig unterwegs ist. Da wären wohl viele Frauen wie Lou ein wenig in der Sinn- und Daseinskrise. Vor allem, da die eigene Mutter ständig eine Ehekrise wittert und die Schwiegermutter - zugleich Sergejs Managerin - von Anfang an vermittelt hat, dass Lou nicht gut genug für ihren Sohn ist.

Und sozusagen on top die Frage nach Selbstdefinierung und Identität - deutsch, postsowjetisch, jüdisch? Die subtilen Vorwürfe der israelischen Verwandtschaft, dass sie ausgerechnet in Deutschland leben. Die Frage, wie man auch nichtreligiös jüdisch sein kann und was eigentlich der fünfjährigen Rosa vermitteln, benannt nach ihrer Urgroßmutter, einer Holocaustüberlebenden. In "Juli, August, September" beschreibt Olga Grjasnowa die Sinnsuche ihrer Ich-Erzählerin, mal mit spitzer Ironie, mal verunsichert und verwirrt.

Ein Familientreffen auf den Kanaren könnte vielleicht Klarheit bringen, wirft aber eher noch mehr Fragen auf: Lous greise Großtante, Schwester eben jener namensgebenden Rosa, wird 90. Vielleicht die letzte Gelegenheit, Fragen nach der Vergangenheit zu stellen, letzte Gelegenheit, den Familienclan zu sehen. Das eher heruntergekommene Hotel trägt wenig zur Entspannung bei, zudem ist Lou irritiert, dass ihre Großmutter aus den Erinnerungen der Großtante gewissermaßen herausredigiert, in ihrer Bedeutung für die harte Flucht aus dem deutsch besetzten Belarus im Zweiten Weltkrieg gemindert wird. Gibt es in der Familie zwei Narrative, eine, die Lou und ihre Mutter kannten, eine andere der Cousins und Cousinen? Wo liegt die Wahrheit, die dann wiederum für die Identität wichtig ist?

Lou fliegt kurzentschlossen nach Tel Aviv, um letzte Fragen zu stellen, statt nach Berlin zurückzukehren. Im Hintergrund schwebt die Frage - hat ihre Ehe eigentlich noch Bestand? Das Buch hat nach seinem bissigen Beginn nicht alle Versprechungen halten können, Lou scheint zusehend in Selbstmitleid zu verfallen und den Boden zu verlieren, häufig frage ich mich, ob sie eigentlich selbst weiß, was sie will - und das dann weniger wegen der angeteaserten Fragen von Identität und Zugehörigkeit, sondern eher als nicht wirklich ausgefülltes Wohlstandsweibchen. Dieser Roman hat ganz klar seine Momente, konnte mich aber nicht durchgehend begeistern.

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Veröffentlicht am 18.09.2024

Dekoloniale Zeitreise

Antichristie
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Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur ...

Mit "Identitty" hat Mithu Sanyal gezeigt, dass sie in Identitäts- und Diversitätsdebatten Humor hat und nach allen Seiten austeilen kann. Um Zugehörigkeit, Cancel Culture, Dekolonisierung der Literatur und die Frage, was für wen sag- und zumutbar ist, geht es auch in "Anti-Christie", ihrem neuesten Buch, darüber aber auch um eine Zeitreise, Doktor Who, die tote Queen, Agatha Christie und die Frage, welches "Wir" gerade angesagt ist und wie inklusiv es ist.

Klingt nach ziemlich viel? Ist es auch, teilweise erschien mir das mit viele popkulturellen und literarischen Zitaten versehene Buch deshalb ein wenig überfrachtet, denn so klug und unterhaltsam es auch ist, entgleiten der Autorin doch mitunter die Erzählfäden und ich möchte rufen, bitte ein bißchen das Tempo drosseln, um nicht den Anschluss zu verpassen und damit sich die einzelnen Elemente setzen können!

Ich-Erzählerin Durga, Tochter einer deutschen Mutter und eines indischen Vaters, Drehbuchautorin um die 50, ist zu einem Autoren-Workshop in London. Es gilt, Agatha Christie zu dekolonisieren in einer neuen Fernsehserie. Hercule Poirot soll schwarz sein, und auch geht es um die Auseinandersetzung mit Christie, die nicht mehr dem Zeitgeist entspricht - war da nicht mal ein Buchtitel mit N-wort? Die Autor*innenrunde ist entsprechend divers aufgestellt, böse könnte man sagen: Hauptsache divers, wobei Durga immerhin eine Doppelfolge von Doktor Who verfasst hat. Kontrovers wird es auch, denn divers bedeutet schließlich ganz unterschiedliche "Wirs" wie Durga bald feststellen muss.

Vor dem Workshop formiert sich der Protest verunsicherter weißer Christie Fans. Wird jetzt auch noch die große alte Dame des britischen Kriminalromans für politisch unkorrekt erklärt, zensiert oder gar verbannt? Und das, wo gerade die Queen gestorben ist und die Briten Trauer tragen?

Das wäre eigentlich schon mal ordentlich Stoff für ein Buch, doch damit ist nicht genug: Durga fällt gewissermaßen durch die Zeit und landet im India House des frühen 20. Jahrhunderts, unter Studenten/Revolutionären, die nicht so ganz dem Gewaltlosigkeitsideal des von Durga verehrten Gandhi entsprechen, dafür aber um so mehr dem revolutionären Eifer, den Durgas vor kurzem verstorbene Mutter teilte. Das Verhältnis der beiden war schwierig. Durga hat es der Mutter nie wirklich verziehen, dass diese sich aus ihrem Leben und in den politischen Widerstand verabschiedete, als Durga gerade einmal 14 war.

Plötzlich findet sich Durga im Körper von Sanjeev, einem Studenten, der ihre Erinnerungen und ihr Ethos hat. Sich plötzlich als Mann wiederzufinden, ist allerdings ziemlich verwirrend, Durga steht vor der Herausforderung wieder in die Gegewart zu Mann und Sohn zurückzufinden und in der Zwischenzeit möglichst nicht die Geschichte zu verändern. Man kennt das ja aus Science Fiction - die Vergangenheit zu verändern, könnte Zeitreisenden die Rückkehr unmöglich machen...

Zugleich ist die Reise in die Vergangenheit eine Reise zu Durgas kulturellen Wurzeln, die, was die indische Seite angeht, ziemlich brachliegen. Sie ist wütend, dass ihr Vater ihr nie Bengali beigebracht hat, plötzlich ist sie in einem hochpolitisierten indischen Mikrokosmos in London, erlebt koloniale Unterdrückung, findet sich in politischen Debatten wieder, über die sie bisher nur gelesen hat.

Auch auf knapp 550 Buchseiten ist das ganz schön viel Stoff. Wäre weniger mehr gewesen? Vielleicht. Aber andererseits ist diese Mischung ausgesprochen reizvoll. Ein paar Logiklöcher hat die Geschichte und lässt ein paar Fragen offen, bietet aber auch viel zum Nachdenken. Lesenswert.

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